Ein Kennenlernen
"Mama, mir ist so schlecht!", sagt das kleine Mädchen matt, während es sich im Bett auf die andere Seite dreht, hin zu seiner Mutter, die sorgenvoll auf der Bettkante sitzt und ihrer Tochter vorsichtig die Hand auf die Stirn legt. "Ja, mein armer Schatz, du fühlst dich auch etwas heiß an.", stellt sie fest. Sanft berührt sie die Wange ihrer Tochter und streicht ihre verschwitzten Haare zur Seite. "Auf jeden Fall bleibst du morgen zu Hause. Das macht überhaupt gar nichts!"
"Nein!", antwortet das kleine Mädchen, nennen wir es Rory. "Ich will unbedingt hin." Lorelai, so heißt die Mutter, versucht, einen strengen Ton anzuschlagen: "Rory, nein, das geht doch nicht. Sieh mal, wenn du krank bist und trotzdem zur Schule gehst, dann steckst du die anderen Kinder an. Dann geht es ihnen auch so schlecht wie dir. Willst du das denn?"
Rory kontert den Manipulationsversuch zwar mit leiser Stimme, aber wie so oft recht erwachsenen Gedanken: "Wenn die unsichtbaren Krankmachtiere sich auf viele Kinder verteilen, sind alle nur ein kleines bisschen krank." Lorelai muss lächeln. "Das ist wohl war. Aber ich bin sicher, wenn du den ganzen Montag im Bett bleibst, dann wirst du ganz schnell wieder gesund. Und zwar ohne dass die anderen Kinder dir etwas von der Krankheit abnehmen müssen."
Sie lächelt Rory an: "Und deine Schultüte, die nimmst du dann am Dienstag mit." Verschwörerisch beugt sie sich zu Rory hinab: "Ich habe gehört, dass der grimmige Mann im Diner allen Kindern, die einen Tag später eingeschult werden, sogar noch etwas zusätzliches in die Schultüte steckt!" Das ist überzeugend. Rory kuschelt sich an Lorelais Bein und flüstert müde: "Ach so. Dann also Dienstag." - "Ja", flüstert Lorelai zurück, während Rory einschlummert. "Dienstag."
Einige Stunden später wacht Rory auf. Draußen ist es schon dunkel. Ein stiller, frühherbstlicher Sonntagabend. In der Stadt, wir nennen sie Stars Hollow, ist es ungewöhnlich ruhig, wie in allen Städten am letzten Tag der Sommerferien. In jenen Häusern, in denen es Schulkinder gibt, sammeln sich die Familien innerlich, sammeln ihre Kräfte für ein neues Schuljahr mit guten Nachrichten, schlechten Noten, Streitigkeiten und Ungerechtigkeiten und Klassenfahrten und Abschlüssen und Ferien, Freundschaften und Geburtstagsparties. Und diese Atmosphäre strahlt auf jene Häuser aus, in denen es keine Schulkinder gibt und denen der Schulanfang egal sein könnte.
Die Tür zur Küche ist nur angelehnt, und es leises Flüstern ist von dort zu hören. "Mama?", fragt Rory leise, und sofort wird es still in der Küche, und einen Augenblick später steckt Lorelai den Kopf durch die Tür: "Ja, mein Engel?" - "Hast Du Besuch?" Lorelai kommt ins Zimmer und setzt sich wieder auf die Bettkante. "Ja, meine Süße. Ich habe überlegt, ob ich einen Arzt rufen sollte. Aber ich glaube, du wirst auch so wieder gesund. Und um ganz sicher zu sein, dass du am Dienstag eingeschult werden kannst, habe ich den grimmigen Mann aus dem Café gebeten, uns eine Zaubersuppe vorbeizubringen. Das ist eine Suppe, die allen Krankmachtieren ganz schrecklich schmeckt, und deswegen gehen sie alle weg. Luke, kommst du rein, bitte?"
Die Tür öffnet sich noch etwas weiter, und ein Mann mit Basecap und Flanellhemd kommt unsicher ins Zimmer, einen Suppenteller in der einen und einen Löffel in der anderen Hand. "Hallo, Rory. Ich habe gehört, dass du krank bist. Und was deine Mutter noch nicht gesagt hat, ist, dass die Zaubersuppe, die ich mitgebracht habe, ganz wunderbar schmeckt. Nach Huhn und Liebe!"
