[Riska]

Sie vergräbt sich tief in den Sessel, ihr Blick schweift umher. Bilder toter Menschen an den Wänden, Bücher toter Menschen in den Regalen, totes Holz in Form überteuerter, antiker Möbel, der Mief jahrzehntelanger Schultradition hängt in der Luft. Sie fragt sich, was sie hier inmitten all dieser alten Sachen soll. Wieso sie hier sein muss und nicht Christopher. Wieso ihre Mutter dabei sein muss. Weshalb eine Peinlichkeit die Nächste jagt, es überhaupt kein Ende zu nehmen scheint.
Die Tür öffnet sich, Direktor Miller betritt sein Büro mit schweren Schritten. Emilys Kopf fährt herum und sie erhebt sich, bedeutet Lorelai mit einem Blick dasselbe zu tun. Man schüttelt sich die Hände, nimmt wieder Platz. Schweigt.
Miller nimmt eine Akte zur Hand und schlägt sie bedächtig auf, sieht seine Besucher an.
„Mrs. Gilmore, Lorelai. Was verschafft mir die Ehre ihres Besuches?“, sein tiefer Bass durchschneidet die Luft, sie zuckt zusammen und wickelt ihre Hände um ihren Pullover, sieht zu ihrer Mutter. Wünschte sie müsste nicht hier sein. Gott, sie will hier weg. Millers Blick verrät, dass er es schon weiß. Verrät, dass er es auch offiziell bestätigt wissen will.
„Nun“, Emily lächelt, richtet sich kerzengerade auf, kommt ohne Umschweife zur Sache. Zur Sache, welch passende Bezeichnung. „Ich denke es führt kein Weg daran vorbei, dass wir, ich, sie über die Tatsache informieren muss, dass Lorelai ein Kind erwartet.“
Ein Kind erwartet, nun, endlich Mal eine Variation. Als ihr Vater seine Mutter über die familieninterne Katastrophe informierte, benutzte er doch tatsächlich die Bezeichnung „guter Hoffnung“. Guter Hoffnung, eher guter Gesprächsthemata, schlechter Laune. Hoffnung kann sie jedenfalls im Moment nicht ausmachen, weder bei sich selbst, noch bei irgendjemandem in ihrer Umgebung.
„So, so“, lautet die unglaublich aussagekräftige Reaktion Millers. Er lächelt, ein fettes, falsches Lächeln breitet sich in seinem roten Gesicht aus. „Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke sehr“, die Antwort, das Lächeln ebenso falsch, nur dass Emily diese Taktik weitaus besser beherrscht. Danke sehr. Wenn es nicht zum heulen wäre, müsste sie jetzt lachen. Vielen Dank, Christopher, ich danke dir wirklich von Herzen, dass du meine minderjährige Tochter geschwängert hast. Bei dieser Vorstellung kann sich Lorelai ein Grinsen wirklich nicht verkneifen, ruft sich jedoch sofort wieder zu Ordnung.
„Ja, danke sehr“, sagt auch sie, verschluckt ihr Lachen, versucht stattdessen respektvoll zu wirken.
Miller ist sichtlich irritiert, nickt. „Tja, so überaus, ähm, erfreulich diese Nachricht auch ist“, ein nervöses Lachen, weshalb ist er nervös? Und erfreulich? Ist der Mann komplett bescheuert? „So leid tut es mir auch, eine unserer besten Schülerinnen zu verlieren.“
Wusste sie es doch, sie werfen sie raus. Lorelai überlegt, ob sie etwas entgegnen soll, doch ihre Mutter kommt ihr zuvor.
„Verlieren?“, es ist keine Frage, gleicht mehr einem amüsierten Konter, der Ton ist dennoch scharf. „Weshalb sollten sie eine hervorragende Schülerin verlieren, Direktor Miller? Lorelai wird selbstverständlich ihren Abschluss machen. Dafür ist noch genügend Zeit.“
„Genügend Zeit?“, verblüfft klingt er. Erstaunt darüber, dass sein Gegenüber den Ernst der Lage nicht zu begreifen scheint.
„Der Geburtstermin ist erst im Oktober –„
„Mom!“, ruft sie entsetzt aus, doch ihr Einspruch wird ignoriert.
