Dachphilosophie
#1

Ok, die Tami saß heute ganz lang auf ihrem Dach, weil sie in der Arbeit nicht aufhören konnte zu weinen und ihr alles zu viel geworden ist. Da hat ihre Kollegin sie umarmt und heimgeschickt. Und daheim war die Tami dann sehr ratlos. Aber dann hat sie sich einfach auf ihr Dach gesetzt und plötzlich hatte sie Lust, in ihr Notizheft zu schreiben, wieso sie so gern auf ihrem Dach sitzt. Es liest sich jetzt wie so ein Auszug aus einem Selbsthilfe-Roman oder einer Predigt in der Kirche. Aber so denkt die Tami wirklich und vielleicht freut es ja irgendwen, es zu lesen. Keine Ahnung, ob noch mehr Geschichten folgen und wie die dann aufgebaut sind. Wird einfach passieren, wenn es sein soll.


Über mein Dach.


Wenn ich auf meinem Dach sitze, kann ich atmen und ganz ruhig sein.

Klar, da unten, nicht unweit vom Wohnheim entfernt ist eine Straße. Da fahren fast ununterbrochen Autos, da sitzen irgendwelche Menschen drin und keine Ahnung, sie müssen einfach irgendwohin.

Aber ich muss heute nirgendwo mehr hin. Ich bin frei. Also, die nächsten vierzehn Stunden und dreißig Minuten. Dann muss ich auch wieder dringend wo sein. Aber vorerst noch nicht. Vorerst kann ich meine Freiheit genießen.

Nur ist es gar nicht einfach, seine Freiheit zu genießen. In meinem Zimmer funktioniert es nicht. Da ist es auch so voll und beengt. Lauter Dinge und Sachen, von denen ich pro Woche nicht mal die Hälfte, nicht mal ein Viertel oder ein Achtel davon benutze, geschweige denn auch nur anrühre.

Ich überlege ständig, wie ich sie alle wieder loswerde. Nicht unüberlegt oder schnell, ich will es hinterher nicht bereuen müssen. Aber am liebsten hätte ich gern alles auf einmal sofort los. Diese widersprüchliche Feststellung lähmt mich. Und dann fällt mir ein, dass ich noch Zucker kaufen muss. Und packen sollte ich demnächst auch.

Aber dann entscheide ich mich doch erstmal durch mein sperrangelweit geöffnetes Dachfenster raus auf das Dach zu klettern. Barfuß, mit Socken wäre es nur rutschig und verhängnisvoll.

Geradeaus der Nase nach geht es steil abwärts, viele Meter in die Tiefe. Manchmal, wenn ich auf meinem Dach sitze, überlege ich, ob es eine Tiefe ist, die tödlich enden könnte, wenn man sich ihr hingibt und von der Dachrinne springt. Ober ob man sie überleben würde. In einem künstlichen Koma versetzt. Querschnittsgelähmt.

Aber erfahren werde ich es wohl nie. Ich klettere schließlich nicht auf mein Dach, um mich in den Tod zu stürzen. Ich suche nach einem Ort, wo ich mein Dasein in aller Ruhe genießen kann, ohne dass mich etwas davon ablenkt. Und das funktioniert nur hier oben.

Hier habe ich den Überblick, zumindest kommt es mir so vor.

Mal abgesehen von dem Lärm, den die Autos auf der Straße machen, kann ich Vogelgezwitscher hören. Und den Wind, der mir sachte über die Füße und die Wange streicht. Und ganz leicht an einzelnen Haarsträhnen zieht.

Außerdem ist das Dach umrahmt von Bäumen. Ich habe mir noch keine wirklichen Gedanken gemacht, wie sie alle heißen. Aber sie sind immer da, wenn ich mich hier raus auf das Dach setze und aus dem Grund mag ich sie so sehr. Den Himmel über mir, den mag ich genauso gern. Er ist auch jeden Tag da, nur sieht er jeden Tag ein bisschen anders aus. Deshalb finde ich ihn so spannend.