Luke reicht Lorelai Teller und Löffel, und Lorelai beginnt, ihrer Tochter vorsichtig ein paar Löffel einzuflößen. Die Suppe ist klar, enthält außer ein paar Fetzen Hühnchen noch allerlei Gemüse und ist fein gewürzt, vor allem aber ist sie dampfend heiß, sodass Lorelai jeden Löffel erst lange anpusten muss, bevor sie ihn Rory gibt.
Luke erzählt: "Du wirst sehen, diese Suppe macht dich ganz schnell wieder gesund. Sie gibt Kraft. Das Rezept habe ich von meinem Vater." Rory sieht ihn groß an: "Von dem Haushaltsmann?" Ihre Mutter muss lächeln: "Ja, genau, er hat nicht nur Haushaltswaren verkauft, sondern kannte sich auch mit magischen Suppen aus." Bald ist Rory wieder eingeschlafen, satt, gekräftigt durch die magische Suppe und auf dem Weg der Besserung. Ihre Mutter zieht ihr noch die Bettdecke glatt und achtet darauf, dass Rory bis zu Nase zugedeckt ist. Dann verlassen die beiden Erwachsenen leise Rorys Zimmer und unterhalten sich noch flüsternd im Wohnzimmer.
"Ich fühle mich immer noch nicht wohl bei dem Gedanken, Rory morgen tagsüber alleine hier zu lassen. Es ist nur… Mia hat so eine Aufregung um das Gespräch gemacht. Und ich habe von unserer Nachbarin, Babette, gehört, dass Mia aus Stars Hollow wegziehen möchte. Das klingt vielleicht abgehoben, aber ich habe wirklich schon gedacht, dass Mia mich mit der Geschäftsführung des Hotels beauftragen könnte." Lorelai sieht Luke zweifelnd an. Luke entgegnet ruhig: "Das klingt nach einer Beförderung. Jedenfalls solltest du dir keine Gedanken machen wegen des Babysitters. Es ist ein Junge aus der Stadt, er ist erst sechzehn Jahre alt, aber schon sehr verantwortungsbewusst. Der Bengel arbeitet sehr viel, er trägt Zeitungen aus, repariert Zäune, na, und im Moment wird er sehr viel als Babysitter beschäftigt. Glaube mir, alle Leute in der Stadt vertrauen ihm bei solchen Sachen."
"Na gut", langsam ist Lorelai überzeugt. "Dann kommt er also morgen früh vorbei und passt den Tag über auf Rory auf. Sie ist ja schon alt genug, ich möchte nur, dass sie nicht ganz alleine im Haus ist. Und vielen Dank für die Hühnersuppe, Luke. Ganz besonders für den Lieferservice. Ich glaube, wir werden öfter in deinem Diner vorbeschauen." Luke, schon an der Tür, verabschiedet sich: "Das solltet ihr tun. Besonders mein Kaffee ist in der ganzen Gegend bekannt. Sehr konventionell, aber sehr gut."
Am Montagmorgen geht es der siebenjährigen Rory schon sehr viel besser. "Das liegt bestimmt an der Zaubersuppe.", strahlt sie ihre Mutter froh an. Lorelai hatte ihr zum Frühstück noch etwas davon heiß gemacht, und Rory hatte aus einem Becher von der Suppe getrunken. "Das glaube ich auch. Luke ist bestimmt ein Zauberer!", bestätigt Lorelai.
"So, wie es dir jetzt geht, kannst du morgen ganz sicher zur Schule gehen. Endlich! Und heute ruhst du dich noch aus, einverstanden?" - "Mache ich, Mama. Gibst du mir noch ein Bilderbuch?" Lorelai sucht in den Stapeln, die überall im Zimmer verteilt sind, und gibt Rory dann einen Band. "Draußen sitzt der Junge, von dem ich dir erzählt habe. Er soll einfach den Tag im Wohnzimmer aufpassen, damit du nicht alleine im Haus bist. Wenn irgendetwas ist, dann kannst du dich an ihn wenden, okay?"
Rory protestiert halbherzig: "Das ist aber nicht nötig. Ich bin ja schon groß genug, um keinen Babysitter mehr zu brauchen." - "Du hast ja recht, meine Süße, aber wenn man krank ist, sollte man sogar als Erwachsene nicht alleine zu Hause sein. Stimmt's?" Rory gibt ihren Widerstand auf, und nachdem Lorelai das Haus verlassen hat, blättert sie noch eine Weile in dem Bilderbuch.
