18.02.2006, 21:35
Vergangenheit
Er saà auf einer Bank in einem Park. Alleine. Sein Gesicht war blass, die Haare zerzaust. Das Flanellhemd, das er trug, war schmutzig und die Jeans zerrissen. Mit seinen knapp 50 Jahren sah er schon aus, als wenn er mindestens 70 wäre.
Denn ganzen Tag sitzt er auf dieser Bank, starrt vor sich auf den Boden. Still. Stumm. Alleine. Nie redet er mit jemandem, nie sieht er auf. Ich beobachte ihn schon einige Tage. Wenn ich gegen 8 Uhr auf dem Weg zur Arbeit an ihm vorbei gehe, sitzt er schon auf der Bank. Neben sich hat er immer eine Tüte mit einem Becher Kaffee, den er aber nie trinkt. Und wenn ich am Abend gegen 18 Uhr wieder nach Hause gehe, sitzt er immer noch da. Ob er eine Wohnung hat? Ein zu Hause? Eine Familie? Ich weià es nicht. Er sieht aus wie ein Bettler, aber irgendetwas an ihm istâ¦â¦ Ich kann es nicht beschreiben. Aber ich glaube nicht, dass er ein Bettler ist, auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht. Und je öfter ich an ihm vorbeigehe, desto mehr drängt sich mir das Gefühl auf, dass ich diesen Mann kenneâ¦â¦
Als ich am nächsten Morgen wieder durch den Park gehe und an der Bank vorbei komme, sitzt er wieder da. Wieder steht die Tüte mit dem Kaffee neben ihm, wieder ist sein Blick starr auf den Boden gerichtet. Und wieder drängt sich mir das Gefühl auf, dass ich ihn kenneâ¦..
Ich nehme all meinen Mut zusammen und gehe auf ihn zu. Stelle mich direkt vor ihn.
âHallo!â, sage ich freundlich und lächle ihn an.
Langsam hebt er seinen Kopf. Noch nie habe ich seine Augen gesehen. Und noch nie in meinem Leben habe ich Augen gesehen, die mich so traurig angesehen haben. So voller Leid, voller Schmerz. Diese Augenâ¦â¦ sie erinnern mich an jemanden. Aber ich kann nicht sagen, an wen. Er bedeutet mir mit seiner Hand, dass ich mich setzen soll. Ich weià nicht warum, aber ich nehme neben ihm platz. Einige Momente sitzen wir einfach nur da und schauen uns an. Dann ergreift er das Wort.
âErkennst du mich denn nicht?â Seine Stimme war tief, rau, traurig,⦠vertraut⦠Und langsam, ganz langsam fügen meine Gedanken und Gefühle sich zu einem Bild zusammen. Zu jemandem, den ich einmal gekannt habe. Den ich geliebt habe.
âLuke?â, frage ich unsicher. Er nickt nur.
âBist du es wirklich?â Ich kann es nicht glauben. Er sieht so anders aus. Dünn, blass, ausgemergelt. Seine Augen haben ihren Glanz verloren, waren stumpf. Er sieht so aus, als ob er seit Jahren nicht mehr gelacht hätte.
âJa, ich bin es.â Diese Stimme, sie klang so beruhigend, so vertraut. Wie oft hat diese Stimme mich in der Früh sanft geweckt, wie oft hatte sie mich getröstet, wenn ich traurig warâ¦â¦.
âWas machst du hier, Luke?â
âIch will dich wieder nach Hause holen.â Vorsichtig legt er seine Hand auf meine. Bei dieser Berührung breitet sich eine angenehme Wärme in mir aus. Und ich fühle ein Kribbeln, das ich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt habeâ¦â¦..
Nein. Das kann nicht wahr sein. Damit habe ich vor Jahren abgeschlossen. Dachte ich zumindest. Doch jetzt holt mich meine Vergangenheit wieder ein. Ich schüttle den Kopf und ziehe meine Hand weg. Ungläubig schaue ich ihn an.
âLorelai, bitte. Hör mir zu.â, fleht er mich an, und ich glaube, eine Träne in seinen Augenwinkeln glitzern zu sehen.
âLuke, ichâ¦â¦ ich kann nicht. Ich kann das einfach nicht.â, stottere ich. Dann stehe ich auf, meine Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf. Was will er hier? Wieso ist er gekommen, nach all den Jahren? Hat er mir verziehen, liebt er mich vielleicht sogar noch?
So viele Fragen. So viel Fragen, die darauf warten, endlich gestellt zu werden. Endlich beantwortet zu werden. Fragen, die ich ihm vor so langer Zeit stellen wollte, mich aber nie getraut habe. Und so habe ich sie verdrängt, so gut ich konnte. Aber jetzt fallen sie mir alle wieder ein, ob ich nun will oder nicht.
âLorelaiâ¦.â Lukes Stimme war leise, brüchig. Und die Träne, die ich vorher glaubte, in seinem Augenwinkel zu sehen, bahnt sich nun ihren Weg über seine Wange. So oft habe ich mir vorgestellt, das ich die Chance bekomme mit ihm zu reden.
Jetzt habe ich diese Chance. Ihm all die Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brennen. Soll ich es wagen? Will ich die Antworten überhaupt wissen? Oder ist die Angst vor der Wahrheit doch gröÃer.
âLuke.. ichâ¦..â Was soll ich bloà tun? Bilder aus meiner Vergangenheit flackern vor meinen Augen auf, aus einer glücklichen Vergangenheit. Einer Vergangenheit mit ihm. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wenn ich nicht mit ihm rede, werde ich nie Klarheit haben, nie mit meiner Vergangenheit abschlieÃen können.
Ich sehe ihn an, er ist verzweifelt. Tränen laufen über seine Wangen, er zittert.
âIch muss erst Mal meine Gedanken ordnen. So oft habe ich mir vorgestellt, noch mal mit dir zu reden. Aber ich habe nie gedacht, dass es wirklich passiertâ¦..â Auch ich kann meine Tränen nicht mehr zurück halten, sie laufen mir unaufhaltsam über meine Wangen.
âOkay.â, sagt Luke ganz leise. âIch werde hier auf dich warten.â
Ich nicke ihm kurz zu, dann drehe ich mich um und gehe. In meine Wohnung, um meine Gedanken zu ordnen. Die Tränen laufen immer noch über meine Wangen, ich versuche nicht, sie aufzuhalten. Hin und wieder remple ich jemanden an, dann murmle ich eine Entschuldigung, bleibe aber nicht stehen. Schaue mich nicht um. Endlich stehe ich vor meiner Wohnungstür. Ich suche den Schlüssel in meiner Tasche und schlieÃe auf. Die Gedanken und Gefühle in meinem Kopf schwirren wild umher. Irgendwie muss ich sie ordnen, wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich hole mir eine Tasse Kaffee aus der Küche und setze mich auf die Couch im Wohnzimmer. Nehme erst mal einen groÃen Schluck Kaffee. Das hilft immer. Und auch dieses Mal lässt mich mein Lieblingsgetränk nicht im Stich. Langsam kommen meine Gedanken wieder zur Ruhe. Ich nehme noch einen Schluck. Lasse die Geschehnisse der letzten Stunde revue passieren. Diese Stimmeâ¦â¦. Diese Augenâ¦â¦. Das Gefühl, als er mich berührt hatâ¦â¦.. Auch wenn es weh tut, erinnere ich mich zurück. An ein Leben, von dem ich glaubte, dass ich es für immer hinter mir gelassen habe.â¦..