Part III
Rory hatte die letzte Nacht nicht geschlafen. Ständig verfolgte sie die letzte Begegnung mit Jess. Warum war er ihr nicht gefolgt? Er hatte sie einfach so gehen lassen. War sie ihm wirklich gleichgültig? War es ihm egal was sie fühlte? Sie hatte Angst. Er war wahrscheinlich schon weg. Auf dem Weg nach New York oder sonst wohin. Hatte sie wieder alleine gelassen. Letzte Nacht hatte sie geweint, aber sie würde es nie zugeben. Sie wollte nicht weinen. Nicht deswegen. Sie wollte wütend sein, aber es gelang ihr nicht so recht. Starr blickte sie über den Platz mitten in Stars Hollow. Sie saà auf einer Bank und wartete auf den Bus. Ihn hatte sie nicht gesehen. Nicht als sie heute morgen zu Luke ist. Luke hatte sie nicht gefragt. Es war zu früh.
Von weitem sah sie wie der Bus um die Ecke bog und auf sie zufuhr. Langsam erhob sie sich und schulterte ihren Rucksack. Sie musste sich damit abfinden. Er war weg und würde wahrscheinlich auch nicht mehr wiederkommen. Der Bus hielt vor ihr und sie stieg ein. Langsam ging sie durch den Gang in die hinteren Reihen und nahm an einem Fenster platz. Sie würde schon lernen damit klar zu kommen, dass er nicht mehr da ist. Irgendwann. Sicher nicht bald, aber irgendwann. Langsam setzte sich der Bus in Bewegung. Rory starrte nur aus dem Fenster. Sie hatte keine Ahnung wie sie sich heute in der Schule konzentrieren sollte. Keinen klaren Gedanken konnte sie fassen, der sich nicht um ihn drehte. Sie lehnte ihr Stirn gegen das kalte Glas des Fensters und seufzte. Eine stumme Träne rann über ihre Wange und sie begann zu schluchzen. Nein, sie wollte nicht weinen. Nicht wegen ihm. Nicht weil er sie verlassen hatte. Sie wollte wütend sein.
Plötzlich bremste der Bus und riss Rory aus ihren Gedanken. Sie schaute auf und sah den Busfahrer laut fluchen und die Tür öffnen. Mit einer Hand wischte sie sich die Träne aus ihrem Gesicht und blickte wieder auf den Boden. Wahrscheinlich wieder irgendjemand der zu spät gekommen war und den Bus aufgehalten hatte. Was machte sie sich eigentlich noch Hoffnungen? Er war weg. Verschwunden aus ihrem Leben. Hatte sie alleine gelassen. Sie wusste nicht ob sie ihm jemals verzeihen könnte. Ob sie ihm jemals verzeihen wollte. Sie hatte ihm jegliche Chance gelassen um alles zu erklären. Um sich zu entschuldigen, doch er hatte nichts gesagt und sie einfach gehen lassen. Es war seine Schuld. Sie brauchte sich dafür keinerlei Schuld zu geben. Sie hatte alles richtig gemacht, oder? Jetzt machte sie sich auch noch Vorwürfe. Was sollte das? Er war doch schlieÃlich gegangen.
Sie seufzte und versuchte ihre Tränen zu unterdrücken. Wieder einmal wurde ihr klar, dass es endgültig vorbei war. Es holte sie ein. Immer wieder. Immer, wenn sie sich andere Gedanken machen wollte, in den letzten Tagen kam sie doch dazu zurück. Es war wie ein Fluch. Musste sie sich denn dauernd daran erinnern, dass er sie so sehr verletzt hatte? Hatte sie das verdient?
In Gedanken versunken bekam sie nicht mit wie sich ihr langsam eine Person näherte und neben ihrem Platz stehen blieb. Sie rührte sich nicht. Alles war ihr nun gleichgültig. Doch dann riss sie die Stimme, die sie hörte, aus ihren Gedanken zurück.
„Hey...“
Rory schaute auf. Da stand er. Er stand wirklich vor ihr. Sie konnte es nicht glauben. Er war noch hier. Stand da vor ihr und sie konnte kein Wort über ihre Lippen bringen. Ihn nicht beschimpfen, nicht verurteilen.
„Kann... kann ich mich setzen?“, fragte er und deutete mit dem Finger auf den Sitz neben Rory. Diese nickte nur stumm und nahm den Rucksack, den sie vorher auf dem Sitz abgestellt hatte, herunter. Dann fiel ihr Blick wieder ins Leere. Jess nahm neben ihr Platz und stellte den Seesack, den er bei sich hatte neben sich auf den Gang.
Der Bus fuhr weiter. Und Rory lehnte ihre Stirn wieder an das kalte Glas des Fensters. Sie wollte ihn nicht ansehen. Ihm nicht in die Augen schauen. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Er saà neben ihr im Begriff wegzugehen und sie konnte nichts sagen. Sie wollte ihn aufhalten aber sie konnte es nicht. Was würde es jetzt für einen Sinn machen mit ihm darüber zu reden? Er war doch schon dabei zu verschwinden. Das hier war alles nur ein Zufall. Ironie des Schicksals. Sie starrte weiterhin aus dem Fenster und versuchte sich auf die vorbeischnellenden Bäume zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Er saà neben ihr. Sie konnte ihn spüren, auch wenn sie ihn nicht berührte. Es tat weh zu wissen, dass er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt saà und doch so weit weg war. Im Begriff war sie alleine zu lassen.
„Ich wollte nicht, dass du das mitbekommst.“ Sie hörte die Worte aus seinem Mund aber nahm sie nur schwach wahr. Was wollte er jetzt noch? Es war doch vorbei.