Aus dem Wohnzimmer hört sie die ganze Zeit das Geräusch des Fernsehgerätes. Das schläfert sie ein, und irgendwann schläft sie über dem Buch ein. Erst am Nachmittag erwacht Rory. Das elende Gefühl ist verschwunden, das Mädchen wieder ganz gesund.
Aus dem Wohnzimmer hört sie Stimmen. Rory wird aufmerksam. Außer der Jungenstimme, die zwischendurch merkwürdig in der Höhe bricht, hört sie auch noch die Stimme eines wesentlich jüngeren Mädchens. Rory steht auf und zieht sich an. Immer wieder hält sie inne und versucht zu verstehen, wovon die beiden Personen im Wohnzimmer reden, kann aber nur Bruchstücke verstehen. Schließlich siegt die Neugier auf die unbekannte Besucherin. Rory öffnet ihre Zimmertür und geht ins Wohnzimmer hinüber.
Dort sitzt ein schlaksiger Junge auf dem Sofa. Er trägt ein safrangelbes Hemd, und neben ihm auf dem Sofa liegt eine dazu nicht im geringsten passende beigefarbene Sommerjacke. Irgendwie scheint das eine Bein seiner Cordhose mindestens drei Zentimeter kürzer zu sein als das andere, das fällt sogar Rory auf. Der Junge sieht Rory erschrocken an. Ihm gegenüber im Sessel sitzt ein siebenjähriges, asiatisches Mädchen mit einer schwarzen Brille. Sie wirkt nicht im geringsten überrascht, sondern sieht Rory nur kurz an, springt dann von ihrem Sessel herunter und kommt auf Rory zu: "Hey! Ich bin Lane. Wir teilen uns heute einen Babysitter."
Rory ist erst über den ausgestreckten Arm irritiert, aber dann gibt sie dem Mädchen die Hand wie einer Erwachsenen, nicht ohne zu protestiert: "Ich brauche keinen Babysitter mehr. Es ist nur… ich bin krank… also ich meine…" Sie verstummt. Lane fragt neugierig: "Oh, das tut mir leid. Was hast du denn?" Rory erklärt: "Also ich bin wieder gesund. Aber gestern war ich krank." Lane begleitet Rory zu den Sesseln. "Dann solltest Du nicht stehen. Kannst Dich ruhig auf meinen Platz setzen."
Nachdem Rory Platz genommen hat, nimmt Lane eine Tagesdecke und deckt Rorys Beine zu. Dann setzt sie sich neben Rory auf die Sessellehne und sagt mit Blick auf den Jungen: "Na, ich brauche jedenfalls noch einen Babysitter, meint meine Mutter. Deshalb sollte ich zu Kirk gehen."
Rory sieht nun auch den Jungen an, der verunsichert dasitzt. "Du bist Kirk? Mama hat gesagt, dass jemand hier sein würde. Aber nicht, dass noch jemand da sein würde." Sie blickt verwirrt zu Lane. Kirk erklärt nervös: "Ich dachte, ich bestelle noch ein Kind her und passe gleichzeitig auf zwei auf. Ähm… Lane, sag mal, du hast doch bestimmt schon mal etwas vor deiner Mutter geheim gehalten, oder?"
Lane sieht ihn skeptisch an: "Geheim gehalten? Du meinst, wie wenn ich ein Geschenk für sie habe und ihr nichts davon sage?" - "Genau." Kirk zeigt auf das Fernsehgerät in der Ecke. "Wie das Musikvideo vorhin. Du meintest doch, dass du Ärger bekommst, weil wir das angeschaut haben. Na ja, wenn du deiner Mutter davon nichts sagst, gibt es auch keinen Ärger." Lane denkt nach: "Das stimmt. Vielleicht erzähle ich ihr das besser nicht." Kirk spinnt den Gedanken weiter: "Und dass ich heute nicht nur auf dich aufgepasst habe, sondern noch auf ein anderes Mädchen… also das sollte auch unser Geheimnis bleiben."
