Hallo ihr!
Freut mich, dass doch noch ein paar FB gegeben haben. Ich weiÃ, der Prolog ist ziemlich kurz und nicht besonders aufschlussreich, dafür gibt es jetzt den neuen Teil, damit ihr euch ein besseres Bild machen könnt.
Für jemanden, der von zu Hause weglief â gewissermaÃen -, machte sie alles verkehrt. Rory Hayden schaute stirnrunzelnd auf den groÃen Koffer neben sich. Selbst ohne Handgepäck wäre der Koffer ein Klotz am Bein gewesen. Wie die berühmte Eisenkugel mit der Kette dran, dachte sie. Andere junge Leute in ihrem Alter gingen durch den Busbahnhof und hatten das gesamte Gepäck in dicken Rucksäcken verstaut. Und da war noch was â sie musste dringend auf die Toilette. Wahrscheinlich passte der Koffer gar nicht in eine dieser Kabinen, aber einfach hier lassen konnte sie ihn auch nicht.
Sie schaute hinter sich und fing den Blick einer älteren Frau auf. Aber âaltâ durfte man ja nicht mehr sagen. âSeniorenâ war der korrekte Ausdruck. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte. Weshalb hatten die Leute Angst, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen? Ihr Vater war auch so einer. Warum sagte er: âNachdem du zu mir gekommen bist.â Warum konnte er nicht sagen: âNachdem wir deine Mutter verloren haben und ich das Sorgerecht für dich übernommen habeâ, oder noch deutlicher: âNachdem deine Mutter gestorben istâ, wenn er überhaupt davon sprach? Es war, als dächte er, solange man nicht direkt darüber spricht, kann man so tun, als sei es nicht geschehen.
Die Frau lächelte sie an. Vielleicht kann ich sie bitten, auf meinen Koffer aufzupassen, dachte Rory. Zu Gigi sagte Sherry immer: âWenn du verloren gehst, such dir eine Frau, die aussieht wie eine GroÃmutter und bitte sie um Hilfe.â
Allerdings musste man in Busbahnhöfen sehr vorsichtig sein, mit wem man redete. An solchen Orten wimmelte es nur so von seltsamen Typen â menschlichen Kakerlaken, die aus den Mauerritzen krochen, um sich auf junge AusreiÃer zu stürzen. Sie boten dir ein Bett und ihre Freundschaft an, aber jeder wusste, dass das nichts anderes hieà als Drogen und Prostitution. Rory verstand, warum AusreiÃer darauf hereinfielen. Sie kamen sich vor wie vergessene Gepäckstücke, die nur darauf warteten, abgeholt zu werden. Sie stellte sich die Kakerlaken als Zigarre rauchende Typen in schreiend bunten Jacketts vor, aber das stimmte nicht. Sie tarnten sich als ganz normale Menschen, um jeden, der naiv genug war, ihnen zu glauben, leichter in ihre Fänge zu kriegen. Aber als GroÃmütter würden sie sich sicher nicht verkleiden.
âLächeln, Roryâ, hatte Sherry immer zu ihr gesagt, als sie noch so klein war, dass sie sich hinter ihr oder ihrem Vater verstecken konnte.
âAuch wenn du dich unsicher fühlst, ein Lächeln kann nicht schaden.â
Rory erwiderte das Lächeln der Frau.
âFür mich ist das immer das Schlimmste an einer Reiseâ, sagte die Frau. âDas Schlangestehen. Im Busbahnhof oder auf dem Flugplatz, überall ist es dasselbe.â
Rory lächelte wieder. Das Eis war gebrochen.
Plötzlich kam Rorys Stiefmutter über den Bahnhofsplatz auf sie zugelaufen, Gigi dicht auf den Fersen.
Rorys Erleichterung verwandelte sich rasch in Unbehagen. Der Abschied von der Kleinen war ihr am schwersten gefallen. Jetzt hatte sie es noch einmal vor sich, und sie hasste es, in der Ãffentlichkeit die Beherrschung zu verlieren.
âIch musste noch bei der Bank vorbeiâ, keuchte Sherry. âGott sei Dank sind wir noch rechtzeitig gekommen.â
Wozu? dachte Rory. Um mich zum Umkehren zu überreden? Doch daraus würde nichts werden. Rory war sechzehn. Sie hatte ein Recht darauf, die engsten Verwandten und Freunde ihrer Mutter kennen zu lernen. Wenn ihr Dad das nicht akzeptieren konnte, war das eben Pech für ihn.
