16.01.2012, 19:30
Autor: meineeine
Titel: Zeitlos
Raiting: 12+
Disclaimer: alles meins
Sonstige Anmerkungen: Die Geschichte entstand, nachdem ich Ende des letzten Jahres zufällig über einen Schreibwettbewerb (mit dem Thema "Flüsternde Stille" oder so ähnlich) gestolpert bin. Wer mich ein bissel kennt, weiÃ, dass ich teilweise ganz schön lange brauche, um ein Kapitel zu beenden. So auch hier. Alles was unter dem ersten Absatz zu finden ist, kam erst in den letzten beiden Tagen dazu. Ich hab hier schon ewig keine Sachen mehr veröffentlicht, aber ich mag den Teil ganz gern, deshalb dachte ich, warum eigentich nicht? Habt also bitte etwas Gnade. :laugh:
Ich weià noch nicht, ob es bei dem einen Teil bleibt oder ob ich daraus etwas längeres entwickle.
Zeitlos
Nachdenklich saà sie auf der Couch in der Nähe des Fensters, beobachtete, wie der Regen prasselnd an die Scheibe klopfte und in dünnen Rinnsalen hinab lief, die sich unwillkürlich miteinander verbanden und in ihrer Vorstellung abstrakte Bilder malten.
Das einzige Geräusch in dem kleinen gemütlichen Zimmer wurde von der alten Standuhr verursacht, die ihrer Tante gehört und schon viele Geschichten erlebt hatte. Ein leises regelmäÃiges Ticken, welches gemeinsam mit dem Regen und dem leichten Wind von drauÃen, eine beruhigend stimmende Melodie ergab.
Abgesehen von ihr, war niemand im dem Raum. Jegliche Ablenkung durch Worte und teilweise wiederholte Argumente, allein schon die Anwesenheit einer weiteren Person, wären ihr in dem Moment zu viel gewesen. Sie wollte einfach nicht drüber nachdenken, ihren Kopf frei bekommen, die Gedanken auf nimmer Wiedersehen in die Ferne laufen lassen. Doch es schien fast so, als würden sie nur noch enger zusammenrücken, je mehr sie sich darum bemühte. Als würden sie ihr die Entscheidung noch schwerer machen wollen, als sie es ohnehin schon war. Genau das war auch der Grund, weshalb sie wieder einmal ihren Lieblingsplatz gewählt hatte. Den mit dem schönen Blick in Richtung der Dünen, den sie immer dann aufsuchte, wenn sie ungestört sein wollte. Ihre kleine Oase in dem Haus.
Die Dielen unter dem Teppich knarrten bei jedem zweiten Schritt, wenn man nicht aufpasste. Ihn nervte es und er hatte schon mehrfach vorgeschlagen, sie gegen einen anderen Bodenbelag auszutauschen, ihr sogar die freie Wahl der Farbe und Sorte gelassen, doch sie hatte es bis dahin immer abgelehnt und würde es auch weiterhin tun. Egal welche Worte er fand oder finden würde, um sie umzustimmen. Solange sie in diesem Haus lebte, würde der Raum so belassen werden, wie sie ihn vorgefunden hatten. Ein Stück nostalgische Gemütlichkeit in einem sonst relativ modern umgebauten alten Cottage.
Sie hatten es von ihrer Tante, die, wenn man es genau nahm, eigentlich sogar ihre GroÃtante war, geerbt. In die Jahre war es gekommen und sie hatten einiges zu tun gehabt, um es wieder auf einen zeitgemäÃen Stand zu bringen. Ursprünglich wollten sie es als Ferienhaus nutzen beziehungsweise in der Zeit, in der sie nicht anwesend waren, vermieten. Doch dann hatte sie sich, bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch, in die Umgebung, das Haus und vor allem den kleinen Raum verliebt und beschlossen es zu ihrer neuen Heimat zu werden zu lassen. Es hatte reichlich Ãberzeugungskraft bedurft, um ihn von der neuen Idee zu begeistern, aber es war ihr gelungen. Zweieinhalb Jahre war es schon wieder her und sie hatten den Umzug noch keinen Tag bereut. Selbst wenn die Wege länger geworden waren. In die nächste Ortschaft, zum Einkaufen oder auch zur Arbeit.
Für sie war es ein Kindheitstraum gewesen, für ihn ein unbewusst stetig gewachsener Wunsch, seitdem sie vor mittlerweile beinahe neun Jahren zusammengefunden hatten.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie sich begegnet waren. Es hatte an dem Tag in Strömen geregnet, sie verschlafen, was ihr sonst nie passierte und dann war zu allem Ãberfluss das Auto nicht mehr angesprungen. Kurz nachdem sie die Haltestelle, trotz Regenschutz ziemlich durchweicht, erreicht hatte, war er dazu gestoÃen – nass bis auf die Haut. Den Schirm hatte er ein paar Tage zuvor bei seiner Schwester vergessen, wo er zu dem Zeitpunkt immer noch gut geschützt im Trocknen lag, weil er es nicht geschafft hatte nochmal vorbei zu fahren. Sie hatte erfahren, dass er jeden Tag den Bus benutzte, weil es ihn günstiger kam und die Universität, an der er in seinem letzten Studienjahr war, auch nur ein Katzensprung von der Station, wo er austeigen musste, entfernt lag. Von da an hatte sie begonnen auch den Bus zu nehmen. Erst nur ein oder vielleicht zwei Mal in der Woche, dann immer regelmäÃiger. Bis er dann plötzlich nicht mehr an die Haltestelle kam und mitfuhr. Erst hatte sie gedacht, sein Stundenplan hätte sich vielleicht geändert oder er sei umgezogen. Doch dann war eine Kollegin von ihr beim Dekorieren so unglücklich mit dem Fuà umgeknickt, dass sie mit ihr vorsichtshalber in das örtliche Krankenhaus gefahren war.
Während der endlosen Wartezeit auf einen Arzt, hatte sie sich einen dieser Kaffees aus dem Automaten holen wollen. Sie konnte sie nicht leiden, weil sie wie eingeschlafene WasserfüÃe schmeckten, aber sie wollte etwas in den Händen halten, ihre Sorge und die Unruhe vertreiben. Denn wenn man sie danach gefragt hätte, hätte sie die Schuld auf sich genommen. Die Dekoration hatte an diesem Tag unter ihrer Verantwortung gelegen und sie hatte sie einfach weiter gereicht. Abgegeben an die Kollegin, die zu der Zeit auf dem Weg in einen Operationssaal war, wegen eines Bruches des Sprunggelenkes.
Sie hatte schon damals Krankenhäuser nicht besonders gern gemocht und jede Möglichkeit vermieden hinein zu gehen, seitdem sie als kleines Kind hatte zusehen müssen, wie ihre zwei Jahre ältere Schwester in so einen klinkersteinernden Höllenschlund geschoben worden war und nie wieder hinaus kam.
Natürlich hatte sie sich auf dem Rückweg prompt verlaufen und musste eine der anwesenden Krankenschwestern, die gerade aus einem der Zimmer kam, um Hilfe bitten. Während diese ihr freundlich den für sie schnellsten Weg erklärte, war ihr Blick zufällig in den kleinen Zweibettraum gerutscht. Als Folge waren die Erklärungen der Schwester binnen weniger Sekunden zu einem undeutlichen Kauderwelsch geworden und sie zu einer menschlichen Statue. Er hatte in dem Bett gelegen, leichenblass, mit Schläuchen verbunden, einen Arm von der Hand bis zu der Schulter in Gips, die Augen geschlossen. Wie die Krankenschwester, der ihr Verhalten nicht unentdeckt geblieben war, ihr erzählte, hatte er einen Unfall gehabt; war beim Wandern mit Freunden an einer kleineren Klippe weggerutscht, abgestürzt und auf einem Vorsprung gelandet.
Er hätte Glück gehabt, dass der Sturz nicht all zu tief gewesen war. Jedoch tief genug, um ihm die Schulter auszukugeln, den Arm und mehrere Rippen zu brechen und seine Milz in Mitleidenschaft zu ziehen. All das hatte sie von ihm und seinem Arzt erfahren, nachdem er eine gute Woche später endlich aus dem künstlichen Koma aufgeweckt worden war. Seitdem hatten sie, mit Ausnahme eines Wochenendes, keinen Tag mehr ohne einander verbracht – bis heute.
Sie lächelte bei dem Gedanken und spähte für einige Atemzüge in Richtung der Standuhr, die mit ihrem dunklem Holz, dem kupferfarbenen Pendel und der verzierten kleinen Glasfront sehr edel wirkte. In dem Halbdunkel des Raumes waren die römischen Zahlen auf dem vergilbten Ziffernblatt kaum noch erkennbar. Unabhängig davon, funktionierte sie noch einwandfrei.
Sie hegte ja die leise Vermutung, dass die Uhr noch einige Jahre älter war, als ihnen bei der Begutachtung angegeben worden war. Eine Annahme, der sowohl er als auch der Experte widersprachen, doch im Gegensatz zu ihr, hatten sie auch nicht die kleinen Kratzer auf der Innenseite des vorderen rechten FuÃes bemerkt. Ihr selbst war es auch nur aufgefallen, weil ihr während des Nähens ein Fingerhut vom Tisch gefallen und unter die Uhr gerollt war. Beim herausfischen hatte sie irritiert die kleinen Kratzer bemerkt. Erst hatte sie sich geärgert, weil die Uhr damit doch nicht völlig unversehrt gewesen war, doch dann war ihr – im Schein der Taschenlampe – etwas Seltsames ins Auge gefallen und sie hatte eine Lupe geholt. Wenn sie sich nicht völlig täuschte, hatte irgendwer, aus welchen Gründen auch immer, mit einem Messer oder anderem spitzen Gegenstand die Zahl 1894 und die Initialen A/L eingeritzt. Was nichts anderes bedeutete, als dass diese Standuhr mindestens eine Generation älter sein musste, als ihnen bescheinigt worden war.
Der bis dahin sachte Wind war mittlerweile stärker geworden und pfiff eine unheilvolle Melodie um das Haus, drückte den Regen böenartig gegen das langgezogene halbrunde Giebelfenster, so dass ein Blick nach drauÃen immer mehr erschwert wurde. Auf sie wirkte es fast ein wenig, als hätte die Scheibe stellenweise ihre Konsistenz verändert und müsste nur noch aufgefangen werden. Aufgefangen, wie ihre Gedanken, die wie dicke Regentropfen durch ihren Kopf wirbelten und immer wieder gegen die Mauer aus Knochen und verschiedenen Hautschichten stieÃen oder durch ihre Augen nach drauÃen drangen und an ihren Wangen hinabliefen - so wie jetzt im Moment. Sie wischte sich mit einer Hand über ihr Gesicht, versuchte den salzigen Bach entgegen zu wirken, scheiterte jedoch kläglich an der selbstgestellten Aufgabe.
Nach einem Taschentuch greifend spürte sie unvermittelt eine Hand auf ihrer Schulter, zuckte leicht zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er musste die Tür sehr behutsam geöffnet haben, um sie nicht zu stören. Eine der vielen Eigenschaften, die sie an ihm so liebte. Sie wollte sich zu ihm umdrehen, aufstehen und ihn bei sich haben, ihn spüren, sie wollte mit ihm reden, ihn wegschicken und versichern, dass mit ihr alles in Ordnung wäre, doch noch bevor sie Gelegenheit dazu hatte eine Entscheidung zu fällen, legte er bereits den zweiten Arm um sie, setzte sich ebenfalls auf die Couch und zog sie näher an sich heran, so dass sie schlieÃlich an ihm lehnte, wie an einem Kissen. Erleichert lieà sie ihren Kopf zurück an sein Schulterblatt sinken, kuschelte sich an ihn und genoss die Nähe und die Wärme, die von ihm ausging.
„Niemand zwingt dich jetzt zu einer Entscheidung“, flüsterte er kaum hörbar. „Lass dir die Zeit, die du brauchst.“ Liebevoll strich er die Tränen, welche bereits weniger wurden, beiseite und lächelte, als er bemerkte, dass sie sich auch darum bemühte. Sie wollte den Mund öffnen, um ihn etwas zu fragen, doch er schüttelte nur leicht den Kopf. Also sah sie erneut in Richtung des Fensters, beobachtete den Regen beim Malen an der Scheibe und vermeinte – nach wenigen Atemzügen – ein beinahe tonloses ‚immer‘ zu hören. Als sie ihren Kopf umwandte, blickte er sie ein wenig fragend an, aber etwas an der Art sagte ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ein Lächeln, welches ihm noch sehr lange in Erinnerung bleiben würde, doch davon ahnte sie in diesem Moment nichts.
Titel: Zeitlos
Raiting: 12+
Disclaimer: alles meins
Sonstige Anmerkungen: Die Geschichte entstand, nachdem ich Ende des letzten Jahres zufällig über einen Schreibwettbewerb (mit dem Thema "Flüsternde Stille" oder so ähnlich) gestolpert bin. Wer mich ein bissel kennt, weiÃ, dass ich teilweise ganz schön lange brauche, um ein Kapitel zu beenden. So auch hier. Alles was unter dem ersten Absatz zu finden ist, kam erst in den letzten beiden Tagen dazu. Ich hab hier schon ewig keine Sachen mehr veröffentlicht, aber ich mag den Teil ganz gern, deshalb dachte ich, warum eigentich nicht? Habt also bitte etwas Gnade. :laugh:
Ich weià noch nicht, ob es bei dem einen Teil bleibt oder ob ich daraus etwas längeres entwickle.
Zeitlos
[04.Nov., 1996]
Nachdenklich saà sie auf der Couch in der Nähe des Fensters, beobachtete, wie der Regen prasselnd an die Scheibe klopfte und in dünnen Rinnsalen hinab lief, die sich unwillkürlich miteinander verbanden und in ihrer Vorstellung abstrakte Bilder malten.
Das einzige Geräusch in dem kleinen gemütlichen Zimmer wurde von der alten Standuhr verursacht, die ihrer Tante gehört und schon viele Geschichten erlebt hatte. Ein leises regelmäÃiges Ticken, welches gemeinsam mit dem Regen und dem leichten Wind von drauÃen, eine beruhigend stimmende Melodie ergab.
Abgesehen von ihr, war niemand im dem Raum. Jegliche Ablenkung durch Worte und teilweise wiederholte Argumente, allein schon die Anwesenheit einer weiteren Person, wären ihr in dem Moment zu viel gewesen. Sie wollte einfach nicht drüber nachdenken, ihren Kopf frei bekommen, die Gedanken auf nimmer Wiedersehen in die Ferne laufen lassen. Doch es schien fast so, als würden sie nur noch enger zusammenrücken, je mehr sie sich darum bemühte. Als würden sie ihr die Entscheidung noch schwerer machen wollen, als sie es ohnehin schon war. Genau das war auch der Grund, weshalb sie wieder einmal ihren Lieblingsplatz gewählt hatte. Den mit dem schönen Blick in Richtung der Dünen, den sie immer dann aufsuchte, wenn sie ungestört sein wollte. Ihre kleine Oase in dem Haus.
Die Dielen unter dem Teppich knarrten bei jedem zweiten Schritt, wenn man nicht aufpasste. Ihn nervte es und er hatte schon mehrfach vorgeschlagen, sie gegen einen anderen Bodenbelag auszutauschen, ihr sogar die freie Wahl der Farbe und Sorte gelassen, doch sie hatte es bis dahin immer abgelehnt und würde es auch weiterhin tun. Egal welche Worte er fand oder finden würde, um sie umzustimmen. Solange sie in diesem Haus lebte, würde der Raum so belassen werden, wie sie ihn vorgefunden hatten. Ein Stück nostalgische Gemütlichkeit in einem sonst relativ modern umgebauten alten Cottage.
Sie hatten es von ihrer Tante, die, wenn man es genau nahm, eigentlich sogar ihre GroÃtante war, geerbt. In die Jahre war es gekommen und sie hatten einiges zu tun gehabt, um es wieder auf einen zeitgemäÃen Stand zu bringen. Ursprünglich wollten sie es als Ferienhaus nutzen beziehungsweise in der Zeit, in der sie nicht anwesend waren, vermieten. Doch dann hatte sie sich, bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch, in die Umgebung, das Haus und vor allem den kleinen Raum verliebt und beschlossen es zu ihrer neuen Heimat zu werden zu lassen. Es hatte reichlich Ãberzeugungskraft bedurft, um ihn von der neuen Idee zu begeistern, aber es war ihr gelungen. Zweieinhalb Jahre war es schon wieder her und sie hatten den Umzug noch keinen Tag bereut. Selbst wenn die Wege länger geworden waren. In die nächste Ortschaft, zum Einkaufen oder auch zur Arbeit.
Für sie war es ein Kindheitstraum gewesen, für ihn ein unbewusst stetig gewachsener Wunsch, seitdem sie vor mittlerweile beinahe neun Jahren zusammengefunden hatten.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie sich begegnet waren. Es hatte an dem Tag in Strömen geregnet, sie verschlafen, was ihr sonst nie passierte und dann war zu allem Ãberfluss das Auto nicht mehr angesprungen. Kurz nachdem sie die Haltestelle, trotz Regenschutz ziemlich durchweicht, erreicht hatte, war er dazu gestoÃen – nass bis auf die Haut. Den Schirm hatte er ein paar Tage zuvor bei seiner Schwester vergessen, wo er zu dem Zeitpunkt immer noch gut geschützt im Trocknen lag, weil er es nicht geschafft hatte nochmal vorbei zu fahren. Sie hatte erfahren, dass er jeden Tag den Bus benutzte, weil es ihn günstiger kam und die Universität, an der er in seinem letzten Studienjahr war, auch nur ein Katzensprung von der Station, wo er austeigen musste, entfernt lag. Von da an hatte sie begonnen auch den Bus zu nehmen. Erst nur ein oder vielleicht zwei Mal in der Woche, dann immer regelmäÃiger. Bis er dann plötzlich nicht mehr an die Haltestelle kam und mitfuhr. Erst hatte sie gedacht, sein Stundenplan hätte sich vielleicht geändert oder er sei umgezogen. Doch dann war eine Kollegin von ihr beim Dekorieren so unglücklich mit dem Fuà umgeknickt, dass sie mit ihr vorsichtshalber in das örtliche Krankenhaus gefahren war.
Während der endlosen Wartezeit auf einen Arzt, hatte sie sich einen dieser Kaffees aus dem Automaten holen wollen. Sie konnte sie nicht leiden, weil sie wie eingeschlafene WasserfüÃe schmeckten, aber sie wollte etwas in den Händen halten, ihre Sorge und die Unruhe vertreiben. Denn wenn man sie danach gefragt hätte, hätte sie die Schuld auf sich genommen. Die Dekoration hatte an diesem Tag unter ihrer Verantwortung gelegen und sie hatte sie einfach weiter gereicht. Abgegeben an die Kollegin, die zu der Zeit auf dem Weg in einen Operationssaal war, wegen eines Bruches des Sprunggelenkes.
Sie hatte schon damals Krankenhäuser nicht besonders gern gemocht und jede Möglichkeit vermieden hinein zu gehen, seitdem sie als kleines Kind hatte zusehen müssen, wie ihre zwei Jahre ältere Schwester in so einen klinkersteinernden Höllenschlund geschoben worden war und nie wieder hinaus kam.
Natürlich hatte sie sich auf dem Rückweg prompt verlaufen und musste eine der anwesenden Krankenschwestern, die gerade aus einem der Zimmer kam, um Hilfe bitten. Während diese ihr freundlich den für sie schnellsten Weg erklärte, war ihr Blick zufällig in den kleinen Zweibettraum gerutscht. Als Folge waren die Erklärungen der Schwester binnen weniger Sekunden zu einem undeutlichen Kauderwelsch geworden und sie zu einer menschlichen Statue. Er hatte in dem Bett gelegen, leichenblass, mit Schläuchen verbunden, einen Arm von der Hand bis zu der Schulter in Gips, die Augen geschlossen. Wie die Krankenschwester, der ihr Verhalten nicht unentdeckt geblieben war, ihr erzählte, hatte er einen Unfall gehabt; war beim Wandern mit Freunden an einer kleineren Klippe weggerutscht, abgestürzt und auf einem Vorsprung gelandet.
Er hätte Glück gehabt, dass der Sturz nicht all zu tief gewesen war. Jedoch tief genug, um ihm die Schulter auszukugeln, den Arm und mehrere Rippen zu brechen und seine Milz in Mitleidenschaft zu ziehen. All das hatte sie von ihm und seinem Arzt erfahren, nachdem er eine gute Woche später endlich aus dem künstlichen Koma aufgeweckt worden war. Seitdem hatten sie, mit Ausnahme eines Wochenendes, keinen Tag mehr ohne einander verbracht – bis heute.
Sie lächelte bei dem Gedanken und spähte für einige Atemzüge in Richtung der Standuhr, die mit ihrem dunklem Holz, dem kupferfarbenen Pendel und der verzierten kleinen Glasfront sehr edel wirkte. In dem Halbdunkel des Raumes waren die römischen Zahlen auf dem vergilbten Ziffernblatt kaum noch erkennbar. Unabhängig davon, funktionierte sie noch einwandfrei.
Sie hegte ja die leise Vermutung, dass die Uhr noch einige Jahre älter war, als ihnen bei der Begutachtung angegeben worden war. Eine Annahme, der sowohl er als auch der Experte widersprachen, doch im Gegensatz zu ihr, hatten sie auch nicht die kleinen Kratzer auf der Innenseite des vorderen rechten FuÃes bemerkt. Ihr selbst war es auch nur aufgefallen, weil ihr während des Nähens ein Fingerhut vom Tisch gefallen und unter die Uhr gerollt war. Beim herausfischen hatte sie irritiert die kleinen Kratzer bemerkt. Erst hatte sie sich geärgert, weil die Uhr damit doch nicht völlig unversehrt gewesen war, doch dann war ihr – im Schein der Taschenlampe – etwas Seltsames ins Auge gefallen und sie hatte eine Lupe geholt. Wenn sie sich nicht völlig täuschte, hatte irgendwer, aus welchen Gründen auch immer, mit einem Messer oder anderem spitzen Gegenstand die Zahl 1894 und die Initialen A/L eingeritzt. Was nichts anderes bedeutete, als dass diese Standuhr mindestens eine Generation älter sein musste, als ihnen bescheinigt worden war.
Der bis dahin sachte Wind war mittlerweile stärker geworden und pfiff eine unheilvolle Melodie um das Haus, drückte den Regen böenartig gegen das langgezogene halbrunde Giebelfenster, so dass ein Blick nach drauÃen immer mehr erschwert wurde. Auf sie wirkte es fast ein wenig, als hätte die Scheibe stellenweise ihre Konsistenz verändert und müsste nur noch aufgefangen werden. Aufgefangen, wie ihre Gedanken, die wie dicke Regentropfen durch ihren Kopf wirbelten und immer wieder gegen die Mauer aus Knochen und verschiedenen Hautschichten stieÃen oder durch ihre Augen nach drauÃen drangen und an ihren Wangen hinabliefen - so wie jetzt im Moment. Sie wischte sich mit einer Hand über ihr Gesicht, versuchte den salzigen Bach entgegen zu wirken, scheiterte jedoch kläglich an der selbstgestellten Aufgabe.
Nach einem Taschentuch greifend spürte sie unvermittelt eine Hand auf ihrer Schulter, zuckte leicht zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er musste die Tür sehr behutsam geöffnet haben, um sie nicht zu stören. Eine der vielen Eigenschaften, die sie an ihm so liebte. Sie wollte sich zu ihm umdrehen, aufstehen und ihn bei sich haben, ihn spüren, sie wollte mit ihm reden, ihn wegschicken und versichern, dass mit ihr alles in Ordnung wäre, doch noch bevor sie Gelegenheit dazu hatte eine Entscheidung zu fällen, legte er bereits den zweiten Arm um sie, setzte sich ebenfalls auf die Couch und zog sie näher an sich heran, so dass sie schlieÃlich an ihm lehnte, wie an einem Kissen. Erleichert lieà sie ihren Kopf zurück an sein Schulterblatt sinken, kuschelte sich an ihn und genoss die Nähe und die Wärme, die von ihm ausging.
„Niemand zwingt dich jetzt zu einer Entscheidung“, flüsterte er kaum hörbar. „Lass dir die Zeit, die du brauchst.“ Liebevoll strich er die Tränen, welche bereits weniger wurden, beiseite und lächelte, als er bemerkte, dass sie sich auch darum bemühte. Sie wollte den Mund öffnen, um ihn etwas zu fragen, doch er schüttelte nur leicht den Kopf. Also sah sie erneut in Richtung des Fensters, beobachtete den Regen beim Malen an der Scheibe und vermeinte – nach wenigen Atemzügen – ein beinahe tonloses ‚immer‘ zu hören. Als sie ihren Kopf umwandte, blickte er sie ein wenig fragend an, aber etwas an der Art sagte ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ein Lächeln, welches ihm noch sehr lange in Erinnerung bleiben würde, doch davon ahnte sie in diesem Moment nichts.
"An actors job is the business of telling the truth in an imaginary situation."
- Tom Hiddleston