Rory mischt sich ein: "Warum das denn? Das ist doch gut für dich, wenn du mehr verdienst." Lane knufft sie in die Seite: "Nein, nein. Du kennst meine Mutter nicht. Es ist besser für Kirk, wenn sie nichts davon erfährt." - Rory hakt nach: "Er ist doch schon groß, warum darf er denn nicht machen, was er möchte?" Lane lacht: "Bei meiner Mutter ist das anders. Da dürfen auch die Erwachsenen nicht machen, was sie wollen." - "Du hast eine komische Mutter", fasst Rory zusammen. Lane erzählt: "Sie holt mich später hier ab. Wie heißt du eigentlich?" - "Lorelai", stellt sich Rory vor, "aber alle nennen mich Rory. Meine Mama ist ganz anders."
"Wo ist deine Mutti eigentlich?", möchte Lane wissen. "Sie ist Zimmermädchen in einem großen Hotel", erzählt Rory stolz. "Und heute wird sie befördert. Aber sie sagt immer, jeder Erwachsene soll machen, was er will." Rory wird auf einen Gegenstand hinter dem Sessel aufmerksam: "Da ist eine Schultüte. Ist das deine?" - "Ja", bestätigt Lane. "Ich hatte heute meinen ersten Schultag. Gehst du schon zur Schule?" Rory antwortet: "Ich habe morgen meinen ersten Schultag. Heute war ich ja krank."
"Cool!", stellt Lane fest. "An der Grundschule in Stars Hollow gibt es nur eine Klasse. Dann kannst du dich morgen neben mich setzen." - "Prima! Danke! Und wie ist die Schule so?" Lane antwortet vorsichtig: "Na ja. Ich weiß noch nicht. Auf jeden Fall gibt es dort auch Jungs, das ist merkwürdig. Einer hat mit einer Papierkugel nach der Lehrerin geworfen, da hat sie geschimpft. Der hatte sowieso ganz wuschelige, ungekämmte Haare." - "Also ich freue mich total auf die Schule!", verkündet Rory. "Und danach studiere ich in Harvard."
"Okay…", antwortet Lane, die mit dem Enthusiasmus ihrer neuen Freundin nicht so ganz mitkommt. "Ich habe sogar ein Foto von unserer Klasse." Sie zeigt holt ein paar Papiere aus der Tasche, Kritzeleien, einen Stundenplan, den sie noch nicht lesen kann, und zwei Bilder: "Hier, auf dem großen Foto, das ist unsere Klasse." Sie zögert: "Na ja, du fehlst halt. Und das kleine Bild hier ist unsere Klassenlehrerin."
In diesem Moment hupt draußen ein Auto. Lane zuckt zusammen, ihr wären beinahe die Papiere aus der Hand gefallen. "Meine Mutti. Ich muss schnell raus." Sie stopft die Blätter in ihre Tasche. Lane steht auf: "Auf Wiedersehen, Kirk." Sie geht zur Tür, Rory begleitet sie aufgeregt. An der Tür stehen sich die Mädchen einen Moment unsicher gegenüber. Rory findet als erstes Worte: "Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen", sagt sie sehr erwachsen. "Ja, gleichfalls!", antwortet Lane, während sie sich die Hand reichen. Dann prusten die Mädchen los und umarmen sich. Als Lane zur Tür hinaus huscht, ruft ihr Rory nach: "Bis morgen!"
Rory kommt zurück ins Wohnzimmer. Jetzt, alleine mit dem Jungen, verunsichert sie seine Anwesenheit doch. Sie bleibt einen Moment stehen und murmelt dann: "Ich gehe in mein Zimmer." Kirk antwortet nur: "Ich sehe weiter fern. Das darf ich zu Hause nicht." Nachdem Rory in ihrem Zimmer verschwunden ist, bleibt Kirk eine Weile auf dem Sofa sitzen, bis er etwas auf dem Teppich bemerkt. Es ist ein kleines Foto, und Kirk sieht es eine ganze Weile an, bevor er es sorgfältig einsteckt und weiter fernsieht.
Auch wenn ich erst am WE lesen wollte, aber nachdem ich jetzt gerade hochgescrollt habe und doch mal einen vorsichtigen Blick auf den letzten Beitrag geworfen habe, musste ich... mehr als grinsen. Zumal, Kiwi-Power, wir das wohl auch noch weitgehend zeitgleich geschrieben haben, nämlich Mittwochabend. Krankheit ist irgendwie ein regressives Thema...
Jetzt bin ich gespannt, ob die anderen ebenfalls in die Richtung gedacht haben.