Sie hatte erwartet, dass er nachgeben würde â dass er zumindest mit ihr zum Bahnhof kommen würde, um sicher zu sein, dass alles klappte, und es nicht Sherry überlieÃ, die sich gewöhnlich aus Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrem Vater heraushielt. Nicht dass es jemals so ernst gewesen wäre wie jetzt. Normalerweise war er nicht so unvernünftig. Er nahm sich viel Zeit, ihr seinen Standpunkt darzulegen, und lieà sie dann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Wenn sie es sich recht überlegte, war sie am Ende oft seiner Meinung. Diesmal allerdings nicht.
Sherry kramte in ihrer Tasche und zog ein paar Scheine aus ihrem Geldbeutel.
âHier nimmâ, sagte sie.
âIch brauche nichts, dankeâ, sagte Rory und reckte das Kinn vor. âIch habe selber Geld.
âEs ist nicht viel. Und du brauchst es ja nicht auszugeben, du Dickkopf. Es ist für den Notfall.â
Diskutieren hatte keinen Zweck. Sie nahm das Geld.
Gigi schlang ihre Arme um Rorys Bein.
âIch hänge mich an dich, damit du nicht weggehen kannst.â
Sie schaffte es, dass Rory wieder einen Kloà im Hals spürte.
âWas ist los mit dirâ, fragte sie. âEs ist schlieÃlich nicht das Ende der Welt. Ich besuche nur für zwei oder drei Wochen meine GroÃeltern. Du gehst doch auch gerne zu deinem Grandpa und deiner Grandma.â
âWarum kann ich nicht mitkommen? Du darfst zu meiner Grandma auch immer mitâ, fragte Gigi.
âFür diesen Ausflug bist du noch zu klein.â
âWarum war Dad so sauer auf dich?â
âHör auf, Rory zu nerven, Gigiâ, warnte Sherry. Dann senkte sie die Stimme.
âBist du dir deiner Sache ganz sicher, Rory? Du tust es doch nicht nur, um dein Gesicht zu wahren, weil Christopher gesagt hat, du darfst nicht gehen? Er liebt dich, Rory, und auch wenn es die Eltern deiner Mutter sind, weiÃt du doch nichts über diese Leute.â
âUnd wer ist schuld daran?â, fragte Rory. âEr!â
Allein der Gedanke daran machte sie immer noch wütend. Nur weil ihre Mutter gestorben war, hieà das doch nicht, dass die ganze Familie tot war. Bis zu ihrem 16. Geburtstag hatte ihr Vater sie in dem Glauben gelassen, dass die Verbindung abgebrochen und sie ihnen egal sei. Dann hatte er ihr die Briefe von ihrer Grandma Emily Gilmore gegeben. Briefe, die er ihr jahrelang vorenthalten hatte.
âSherry, die Briefe von meiner Grandma klangen völlig normal. Sie hat nicht versucht Dad schlecht zu machen oder so. Sie hat ihn nicht einmal erwähnt.â â Meine Mutter im Ãbrigen auch nicht, erinnerte sich Rory. Sie schrieb nur von sich und Richard und was sie getan hatten â fast wie eine Brieffreundin. Nur dass sie, dank ihres Vaters, nie die Gelegenheit gehabt hatte, darauf zu antworten.
âIch muss es tunâ, sagte sie. âWenn irgendjemand mir sagen kann, was mit meiner Mutter wirklich geschehen ist, dann sind das meine GroÃeltern. Ich will sie kennen lernen.â
Den anderen Grund wollte sie nicht nennen, den Grund, mit dem sie sich in Gedanken ständig beschäftigte: Sie hatte keinerlei Erinnerung an ihre Mutter. Weder wie sie aussah, noch was sie früher zusammen getan hatten. Sie wusste absolut gar nichts mehr. Die Erklärung ihres Vaters, dass viele Leute sich nicht mehr an ihre frühe Kindheit erinnern konnten, traf einfach nicht zu. Die Erinnerungen waren da, irgendwo, weggeschlossen. Da war sie ganz sicher. Sonst hätte sie doch nicht ständig diesen Albtraum, der sie verfolgte, aber nichts erklärte. Es musste einen Grund geben für diese geistige Blockade, und vielleicht kannten ihn ihre GroÃeltern.
âOkay, Rory, ich sehe schon, dass du dich nicht mehr davon abbringen lässtâ, sagte Sherry. âAber denk dran, ich bin für dich da, falls es Probleme geben sollte und du damit nicht zu Chris gehen willst.â
Die Fürsorge von Sherry trieb Rory fast Tränen in die Augen. Deshalb machte sie einen Scherz daraus.
âKönntest du dann, wenn du schon da bist, auf mein Gepäck aufpassen, damit ich aufs Klo gehen kann? Ich muss ganz dringend.â
Sherry nickte und Rory verschwand auf der Toilette.
Rory betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel, während sie die Hände wusch und wartete, dass sie im Luftstrom der Maschine trockneten. Weshalb war ihr Vater so dagegen, dass sie ging? Warum hatte er nicht gewollt, dass sie mit ihren GroÃeltern Kontakt hatte?
Als sie zurückkam, hatte sich die Schlange, die für den Bus nach Hartford anstand, ein Stück weiterbewegt und mit ihr Sherry, Gigi und der Koffer.
Als Rory Gigi umarmte, hätte sie fast wieder losgeheult. Zum Glück verlangte der Fahrer die Fahrscheine und sie hatte keine Zeit zum Weinen. In der Hoffnung, dass ihr Vater sich doch noch sehen lassen würde, suchte sie sich einen Fensterplatz und starrte hinaus. Wie ungern sie im Streit wegfuhr. Sie liebte ihn trotz allem. Wenn er nur sagen würde, dass es ihm Leid tue, dann könnte sie es auch. Aber nach Hartford würde sie trotzdem fahren.
Die ältere Dame, die hinter Rory in der Schlange gewartet hatte, setzte sich neben sie und holte etwas aus ihrer groÃen Tasche.
âEs ein bisschen bequemer zu haben kann nicht schadenâ, sagte sie und fing an ein Kissen aufzublasen.
âEs wird eine lange Fahrt. Ich bleibe zwei Tage bei Freunden in Hartford, dann gehtâs weiter nach New York zu meinem neuen Enkelsohn.â
Nur ungern wandte Rory sich vom Fenster ab. Aber ihr Vater würde jetzt sicher nicht mehr kommen. Der Fahrer saà bereits hinter dem Steuer und bereitete alles für die Abfahrt vor. Ãber das Brummen des Motors hinweg gab er per Mikrofon ein paar Informationen bezüglich Toiletten und Zwischenstopps. DrauÃen schlugen Metalltüren und Männer riefen sich etwas zu. Die Bremsen des Busses zischten und der Fahrer fuhr rückwärts aus der Haltestelle.
âWie weit fährst du?â, erkundigte sich die Frau.
âBis Hartford. Meine GroÃeltern wohnen dort.â
Sherry und Gigi liefen neben dem Bus her und hielten nach ihr Ausschau. Rory winkte mit beiden Händen, doch die beiden konnten sie nicht sehen. Die Scheiben waren verspiegelt, sodass man von drauÃen nicht herein sehen konnte.
Enttäuscht lehnte Rory sich zurück und betrachtete die vorbeiziehenden Läden und die hohen, gläsernen Bürogebäude von Boston. Sie vom Bus aus zu betrachten war seltsam. Sie hatten nichts Vertrautes mehr, schienen zu einer fremden Stadt zu gehören.
Mit welchen Gefühlen sie wohl zurückkommen würde? Ob sie dieselbe sein würde oder eine andere? Was genau würde sie herausgefunden haben?
Wie sie auch aussieht, die Wahrheit zu kennen ist immer besser, sagte Rory sich nachdrücklich. Vielleicht konnte sie dann etwas gegen den schrecklichen Albtraum tun, anstatt immer nur Spekulationen anzustellen, was wohl dahinter steckte. Und hinter den Panikattacken, die sie in letzter Zeit befielen.
Sie schloss die Augen und lieà den Kopf zurückfallen. Warum erinnere ich mich nicht an meine Mutter? Bin ich irgendwie schuld an ihrem Todâ¦? Ist es vielleicht das, was Dad mit zu verheimlichen versuchtâ¦?
What happened?
Schau doch mal vorbei