Wenn ich hier so vor mich hinsitze und einfach nur da bin, den einzelnen vorbeifahrenden Autos zusehe und schaue, stelle ich jedes Mal fest, wie gut es mir in diesen Augenblicken geht. Nirgendwohin zu müssen. Frei zu sein. Mein Dasein zu genießen.

Ich denke, dieses Gefühl kann man sich bewahren. Denn das Dach sagt und tut ja nichts. Und Himmel und Bäume sind einfach da und schweigen mich an. Aber ich merke, dass es sich angenehm und schön anfühlt, da zu sein. Also tue ich etwas.

Und wenn ich es hier tun kann, dann kann ich es bestimmt auch an einem anderen Ort, der weniger angenehm ist. Wo es laut ist und Lärm herrscht, überall Menschen sind und alle möchten und brauchen irgendwas. Aber niemand hat Zeit. Niemand ist frei.

Man sollte sich das Gefühl bewahren, es mit sich tragen und ihm an solch hässlichen Orten erlauben, dennoch da sein zu dürfen. Ich tue das, es funktioniert.

Aber ich muss immer wieder auf mein Dach zurückkehren. Weil ich das Gefühl so oft und gern teile, dass für mich selbst ziemlich bald kaum was übrig bleibt.


Ich merke jetzt, wie der Tag zu Neige geht und die Sonne langsam heller wird. Sie ist auf meiner rechten Seite und strahlt mir ins Gesicht, wenn ich ihr meinen Blick zuwende.

Es ist die schönste Zeit des Tages. Leider viel zu kurz. Doch immerhin bleibt das Wissen, dass die Sonne es morgen auf die gleiche Art wieder machen wird. Und wieder und wieder, jeden Tag. Und deshalb kann ich akzeptieren, dass sie untergeht und der Dunkelheit ihren Platz überlässt.

Und die Dunkelheit ist vielleicht kalt und dunkel. Doch wenn ich ganz flach auf meinem Rücken liege, kann ich den Mond sehen. Und die Sterne. Manchmal sogar Sternschnuppen. So als wollen sie mich trösten, dass die Sonne gerade nicht für mich da sein kann. Und dafür bin ich jedem einzelnen von ihnen bis ins Unermessliche dankbar.


Auf meinem Dach darf an Gefühlen alles da sein. Wut, Trauer, Freude, Glück. Schmerz. Wenn ich Tränen spüre, lass ich sie frei. Und wenn ich lächeln möchte, darf das sein. Manchmal weine ich auch und muss dabei lächeln. Und ich atme einfach weiter, durch die Wut, Trauer, Freude, das Glück und den Schmerz hindurch und genieße es, zu spüren, dass ich da bin. Und ich versuche mir auch das zu bewahren. Und es mit mir zu tragen.

So lebt es sich viel schöner, als wenn man Dingen Beachtung schenkt, die man dann gar nicht groß anrührt. Oder der bösen Zeit entgegenrennt.


Ich denke, Freiheit besitzt jeder. Es warten nur alle darauf, dass man sie ihnen gibt. Und viele warten vielleicht ein Leben lang. Und leiden. Das macht mich traurig.

Aber ich weiß, dass ich ihnen ihre Freiheit nicht geben kann. Ich habe meine eigene und die brauche ich selbst.

Sonst kann ich mein Dasein nicht einmal genießen, wenn ich auf meinem Dach sitze und die letzten warmen Sonnenstrahlen spüre. Dann könnte ich genauso gut herausfinden, ob ich überlebe oder sterbe, wenn ich mich von meinem Dach in die Tiefe gleiten lasse. Vielleicht würde ich den Boden nicht einmal berühren. Sondern meine Flügel ausspannen und zu den Bäumen in den Himmel fliegen.

Wie ein Vogel, völlig losgelöst. Das fände ich sehr schön.

Aber eher wird mich der Wind mit aller Kraft vom Dach herunterreißen müssen.

Ich habe meine Freiheit.
Und ich gebe sie nicht mehr her.

Alles, was ich geben kann ist Liebe.
Und wenn ich sie habe, Zeit.

Life is to express, not to impress.
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