Als sie wieder zu sich kommt, ist es vorbei, in ihrer rechten Hand steckt eine Kanüle, eine durchsichtige Flüssigkeit tropft hindurch, sie tastet mit der Linken nach ihrem Bauch, der sich nur noch kaum merklich wölbt. Ihre Brüste schmerzen, zwei nasse Flecken zeichnen sich auf dem Stoff des Hemdes ab, matt richtet sie sich auf, setzt die nackten FüÃe auf den Boden, sie geben nach, nur mühsam kann sie sich abstützen. Die Tür öffnet sich, eine Schwester kommt herein, tadelt sie ob ihrer Unvernunft. âMiss Johnson! Also wirklich, wie kann man nur so unvernünftig sein. Legen sie sich wieder hinâ, sie greift ihr unter die Arme. âNachdem sie zwei Tage lang wie weggetreten waren, können sie wohl kaum erwarten gleich wieder wie ein junges Fohlen herumzutollen.â
Emily fällt zurück in die Kissen⦠zwei Tage. âWas ist passiert?â, fragt sie, krächzt, ist ganz heiser.
âWas wohl? Sie sind Mutter gewordenâ, entgegnet die Schwester fröhlich, der unbesorgte Klang ihrer Stimme treibt ihr Tränen in die Augen, unbegründet die Angst. âNa, na, wer wird denn weinen, lachen sollten sieâ, ermahnt die Unbekannte sie. âEin Mädchen, kerngesund, sieben Pfund, kein Wunder, dass die Geburt kein Spaziergang war, aber sie haben es jetzt ja überstanden, alle beideâ, sie tätschelt ihr die Hand, fährt fort, Emily saugt jedes Wort in sich auf, so wie ein ausgetrockneter Acker das Regenwasser. âEine kleine Schönheit haben sie da, Babys haben zwar meistens blaue Augen, aber so was hab ich auch noch nicht gesehen, wie gemalt sehen die aus. Und Lungen hat die Kleine, schreit das ganze Hospital zusammen, da werden sie noch viel Freude dran habenâ, ein Zwinkern und Emily lacht unter Tränen, wischt sie beiseite.
âIch will sie sehenâ, verlangt sie, alles andere ist vergessen.
âGleich, der Doktor wird sie erst noch untersuchenâ, sie reguliert den Tropf, lächelt Emily aufmunternd zu. âEinen hübschen Namen haben sie da ausgesucht, Lorelai, wie bei einer Prinzessin.â
Verwirrt sieht Emily auf, sie hat nicht, nein, Richard und sie hatten sich auf einen anderen Namen geeinigt, dutzende Briefseiten darauf verwendet einen passenden Namen zu finden, Victoria bei einem Mädchen, nicht Lorelai. Lorelai, schieÃt es ihr durch den Kopf, natürlich.
âIst Mrs. Gilmore hier?â, erkundigt sie sich so beherrscht wie möglich.
âAber ja.â Aber ja, ja, natürlich, selbstverständlich, wo sollte sie auch sonst sein, sie beiÃt sich auf die Lippen. Richard sollte hier sein, denkt sie wie so oft, er, nicht seine Mutter. Richard. Gott, wo bist du, was tust du, weiÃt du, dass wir eine Tochter haben? Nein, wie solltest du auch. Doch sicherlich, Lorelai hat ihn benachrichtigt, sie hat alles in die Hände genommen, sie wird ihm ein Telegramm geschickt haben, irgendwohin, in diesen elenden Dschungel, in dem sie alle der Reihe nach sterben, die einen wie die anderen.
Ein Arzt kommt herein, sie lässt die Untersuchung ungeduldig über sich ergehen. âSehr schönâ, sagt er schlieÃlich, ordnet der Schwester etwas an. âGegen den Milchstauâ, erklärt er, âEs könnte sonst unangenehm werden.â
Das ist es schon, sie hat das Gefühl ihre Brüste würden jeden Moment bersten, sie will das Kind sehen, es in den Arm nehmen, anlegen, verlangt erneut nach ihrer Tochter, Richards Tochter, nach Victoria, nach Lorelai, ist es nicht egal wie sie heiÃt? (âSolange Richard die Vaterschaft nicht offiziell anerkannt hat, solange ihr nicht verheiratet seit, solange wird das Kind Johnson heiÃen. Wenigstens ihr Vorname soll verraten, dass sie eine Gilmore istâ, werden Lorelai Gilmores Worte sein, in diesem Punkt duldet sie keinerlei Diskussion, Emily wird nachgeben.)