„- und da die Prüfungen im Juli sind, sehe ich absolut keinen Grund, weshalb Lorelai nicht daran teilnehmen sollte. Sie etwa?“
Die Farbe weicht aus seinem Gesicht, das falsche Grinsen ebenso. „Mrs. Gilmore, ich will ehrlich sein. Kingswood kann es unmöglich einer schwangeren Schülerin gestatten, am Unterricht teilzunehmen. Was würde das denn für ein Bild auf uns werfen?“
„Es ist mir völlig gleichgültig was für ein Bild es auf die Schule wirft. Meine Tochter wird ihren High School-Abschluss machen. Und zwar diesen Sommer und an dieser Schule.“
„Hören sie –“
„Nein, Direktor Miller, sie hören mir zu.“ Lorelai ist mehr als nur erstaunt, ihrer Mutter schneidet niemandem das Wort ab, zeugt es doch von schlechter Erziehung. Nun, es sei denn es handelt sich um Verkäufer, Dienstmädchen oder sie selbst.
„Mein Mann und ich haben ihrer Institution stets großzügige Spenden zukommen lassen, ohne uns würden die Kinder vermutlich noch immer in dieser abbruchreifen Turnhalle herumtollen oder Bücher aus dem vorigen Jahrhundert verwenden. Sie werden Lorelai also ihren Abschluss machen lassen, haben wir uns verstanden?“ Ihre Worte klingen wie eine Drohung, obwohl sie sie im sanften Plauderton ausspricht. Und sie gelten ausnahmsweise nicht Lorelai. Emily scheint kurzfristig ein neues Opfer gefunden zu haben, auch wenn Direktor Miller sich noch nicht damit abfinden will.
„Es tut mir leid, aber das ist nicht möglich.“
„Alles ist möglich“, ihre Augen glitzern gefährlich, Millers hingegen vor Verzweiflung.
Das Letzte womit er gerechnet hat, ist Widerstand. Normalerweise verschwinden schwangere Schülerinnen in der Versenkung, werden ohne Angaben von Gründen von der Schule genommen, eine nette Reise nach Europa, eine überstürzte Hochzeit. Was sollen sie auch noch mit einem Schulabschluss? Keine Familie hatte bisher das Bedürfnis, die missliche Situation ihrer Töchter auch noch öffentlich zur Schau zu stellen. Schon gar nicht an seiner Schule! „Mrs. Gilmore. Kingswood ist eine ehrbare Inst –“
„Warte draußen, Lorelai“, ihre Stimme duldet keinen Widerspruch, aber geht sie das nicht genauso an? Betrifft es sie nicht sogar noch mehr? Als Einzige?
„Mom, es geht hier um mich!“, entgegnet sie also mit gewisser Empörung, kommt der erneuten Aufforderung dennoch nach, da Emily sie mit einer derartigen Autorität verkündet, dass selbst sie sich ihr nur beugen kann.

Sie setzt sich im Flur auf eine der harten Holzbänke und wartet. Kann beim besten Willen nicht begreifen, weshalb ihre Mutter derart hartnäckig ist. Sie selbst legt jedenfalls keinen Wert darauf weiterhin auf eine Schule zu gehen, die sie offensichtlicher nicht ablehnen könnte. Hat keine Lust sich jeden Tag dem Gespött und den Spitzen ihrer versnobten Mitschüler auszusetzen, den geringschätzigen Blicken der Lehrer, den zweideutigen Aufforderungen der Jungs. Emily wird sowieso keinen Erfolg haben, Miller wird es niemals dulden, dass ein verdorbenes Subjekt wie sie auch nur einen Fuß in die heiligen Hallen Kingswoods setzt. Sie kann den Abschluss doch jederzeit nachholen, wo liegt das Problem?
„Du solltest jetzt in deine Klasse gehen, Lorelai“, sie schrickt auf, ihre Kinnlade klappt nach unten, sie ist zu verblüfft, um etwas zu erwidern.
„Da diese Angelegenheit deinen Vater und mich ein kleines Vermögen kostet, erwarte ich zudem, dass sich dein Notenspiegel wieder anhebt“, fährt Emily wie selbstverständlich fort. So als wäre nichts geschehen, als hätte Lorelai lediglich wegen einer Grippe einige Schulstunden verpasst. Noten, wie kann sie jetzt nur daran denken!?!
„Ich bin Klassenbeste, Mom!“, protestiert sie. Natürlich, denkt sie, mit Geld ist eben doch alles möglich. Selbst ein konservativer Dinosaurier wie Miller bekommt bei der Aussicht auf einen Batzen Geld feuchte Hände. Und wie sie ihre Mutter kennt, hat sie sich vermutlich nicht lumpen lassen. Ein kleines Vermögen. Wie viel ihr wohl der High School-Abschluss ihrer Tochter wert ist?