„Es tut mir leid.“ Er atmete schwer. Es war nicht leicht für ihn, das ihr zu sagen. Sie wusste, dass es nicht leicht war. Jess war nie ein Mann der groÃen Worte gewesen. Dennoch wollte sie es nicht hören. Nicht jetzt. Nicht aus seinem Mund. Warum war er nicht schon längst weg gewesen? Warum musste er genau den Bus nehmen mit dem sie auch fuhr? Warum hatte sie ausgerechnet heute eine Stunde später?
„Rory...?“
Sollte sie sich jetzt von ihm verabschieden.? War das der Grund warum er sich neben sie gesetzt hatte? Sie wollte sich nicht verabschieden. Wollte nicht zugeben, dass es vorbei war.
„Du gehst...“, flüsterte sie gegen das Fenster und ihr warmer Atem hinterlieà einen weiÃen Beschlag auf der Scheibe.
„Ja..“, hauchte er und starrte geradeaus.
„Ok...ich werde dich nicht aufhalten.“ Ihre Stimme zitterte und ihr war klar, dass er das hörte. Aber immer noch starrte sie aus dem Fenster. War nicht fähig ihn anzusehen, während sie diese Worte sprach. Sie weinte, aber sie wurde sich dessen erst bewusst als eine Träne auf ihre Hand fiel. Ob er das mitbekam? Ob er sich bewusst war wie sehr er sie verletzte indem er sie alleine lieÃ? Sie konnte es sich schwer vorstellen. Nein nicht Jess.
„Es ist nicht wegen dir...“, begann er.
„Wen interessiert das. Du gehst. Es ist ok.“, meinte sie gleichgültig. Sie wollte gleichgültig klingen. Nicht vor ihm zugeben, dass er sie verletzte. Dass nichts mehr so sein würde wie früher, wenn er geht. Das alles keinen Sinn mehr hatte.
„Es ist nicht ok...und ich weià das.“ Sie konnte seinen Blick spüren. Wie er sie mit seinen Augen durchbohrte und wartete, dass sie etwas sagen würde. Was sollte sie sagen? Keine Verabschiedung, Jess, keine Verabschiedung.
„Ich gehe zu meinem Vater. Ich denke... ich denke ... du solltest es wissen...“ Er atmete tief durch, wandte seinen Blick aber nicht von ihr ab. Sie spürte es genau. „Luke weià nichts davon... ich bin einfach gegangen...“
Rory nickte und ihre Stirn klopfte an die Scheibe. Bitte sag nicht Lebewohl. Bitte. Noch zwei Stationen dann müsste sie aussteigen. Ob er sie aufhalten würde? Ob sie die Kraft haben würde ihn hier sitzen zu lassen? Ihn gehen zu lassen?
„Okay... “, hauchte sie. Tränen liefen ihr nun über die Wangen und sie wischte sie mit ihrer Hand weg. Er sollte es nicht mitbekommen.
Noch eine Station. Eine Station zwischen ihrem Leben mit ihm und dem Leben ohne ihn. Beide schwiegen. Beide wussten, dass es vorbei war. Dass nichts mehr ungeschehen gemacht werden konnte. Jess hatte seine Entscheidung getroffen. Rory konnte diese nicht akzeptieren aber auch nichts daran ändern. Was sollte sie tun? Ihn bitten zu bleiben? Sie riss sich zusammen und sah endlich auf, wandte sich um und sah ihn an. Seine Miene war starr. Keinerlei Regung in seinem Gesicht verriet etwas über seine Gedanken. Seine Gefühle.
„Was wäre...“, begann sie und schaute ihm dabei tief in die Augen „...was wäre wenn ich ... wenn ich dich bitten würde...“ Doch weiter kam sie nicht.
„Es würde nichts ändern...“ Die Worte trafen sie wie eine Faust ins Gesicht. Ihre letzte Hoffnung war erloschen. Zu Asche geworden. Verglüht. Sie nickte stumm. Es war vorbei.
Der Bus hielt an ihrer Station. Sie erhob sich und griff nach dem Rucksack zu ihren FüÃen. Ohne den Blick von seinem abzuwenden schob sie sich an ihm vorbei auf den Gang hinaus und schulterte ihren Rucksack. Bitte keine Abschiedsworte. Sie wollte es nicht hören. Stattdessen bückte sie sich, griff nach seiner Hand.
„Viel Glück...“, murmelte sie. Es waren keine Abschiedsworte. Es waren Worte für einen neuen Anfang. Einen neuen Anfang für ihn. Einen neuen Anfang für sie.
Sie bückte sich weiter hinunter und lehnte ihre Stirn an seine. Er schloss die Augen. Sie auch.
„Ich wünsch dir viel Glück...“, wiederholte sie leise und drückte seine Hand fester. Es war soweit. Langsam erhob sie sich wieder und schritt langsam rückwärts den Gang zur Tür herunter. SchlieÃlich lieà sie auch seine Hand los, die sie bis zur letzten Sekunde gehalten hatte. Er blickte ihr hinterher. Im klaren, dass es das letzte Mal sein würde, dass er sie sehen würde. Sie hob die Hand zum Abschied. Er nickte nur stumm. SchlieÃlich drehte sie sich zur Tür um und öffnete sie, trat hinaus, hinaus in ein neues Leben. Ein Leben ohne ihn. Sie hörte noch wie sich der Bus in Bewegung setzte. Wie er die Strasse hinunterfuhr. Mit dem Jungen, der sie verlassen hatte. Mit dem Jungen, den sie liebte.
~ENDE~