âSie wird noch gestillt, aber sobald die Amme fertig ist, werden wir sie zu ihnen bringen.â
Es reicht, sie ist endgültig wütend, lässt ihrem Ãrger freien Lauf, die Schwester weicht erschrocken zurück, sieht den Arzt fragend an, der nickt und sie verlässt das Zimmer mit deutlicher Erleichterung, kehrt nach wenigen Minuten zurück, einen schreienden Säugling im Arm, reicht in seiner Mutter.
Emily nimmt die Kleine vorsichtig entgegen, sie zittert ein wenig, spürt den feinen Flaum an der Kopfhaut ihrer Tochter, eine winzige Hand die sich um ihren Finger schlieÃt. Die Augen erinnern sie schmerzlich an Richard, sie entzieht dem Kind ihren Finger, streicht ihm mit der freigewordenen Hand über die Wange, das Weinen wird schwächer. Das Neugeborene greift nach einer ihrer Brüste, ein Schwall Milch schieÃt hervor, sie beeilt sich das Nachthemd aufzuknöpfen, der kleine Mund findet automatisch sein Ziel, beginnt begierig zu saugen.
Ein seltsames Gefühl, denkt Emily, hält sie fest, will sie nie wieder loslassen, überwältigt von dem was vor sich geht. Sie kann nicht glauben, dass dieses kleine Wesen in ihrem Arm tatsächlich in ihr herangewachsen ist, ihre Tochter sein soll, hätte es niemals für möglich gehalten sich so unglaublich glücklich zu fühlen. âVictoriaâ, flüstert sie, âMeine süÃe, kleine Victoria, du weiÃt wer ich bin, oder? Ich bin deine Mom, natürlich weiÃt du es.â
Als wolle sie die Worte bestätigen, greift sie nach dem Gesicht ihrer Mutter, lässt ihre Hand dort ruhen, bis sie irgendwann zufrieden und satt einschläft, beruhigt durch die Nähe und Wärme Emilys. Schreien muss sie nicht mehr, sie hat ihren Platz gefunden, zumindest für den Augenblick, noch werden sie einander nicht wehtun, ist alles was sie verbindet Zufriedenheit und Liebe.
***
Sie kichert vergnügt, während sie durch die Luft gewirbelt wird, verlangt mit einem fröhlichen Quieken eine Zugabe und Emily lässt ihre Tochter erneut fliegen, bedeckt ihr Gesicht mit kleinen Küssen, hält plötzlich inne, als sie einen Blick auf ihrem Rücken liegen spürt. Sie dreht sich langsam um, das Kind fest an sich gepresst, schlieÃt die Augen als sie in das Gesicht Lorelai Gilmores blickt. Nein, denkt sie, Gott, nein, sag dass es nicht wahr ist. Sie haben seit Monaten nichts von ihm gehört, wissen nicht einmal, ob er weiÃ, dass er Vater geworden ist. Haben keine Auskunft erhalten, egal was sie versucht haben, egal welche Beziehungen sie haben spielen lassen, nichts, als wäre er vom Erdboden verschwunden, als wäre er â Nein. Sie weigert sich es zu denken, legt ihre Tochter vorsichtig zurück in ihr Bett, erntet Proteste, kniet sich nieder und drückt ihre Stirn gegen die feingeschnitzten Gitter aus Mahagoni, beginnt ihr sachte über den Bauch zu streicheln.
âSie schreiben, es täte ihnen leidâ, sagt Lorelai mit brüchiger Stimme. Tut es das wirklich? Eine leere Phrase, eine Lüge, ein weiterer Schlag in ihr Gesicht. âAber nach sorgfältigen Untersuchungenâ¦â, wie sorgfältig, wenn ihr mir noch nicht Mal seine Leiche nach Hause bringen könnt?
âIch will das nicht hörenâ, fällt Emily ihr ins Wort. Sie will nicht, kann nicht, würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, laut zu summen beginnen, tut es, in Gedanken.
âNach sorgfältigen Untersuchungen seitens der dafür zuständigen militärischen Einheit, müssen sie uns leider mitteilen, dass Richard Charles Gilmore für Ehre und Vaterland gefallen istâ, sie spürt wie sich Tränen einen Weg durch ihr Gesicht bahnen. âSie haben nicht einmal eine Leiche, nichts was wir begraben könnten. Nichtsâ, sie beginnt leise zu weinen, vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen, das weiÃe Blatt Papier schwebt zu Boden.
Emily blickt auf, wirkt seltsam gefasst, als wäre nichts geschehen, als hätte sie tatsächlich nichts gehört, steht auf. âIch wollte gerade mit Lorelai spazieren gehen, sie war heute noch nicht an der frischen Luftâ, sie hebt ihre Tochter hoch. âWenn du uns also bitte entschuldigen würdest.â
Fassungslos sieht Lorelai ihr hinterher, soviel Gefühlskälte hätte sie selbst von Emily nicht erwartet. Da hat sie sich um sie gekümmert, um sie und das Kind, ihre Enkeltochter, hat ihnen ein Zuhause gegeben, Kleidung, Nahrung, hat versucht sich mit ihr anzufreunden. Hat sogar langsam begonnen zu glauben, dass Emily tatsächlich eherne Gefühle für Richard hegt, nicht nur versucht ihren alten gesellschaftlichen Status wiederzuerlangen â aber diese Reaktion? Nein, bitte, sie hat sich täuschen lassen, sich genauso wie Richard einwickeln lassen. Richard, sie schluchzt auf, hebt den Brief wieder auf. Es tut uns leidâ¦. Leid, sie wissen nicht, haben doch gar keine Ahnung was das ist, Leid. Ihnen fehlt nur ein Soldat unter Hunderttausenden, ihr fehlt ihr einziges Kind. Alles was ihr bleibt ist die Erinnerung. Nein, nicht nur die Erinnerung, auch ihre Enkelin, Lorelai, sein Fleisch und Blut. Sie wird dem Kind eine anständige Erziehung zukommen lassen, es ist schlieÃlich eine Gilmore, trotz aller Widrigkeiten. Zugegeben, sie hatte anfangs ihre Zweifel, traute Emily nicht so ganz, tut es auch jetzt noch nicht, sie hat etwas an sich, das ihr bitter aufstöÃt, alleine diese völlig unpassende Rektion eben, aber das Kind. Sobald sie es das erste Mal gesehen hatte, wusste sie, sie hat eine Gilmore vor sich.
Sie ist Richard mittlerweile sogar ein wenig dankbar für seine Liaison, andererseits: Wenn er Pennilyn geheiratet hätte, wäre vieles einfacher. Es war schwer, vor ihren Freunden und Bekannten einzugestehen, dass das Mädchen, das sie bei sich aufgenommen hat, das sie Richards Freundin ist. Aber man weià ja wie das ist, hat sie versucht zu erklären, die jungen Leute heutzutage, in Anbetracht der Situation, da machen sie schon Mal Dummheiten. Und sie wollten ja heiraten, so ist es nicht, sind sogar verlobt. Nein, es gab keine offizielle Verlobung, Richard musste ja weg. Dass sie schwanger ist, hat sie selbstredend erst hinterher festgestellt, natürlich, sonst hätten sie sofort geheiratet, selbstverständlich. Aber sobald er wieder zurück ist, wird alles geregelt werden, in ordentliche Bahnen gelenkt. Zurück ist, er kommt nicht mehr. Nie wieder.
Sie zerknüllt den Brief, nur um ihn wieder auseinanderzufalten, glatt zu streichen. Es gibt viel zu tun, vieles zu erledigen. Eine Trauerfeier, ein Gedenkstein, sie muss zu einem Notar, die Erbfolge, Lorelai muss offiziell als ihre Enkeltochter anerkannt werden, auch ohne Heirat ihrer Eltern, es gibt mittlerweile Möglichkeiten, Tests, das Geld muss in dieser Linie der Familie bleiben. Gott bewahre, wenn es nach ihrem Tod an Charles Bruder fällt, oder seine idiotische Tochter. Ein guter Stammbaum alleine ist eben keine Garantie für Anstand und gutes Benehmen, man sieht es an Marilyn. Und Emily.
âOh Charlesâ, seufzt sie, âWenn du nur wüsstest, was für einen Schlamassel dein Sohn da angerichtet hat.â Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen, sie weiÃ, aber Fakten sind Fakten. Zum Glück hat sie einen Einfluss auf die Dinge, es wird ihr schon gelingen alles wenigstens einigermaÃen ins Lot zu bringen. Ihr wäre es allerdings lieber, Richard würde es selbst tun. Könnte es selbst tun.
***
Es ist noch früh, zu früh für Besucher, lediglich eine Gruppe Kunststudenten steht in einem der Zimmer, angestrengt bemüht ein Bild von Rembrandt zu kopieren. Auch ein paar Rentner sind hier, wandern zwischen den Gemälden auf und ab, wundern sich über sie, ein kleines Kind hat in einem Museum nichts zu suchen, es könnte Lärm machen, schreien, die andächtige Stille zerstören. Aber das tut es nicht, mit groÃen Augen betrachtet es die vielen bunten Farben, nur manchmal, wenn ihr etwas besonders gefällt, zeigt sie darauf, benützt ihren - für ihr Alter beträchtlichen - Wortschatz, um ihrer Mutter mitzuteilen, was sie denkt.
Hört auch zu, lauscht dem was Emily ihr mit gedämpfter Stimme erzählt, obwohl sie nur wenig davon versteht, aber das ist egal, es gefällt ihr hier. Deshalb hält sich an die Anweisung nicht zu laut zu werden, brav zu sein, nur einmal hat sie einem der Wächter die Zunge herausgestreckt. Emily hat sie streng angesehen, tadelnd ihren Namen geflüstert und sie hat genickt, feierlich, ihren Kopf im Mantel ihrer Mutter vergraben, zu dem Wächter geschielt, die Nase gerümpft.
Jetzt sitzt sie ein wenig verloren und ungeduldig auf einer der Besucherbänke, beobachtet wie ihre Mutter sich mit einem Mann unterhält. Sie kennt ihn, er war schon oft zu Besuch, er ist nett, bringt ihr immer Schokolade mit. Und eine Puppe hat er ihr geschenkt, mit blonden Locken und einer roten Schleife im Haar, zu ihrem dritten Geburtstag, sie haben sie Clara getauft. Aber jetzt mag sie ihn weniger, weil er schon zu lange mit ihrer Mom redet, ihr wird langsam langweilig, sie überlegt, ob sie den Wächter suchen soll und ihm noch mal die Zunge rausstrecken, er ist ganz rot angelaufen, das war lustig.
Emily wirft ihrer Tochter einen Blick zu, geradeso als ob sie wüsste, dass sie etwas ausheckt, sie weià es, Lorelai bekommt dann immer diesen speziellen Gesichtsausdruck. Beruhigt stellt sie fest, dass die Kleine mittlerweile eine Beschäftigung gefunden hat, versucht ihren Schnürsenkel zu binden, dabei beinahe vorne über kippt, ihre Stirn gerunzelt, als müsste sie eine schwierige Operation vornehmen, während sie die zwei schwarzen Bänder hin und her schiebt, umeinander wickelt, sie manchmal mit ihrem Haar verheddert, es ihr nicht gelingen will eine Schleife zustande zu bringen. Emily entschuldigt sich und geht zu ihr, nimmt ihr die Arbeit ab. âSiehst du, Engelchenâ, demonstrativ langsam bindet sie den Schnürsenkel zusammen. âSo geht das, hast du gesehen?â. Lorelai nickt. âSehr schönâ, sie streicht ihr über die Wange. âIch bin gleich fertig, in Ordnung?â
âMmhâ, sie schiebt die Unterlippe vor, zum Zeichen, das gleich auch hoffentlich gleich bedeutet.
âFünf Minutenâ, sagt Emily, geht zurück zu dem Mann, beginnt wieder leise mit ihm zu sprechen, er legt seine Hand auf ihren Arm.
âDu glaubst gar nicht wie sehr ich mich freue, dass du dich endlich entschieden hastâ, flüstert er. Freue? Meine Güte, das ist gar kein Ausdruck, endlich, endlich, er hat sie soweit, bald wird sie ihm gehören, bald wird er sie aus ihrem Kleid schälen, bei der Vorstellung ihres nackten Körpers jagt ein wohliger Schauer über seinen Rücken. âHast du es schon Lorelai gesagt?â, erkundigt er sich.
âWelcher?â, sie lacht, nur ganz leise, es ist kein ehrliches Lachen, gespieltes Amüsement, holt schlieÃlich tief Luft. âNein, ich weià offen gestanden nicht wie. Sie wird es nicht verstehen.â Wird sie nicht, wie sollte sie auch, ihr Mann ist vor über zwanzig Jahren gestorben, sie hat sich nie einen anderen gesucht. Das hat sie auch nicht, aber William ist ein lieber Kerl, er hat Recht, wenn er sagt, dass es das Vernünftigste sei. Lorelai braucht einen Vater und sie â sie will nicht den Rest ihres Lebens an der Seite dieser alten Frau verbringen, dafür ist sie zu jung. Sie sieht ihr Gegenüber an, mustert ihn genau. Sie weiÃ, dass er in sie verliebt ist, seit Jahren, erinnert sich an ihr erstes Gespräch in dieser verschneiten Winternacht. Sie haben sich angefreundet, vielleicht denkt sie, vielleicht hätte ich damals irgendwann seinem Drängen nachgegeben, wenn Richard nicht gewesen wäre. William wird ihr ein guter Ehemann sein, sie haben eine gute Basis, er ist in sie verliebt, sie mag ihn, mag ihn sogar sehr, wird vermutlich lernen ihn zu lieben, ist fest entschlossen es zu tun. Deshalb wollte sie es ihm hier sagen, sie hat diesen auÃergewöhnlichen Treffpunkt mit Bedacht gewählt, hier war sie mit Richard, hier hat erst alles richtig angefangen, hier soll es auch aufhören, endgültig. Sie schiebt den Gedanken an ihn zur Seite, weit weg, vergräbt ihn dort wo sie es immer tut, in einer dunkeln Kammer ihres Gehirns, die sie nie betritt, weil sie sich zu sehr vor diesem Raum fürchtet, den Gefahren die in ihm lauern. Sie kann es sich nicht gestatten, sich im Selbstmitleid zu suhlen, sie hat eine Tochter, sie muss sich mit aller Kraft darauf konzentrieren ihr eine gute Mutter zu sein, will nichts mehr als ihr eine gute Mutter zu sein. âIch fürchte ich muss jetzt gehen, bevor Lorelai auf dumme Gedanken kommtâ, sie ringt sich noch ein Lächeln ab, reicht William die Hand. âWir sehen uns.â
âDas will ich doch hoffenâ, erwidert er, drückt ihre Hand sanft, beugt sich nach vorne, will versuchen wie weit er schon gehen kann, berührt mit seinen Lippen die ihren. Wie weich sie sind, denkt er, wie süÃ, er teilt sie vorsichtig mit seiner Zunge, sie wendet den Kopf zur Seite, eilt zu ihrer Tochter, die laut nach ihr gerufen hat.
***
Also doch, denkt sie, sie hat es ja gewusst, geahnt. War immer dagegen, dass dieser Kerl so oft zu Besuch kommt. Sie ist schlieÃlich nicht blind, hat gesehen, wie er Emily angestarrt hat, um sie herumgeschlichen ist, wie ein Tiger um seine Beute, Gier in den Augen und Verderbtheit. Jetzt hat er zugeschlagen, seine Zähne in sie gekrallt. Nicht nur in sie, auch in ihre Enkeltochter. Sie kann es nicht zulassen, niemals, wird sich dagegenstellen, es mit allen Mitteln zu verhindern wissen. âDu wirst diesen Mann nicht heiratenâ, sagt sie daher, befiehlt es.
âDas werde ich, Lorelaiâ, sie will es schnell hinter sich bringen, schnell und schmerzlos. Sie hat lange genug gebraucht William ihr Ja-Wort zu geben, will keine Zeit mehr verlieren, hat Angst er könnte es sich anders überlegen, sie könnte es sich anders überlegen. âDaran kannst du nichts ändern. Du hast keinerlei Recht dich in mein Leben einzumischen.â
Gott, wie berechnend diese Frau klingt, wie kalt, immer diese hochmütige Miene, gerade sie, die keinen Anlass dafür hat, auf der StraÃe säÃe, wenn sie sich ihrer nicht angenommen hätte. âAch nein? Wer hat sich denn um dich und die Kleine gekümmert? Sie ist meine Enkeltochter, ich habe sehr wohl ein Recht mich in ihre Anbelange einzumischen, dafür zu sorgen, dass sie wohlbehütet aufwächst.â Bei mir aufwächst, sie hat schon zu viele Eigenschaften von dir übernommen, ist genauso bockig und stur, wenn sie jetzt auch noch meinen guten Einfluss verliert â sie will diesen Gedanken gar nicht zu Ende führen.
Emily ahnt, worauf sie hinaus will, einer der Gründe, die ständige Einmischung und MaÃregelung, Entscheidungen über ihren Kopf hinweg gefällt. âWilliam wird Lorelai ein guter Vater sein, er wird mir ein guter Ehemann sein.â
âDu solltest dich hören, Emily. Kalt, kalt und egoistisch. Hast du auch nur eine einzelne Träne um Richard vergossen? Nein, er war dir egal, alles woran du denkst, bist du selbst!â
Sie schnappt nach Luft, beiÃt die Zähne zusammen. âEr ist tot, Lorelai. Richard ist tot! Zu weinen, macht ihn auch nicht wieder lebendig. Es macht ihn nicht wieder lebendig, wenn seine Tochter ohne Vater aufwächst!â Zum ersten Mal hat sie es ausgesprochen, glaubt an ihren eigenen Worten ersticken zu müssen, sie fühlen sich so falsch an, sind so wahr. Nichts macht ihn wieder lebendig, nichts, es hilft nicht zu weinen, zu schreien. Sie muss weitermachen, wenn schon nicht für sich selbst, dann für Lorelai. Sie kommt langsam in das Alter in dem sie Fragen stellt, nicht mehr nur nach der Beschaffenheit von Gras und Schnee, oder weshalb Vögel fliegen können und sie nicht, nein, andere Fragen, ernste, Fragen auf die sie keine Antwort hat, die sie gar nicht beantworten will.
âRichard ist auch ohne Vater aufgewachsen, es gibt viele Kinder die das tun, jede Menge Frauen, die sich nicht gleich dem nächst Besten an den Hals werfenâ, ihre Stimme ist laut, sie schreit beinahe, ist wütend. âWarum hast du dir überhaupt solange Zeit gelassen? Ihr wart schlieÃlich nicht verheiratetâ, herausfordernd sieht sie Emily an.
âDu sagst es, wir waren nicht verheiratet, woher sollte ich mir da also das Recht nehmen, mich wie seine Witwe zu benehmen!?! Ich war nur seine Geliebteâ, ihre Worte hallen durch den Raum, in ihrem Kopf, sie genieÃt die Reaktion Lorelais, will noch tiefer graben, ihr ins Gesicht schreien, der Heuchelei ein Ende bereiten, endlich die Wahrheit sagen. âGott, ich war es gerne, denn dein Sohn hat mir Achtung entgegengebracht, er wusste, wie er mich nehmen muss und er hat es getan. Sehr oft sogar. Und weiÃt du was? Es hat mir Spaà gemacht.â
Ein empörtes Zischen entweicht Lorelei, wie kann sie es wagen so zu reden, in ihrer Gegenwart, von ihrem Sohn! âEin billiges Flittchen, bist du, nichts weiter, eine dreckige kleine Hure.â
Lorelais Hand klatscht gegen ihre Wange, mit einer Kraft, die sie ihr niemals zugetraut hätte, hinterlässt ein scharfes Brennen, Blut steigt in ihr Gesicht. âDie deines Sohnesâ, entgegnet sie kühl und geht, schluckt die Wut und die Tränen herunter. Nicht wegen ihr, denkt sie, nicht wegen ihr, geht und schlieÃt die Tür endgültig hinter sich, wirft den Schlüssel weit weg.
Auch Lorelai Gilmore wird einen Schlussstrich ziehen, ihre Koffer packen, ihr Hab und Gut in Ãberseekisten verstauen und am 8. April 1971 ein Schiff Richtung England besteigen, dem Tag an dem William Farnsworth, Besitzer eines der gröÃten Lebensmittelkonzerne der Vereinigten Staaten, Hauptlieferant der U.S. Army, seine Verlobung mit Emily Johnson bekannt gibt, dem Tag an dem Richard Milhous Nixon den Rückzug von hunderttausend Soldaten aus Vietnam bekannt gibt.
To be continued
ATN: Voilà , das war Kapitel Zwei. Demnächst auch auf ihrem Board: Kapitel Drei. Riska