21.03.2005, 17:06
Sie starrt an die Decke, schmutziges WeiÃ, durchtränkt von schwarzen und braunen Stockflecken, schmuddelig und alt. Schäbig, wie das ganze Zimmer, schäbig wie sie selbst. So kommt sie sich zumindest vor. Sie richtet sich langsam auf, zieht die dünne Decke fest um ihren nackten Körper und steht auf. Der Linoleumboden fühlt sich kühl unter ihren FuÃsohlen an, als sie zu einem der zwei schmalen Fenster geht und den vergilbten Vorhang zur Seite schiebt, hinausspäht. Die Bäume tragen schon wieder dichtes Laub, Blätter in allen Farben, dabei wurde es doch eben erst Sommer.
Innere Unruhe erfasst sie plötzlich, ein unerklärliches Kribbeln, so als hätte sie vergessen etwas Wichtiges zu erledigen. Aber da ist nichts, nichts als dieses ekelhafte Gefühl der Scham. In wie vielen Filmen, fragt sie sich, treffen sich die Geliebten mit dem verheirateten Mann in einem Motel? Wie oft passiert es im tatsächlichen Leben?
Sie dreht sich um, lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Wie oft in diesem Zimmer? In diesem Bett? Für einen kurzen Moment hat sie groÃe Lust hier alles kurz und klein zu schlagen, die Stühle zu zertrümmern, die Vasen zu zerschmettern, die Matratze aus ihren Angeln zu heben, schiebt diese aufkeimende Regung allerdings sofort wieder zur Seite, atmet stattdessen tief ein.
Bildet sie es sich nur ein oder liegt sein Duft tatsächlich noch in der Luft? Nein, beschlieÃt sie, es ist das Aroma hunderter Männer, hunderter Frauen, der Duft von Putzmitteln und Waschpulvern, der sich vermischt. Der Geruch schlechten Gewissens und SchweiÃes. Der Geruch nach Müdigkeit und Sex. Der Geruch eines ordinären Motelzimmers.
Träge tapst sie in das kleine Badezimmer, lässt die Wanne mit Wasser vollaufen, jedoch nicht, ohne sie vorher mit etwas Seife und einem feuchten Handtuch gesäubert zu haben. Als das Wasser in einem klaren Strahl einläuft, schüttet sie gleich mehrere Packungen der ausgelegten Bademilch hinzu und es bilden sich riesige Berge weiÃen Schaums. Erst als sich die lockere Schaumdecke bereits über dem Rand erstreckt, dreht sie das Wasser wieder ab und lässt die Bettdecke zu Boden gleiten, gleitet selbst in das heiÃe Wasser. Sie zuckt zusammen, es ist zu heiÃ, viel zu heiÃ, ein Prickeln breitet sich auf ihrer Haut aus. Trotzdem lässt sie ihren Körper gänzlich in der Wanne verschwinden, etwas Wasser schwappt dabei plätschernd auf den gekachelten Boden. Sie lehnt ihren Kopf gegen den kühlen Rand der Wanne und schlieÃt die Augen, presst ein Ohr gegen das Porzellan, lauscht dem unheimlich anmutenden Gluckern des Wassers, das sich mit dem lauten Pochen ihres Herzens vermischt. Taucht schlieÃlich auch ihren Kopf unter Wasser, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren gesellt sich zu den anderen Geräuschen.
âDeanâ, formen ihre Lippen unter Wasser, es hört sich seltsam an, Luftblasen steigen dabei nach oben. Sie wiederholt die Prozedur, wiederholt sie, bis ihre Lungen brennen, nach Atemluft ächzen, sie hastig aufsteigt und gierig den Sauerstoff einatmet, sich wieder keuchend zurück lehnt. âDeanâ, sagt sie erneut, ganz leise nur, trotzdem - das Wort prallt an den schmucklosen Wänden ab, hallt durch den leeren Raum. Dean, denkt sie auch. Ich liebe dich, Dean. Liebe ich dich? Wenn du hier bist, wenn du bei mir bist, dann tue ich es. Bin ich mir sicher es zu tun. Doch sobald du den Raum verlässt, bin ich froh, dass du weg bist. Ebenso, wie ich froh bin, wenn du den Raum betrittst. Froh und glücklich, ausgelassen, kindisch und gierig. Gierig nach deinen Küssen, deinen Berührungen. Geborgen in deinen Armen, einfach so dazuliegen und zu schweigen. Ein Schweigen, das nichts Unangenehmes hat. Im Gegenteil, schweigen zu können und sich dabei wohl zu fühlen, ist das nicht das Höchste?
Sie beginnt nach dem Schaum zu greifen, schiebt ihn nach rechts und links, nimmt ihn auf, pustet ihn von ihrer Handfläche aus in die warme Luft, kleine, weiÃe Flocken, die zurück in die Wanne sinken. Schweigen. Das ist es. Es ist das Problem. Nein, nicht das Schweigen, nicht zu schweigen. Zu reden, das ist es. Mit ihm zu reden ist das eigentliche Problem. Der Grund, weshalb sie sich beim ersten Mal von ihm getrennt hat. Sie haben geredet ja, über Zwischenthemen, Themen die beide ein wenig interessierten. Doch sobald Dean anfing zu erzählen, begeistert anfing zu erzählen von den Dingen, die ihn interessierten, die ihn beschäftigten, wenn er davon erzählt hat, dann hat sie immer nur mit einem halben Ohr zugehört. Freundlich genickt und gelächelt, hin und wieder ein zustimmendes Brummen von sich gegeben, angestrengt versucht sich für das Thema zu interessieren, doch gelungen ist es ihr nie. So sehr sie sich bemüht hat, sie hat nie wirklichen Zugang dazu gefunden, Zugang zu Dingen wie Sport und Technik.
Und auch Dean, er hat sich bemüht, hat die Bücher gelesen, die sie ihm empfohlen hat, sich die CDs angehört, die sie aufgelegt hat â aber wahres Interesse, wahren Gefallen daran, hat er nie entwickelt. Sie haben beide nahezu krampfhaft versucht es zu tun, aber gelungen ist es ihnen nicht wirklich.
Seltsam, schieÃt es ihr durch den Kopf. Das was mir bei Dean fehlte, hatte ich bei Jess. Das was mir bei Jess fehlte, hatte ich bei Dean. Verstand und Gefühl. Sie schmunzelt, die gute Jane Austen hat wieder mal Recht behalten. Man bracht beides, nur wenn sowohl Verstand, als auch Gefühl gleichermaÃen reagieren, kann es funktionieren.
âNicht genugâ, flüstert sie, dieses Mal so leise, dass es sofort wieder dumpf verklingt. Nicht genug, sich hin und wieder zu sehen. Auf die paar Stunden und Minuten hinzuleben, es reicht nicht. Niemals wird es das tun. Nicht genug, sich mit einem von beiden zufrieden zu geben. Liebe. Es muss doch mehr geben. Mehr als nur Geborgenheit, mehr als bedingungsloses Vertrauen, mehr als fiebrige Küsse, mehr als ein gemeinsames Lachen, gemeinsame Interessen. Irgendwo, irgendwo muss es das alles doch auch zusammen geben, zusammenflieÃen in einer einzigen Person.
Und wenn nicht? Was wenn nicht, Rory?, mahnt sie sich selbst. Was, wenn du dein Leben lang einer Illusion nachjagen wirst, wenn du eines Tages aufwachst, alt und einsam, aufwachst und feststellst, dass du einfach zuviel erwartet hast von diesem einfachen Wort, von diesen zwei Silben, diesen verfickten fünf Buchstaben. Von der Liebe.
Mit einer Hand fährt sie sich durch das nasse Haar, während sie mit der anderen nach dem Wasserhahn tastet, noch etwas heiÃes Wasser einlassen will, sie liegt bereits zu lange hier, die ehemals angenehm warme Flüssigkeit hat sich abgekühlt, ihre Haut ist schon ganz verschrumpelt, kleine Falten an ihren Fingern und Zehen. Aber sie will noch nicht aufstehen, will weiter hier liegen, umgeben vom warmen Wasser. Warm, von wegen, sie schaudert, als der Wasserstrahl sich immer kälter in die Wanne ergieÃt. Ein leerer Boiler, fantastisch. Ein tiefes, missmutiges Gurren entschlüpft ihrer Kehle und sie greift nach einem der Handtücher auf der Ablage, steht währenddessen auf. Der Schaum und einzelne Wassertropfen gleiten langsam ihren Körper hinab, als sie aus der Wanne steigt, das Badetuch um sich wickelt und über den beschlagenen Spiegel streicht.
Obwohl die gläserne Fläche sich sofort wieder leicht beschlägt, erkennt sie doch ihr Gesicht darin. Die blauen Augen, ihre gerade geschwungenen Augenbrauen, die schmale, beinahe aristokratisch wirkende Nase, das nasse, schulterlange Haar, das in feuchten Strähnen in ihrem Nacken klebt. Sie erkennt dieses Gesicht. Aber kennt sie es? Kennt sie es noch? Nun, natürlich, die Gesichtzüge, es sind dieselben wie immer, älter vielleicht, schmaler. Aber die Person dahinter, diejenige, die sich in den Augen spiegelt â kennt sie sie? Sie müsste sie kennen, es ist doch sie, Lorelai Leigh Gilmore. Aber sie weià momentan nicht mehr, wer das eigentlich ist.
Ohne sich eines weitern Blickes zu würdigen, hastet sie zurück in das Schlafzimmer, greift nach ihren Klamotten, zieht sich an, ohne sich abzutrocknen. Der Stoff klebt unangenehm an ihrer feuchten Haut, als sie sich ihre Tasche schnappt, aus dem Raum stürmt, mit nassem Haar über die kleine Parkanlage zu ihrem Wagen sprintet. Sie sitzt schon beinahe darin, als sie plötzlich innehält, ihr diese Belanglosigkeit durch den Kopf schieÃt. Hat er bezahlt? Hat er das Zimmer bezahlt? Vierzig Dollar die Nacht, ob sie wohl auch Stundenpreise haben? