Teil 15
Sie spürt es. Spürt, dass er hinter ihr steht. Sie noch nicht ganz erreicht hat, es aber bald tun wird. Sie kann die Steine unter seinen Schuhen knirschen hören, spürt beinahe seinen Atem in ihrem Nacken. Beinahe sieht sie ihn vor sich, wie er hinter ihr steht, sie anstarrt, überlegt, was er als nächstes tun soll. Auch sie überlegt. Weià nicht wie sie reagieren soll. Sie ist doch vor ihm weggelaufen, aber hat sie sich nicht insgeheim gewünscht, dass er ihr nachfährt? Dass man sie hier früher oder später gefunden hätte, ist ihr bewusst. Hat sie sich nicht instinktiv genau diesen Platz ausgesucht, an dem sie leicht aufzufinden ist?
Lane geht neben ihr her. Sie redet ununterbrochen. Es ist nett, sie muss nichts sagen, lächelt ab und zu. Lane ist nett, erfrischend und fröhlich. In Hartfort ist niemand fröhlich. Alle sind verbissen, die einen wegen dem Geschäft, die anderen wegen der Schule. Jeder hat einen festen Platz in der Gesellschaft. Schon während der Schwangerschaft werden die Leben der kleinen Menschen entworfen, geformt und solange geändert, bis sie perfekt sind. Somit hat man schon im Mutterleib ein Ziel, auf das man hinarbeiten muss. Schon von Kindesbeinen an ist das Leben verplant, ein einziger Plan ohne Lücken. Gefühle werden verdrängt, verborgen. Denn lässt man sie zu, gilt man als schwach, als verwundbar. Ein leichtes Spiel also. Gefühle können gefährlich werden für die Gesellschaft.
Schon wieder fängt Lane ein neues Thema an, doch sie hört ihr nicht zu. Sie hört nur auf die leisen Schritte, die knirschenden Steine unter den Sohlen seiner Schuhe. Warum geht er ihr solange hinterher? Wann wird er sie endlich aufhalten? Bei jedem Schritt wachsen ihre Aufregung und zugleich auch ihre Freude. Er ist ihr wirklich gefolgt, hat Risiken aufgenommen, hier her zu kommen. Doch nun geht er ihr still hinterher. Sie wagt es nicht sich umzudrehen, doch sie weiÃ, dass er hinter ihr geht. Sie riecht sein Aftershave, wieder keimt das Kind in ihr auf, das sich freut seinem Daddy nahe zu sein. Sein Schatten wird immer gröÃer, er kommt ihr immer näher, verschmilzt mit ihrem.
Schon spürt sie wie sich eine Hand sanft auf ihre Schulter legt. Sie bleibt stehen. Lane sieht sie entgeistert an, weià nicht was der fremde Mann vorhat.
âRoryâ¦â, seine Stimme klingt sanft, so ungewohnt. Das Adjektiv, das den Klang seiner Stimme am ehesten beschreiben würde, liegt ihr auf der Zunge.
âRory, bitte rede mit mirâ, Flehen liegt in seiner Stimme. Sie dreht sich um, sieht ihm in die Augen. Kann das Flehen auch in seinen Augen erkennen. Sie weià nicht ob sie lachen oder weinen soll. Er ist hier, steht tatsächlich hier, bereit um endlich zu reden. Auf der anderen Seite plagen sie die Zweifel. Wird er wirklich hier bleiben? Kann sie es wagen sich ihm zu öffnen, wo sie sich doch nicht sicher ist, ob er morgen noch hier sein wird.
Erwartungsvoll sieht er sie an. Ihr Kopf ist leer. Was soll sie sagen? Irgendwas, sag irgendwas! Er wird wieder verschwinden, so sag doch etwas! âDu bist nie da.â, krächzt sie, verflucht ihre Stimme. Sie möchte stark klingen, nicht als ob sie am Rande des Erstickens wäre.
Er möchte etwas sagen, dreht sich jedoch zu Lane. âWürdest du uns kurz entschuldigen?â
âAber ja, ich muss sowieso noch Flyer für die Bibelgruppe meiner Mutter austragen. Rory, wir sehen uns noch, okay?â, ohne auf die Antwort zu warten verschwindet sie.
âRory, lass uns ein Stück gehen.â, sanft legt er ihr den Arm um die Schultern, drückt sie leicht mit sich. Sie lässt es zu. Befindet sich auf einem Drahtseil, jede Minute könnte sie abstürzen, könnte sich wieder in ihren Träumen verlieren. Doch sie riskiert es, sie will es â nein, sie ist fest entschlossen ihr Leben und ihre Familie in den Griff zu kriegen. Das Opfer ist es ihr wert.
Eine Zeit lang gehen sie schweigend nebeneinander her. Allein das Rauschen der Bäume im Wind und das Klappern ihrer Absätze auf dem Beton sind zu hören. Sie genieÃen die Stille, brennen innerlich aber darauf endlich etwas zu sagen. Beide sind vorsichtig, wählen ihre Worte sorgfältig. Zu viel wurde missverstanden, zu oft wurde geschrieen, zu selten wurde geweint.
Auch er hat sich im Laufe der Zeit zu einem Eisblock verwandelt. Hat Beziehungen mit Absicht zerstört, insgeheim wartet er immer noch auf sie. Wartet darauf, dass sie zurückkommt, mit ihm und ihrer Tochter endlich eine Familie aufbaut. Wie sehr beneidet er die lächelnden Gesichter auf den Werbeplakaten. Mutter, Vater und Kind, glücklich vereint. Sie wäre es geworden, er ist sich sicher. Nichts hätte ihrem Glück im Wege gestanden, so viel hatten sie schon miteinander durchgestanden. Doch sie wird nicht zurückkommen. Sie ist nicht mehr unter ihnen, wird es niemals wieder sein. Wie oft hat er sich das schon einzureden versucht. In der langen einsamen Zeit ohne sie hat er es nicht geschafft sich einzugestehen, dass sich an ihrer Abwesenheit nichts mehr ändern wird. Er ist weggelaufen, hat sich versteckt, in der Angst hinaus zu gehen und sie nicht mehr zu finden. So vieles hat er in seinem Leben falsch gemacht, aber eines, das wird er sich nie verzeihen können. Er hat seine Tochter im Stich gelassen. Hat sie alleine gelassen, als sie ihm am Meisten gebraucht hat. Er war im Ausland, hat seine Bedürfnisse vor ihre gestellt, konnte es nicht ertragen ihre Augen in denen seiner Tochter zu sehen. Wie oft ist er vor ihrer Türe gestanden, hatte den Finger schon auf der Klingel, und ist kurz vorm entscheidenden Moment wieder davon gelaufen. Wie stolz war er, als er sie das erste Mal im Alter von vier Jahren gesehen hatte. Doch schon in der Nacht kamen die Erinnerungen wieder, plagten ihn, lieÃen ihn nicht mehr los â solange bis er ging. Einfach wieder aus ihrem Leben verschwand, bis er das nächste Mal vor ihrer Tür stand. Wie sehr muss er ihr wehgetan haben. Niemals wird er sich das verzeihen können, niemals wird er es wieder gut machen können. Immer noch träumt er von seiner kleinen Familie, niemals wird es dieselbe sein, die er in seinen Träumen sieht. Er weià es, schafft es nach so langer Zeit endlich, sich das einzugestehen. Aber er hat eine Familie. Sie ist unvollständig, und kann erst durch ihn ganz werden.
Sie spürt, wie seine Hand sich verkrampft. Er tut ihr Leid, was sie gesagt hat, tut ihr Leid. Sie möchte ihn umarmen, sich an ihm festhalten, zulassen, dass er sich an ihr festhält. Die Nähe bringt sie fast um. Sie geht direkt neben ihm, doch sie kann erkennen, dass er Meilen von ihr entfernt ist. Sie wagt es nicht ihn direkt anzusehen, wagt es auch nicht etwas zu sagen. Die gemeinsame Stille will sie nicht zerstören, doch sie weiÃ, dass es passieren muss. Doch nicht so schnell. Auch nichts zu sagen kann helfen, das weià sie.
SchlieÃlich wagt sie doch einen kurzen Blick. Ihre Augen treffen sich, nun fällt ihr das Adjektiv ein â ihr Vater ist erwachsen geworden.