„In allen Fächern?“, erwidert Emily schnippisch, knöpft ihren Mantel zu, lässt Lorelai dabei keinen Augenblick aus den Augen.
„Aber –“, setzt sie halbherzig an, kann noch immer nicht glauben, dass Kingswood es einer Schwangeren erlaubt am Unterricht teilzunehmen.
„Keine Widerrede, junge Dame. Du wirst in Zukunft sowieso mehr als genügend Zeit zum lernen haben.“
„Soll das etwa heißen ich habe Hausarrest?“
„Genau das“, lautet die unerbittliche Antwort. „Oh, und bevor ich es vergesse. Zwing uns nicht auch noch Geld für ein Eisengitter vor deinem Fenster auszugeben, haben wir uns verstanden, Lorelai?“
Herrlich, Hausarrest, legt die Sünderin in Ketten. Sie beißt sich auf die Zunge, würde am liebsten laut aufstampfen. „Ja“, grummelt sie, stöhnt als sie den kritischen Blick ihrer Mutter bemerkt. „Ja doch“, wiederholt sie mit einem zuckersüßen Lächeln.
„Geh jetzt in den Unterricht.“
Es ist kein Befehl, mehr eine Bitte, dennoch: Tu dies, tu das, renn im Kreis und schlag deinen Kopf gegen die Wand. „Gott, warum schickt ihr mich nicht gleich ins Kloster?“
„Dafür ist es zu spät, fürchte ich.“
„Schon klar, ich bin das schwarze Schaf der Familie.“
„So bockig wie du dich benimmst, könnte man tatsächlich meinen, du wärst eines. Und jetzt geh, um Gottes Willen, du hast schon genug Ärger am Hals, da musst du dich nicht auch noch verspäten!“
„Ich habe meine Schuluniform nicht an“, ein schlechtes Argument, sie weiß, Kugeln für das Gewehr ihrer Mutter.
„Die ist dir sowieso zu eng. Ich werde dir eine Neue besorgen müssen.“
Bingo, Volltreffer. „Gott“, zischt sie, steht auf. Besser in den Unterricht, als sich noch eine weitere Minute die unterschwelligen Vorwürfe ihrer Mutter anhören zu müssen.
„Lorelai“, hält Emily sie zurück.
Sie hält inne, dreht sich um. „Was?“
„Du bist eine Gilmore, also verhalte dich auch dementsprechend. Zeig Haltung.“
„Sehr witzig, Mutter, wirklich.“
„Das war kein Scherz, Lorelai. Eine Schwangerschaft ist kein Grund sich inferior zu verhalten. Im Gegenteil, alles was dir helfen wird, ist eine gewisse Würde an den Tag zu legen.“
„Würde“, murmelt sie, schnaubt. Voll guter Hoffnung und Würde, ein toller Titel für einen Film. In der Hauptrolle: Lorelai Victoria Gilmore, schwangerer Teenager, gefallene Tochter.
„Du wirst Mutter, Lorelai. Und du solltest dich dementsprechend verhalten.“
Lorelai zieht eine unglückliche Schnute. Mutter. Sie weiß nicht wie sie das sein soll. Steht oft stundenlang vor dem Spiegel und betrachtet ihren Bauch. Diese immer größer werdende Kugel, die ein Kind beherbergen soll. Ihr Kind. Christophers.
„Dein Hemd“, Emily zieht den Kragen zurecht, der unter Lorelais weitem Pullover hervorragt, streicht ihn sorgfältig glatt, lächelt ein wenig hilflos. „Geh jetzt.“
Sie will nicht, will nach Hause, sich in ihrem Bett verkriechen. Was nützen ihr Tangenten und Algorithmen, wenn sie sich demnächst nur noch mit Windeln und Babybrei beschäftigen wird? „Kann ich den Unterricht nicht wenigstens heute ausfallen lassen?“
„Das würde auch nichts ändern, Lorelai“, sie streicht ihr über die Wange, flüchtig nur, trotzdem fühlt sich Lorelai für diesen Moment versucht, ihr einfach um den Hals zu fallen. Doch Emily geht, lässt sie einfach so stehen. Sie sieht ihr hinterher, wartet bis das Klackern ihrer Absätze verklungen ist. Überlegt, ob sie nicht einfach auch gehen soll, schwänzen. Nein, beschließt sie schließlich. Sie wird Würde zeigen. Aber nicht für ihre Mutter oder sonst wen, sondern für sich selbst. Für das Baby. Ihr Baby.

To be continued.

ATN: … Feedback ist nicht zwingend nötig, wird aber immer wieder gerne gesehen Riska.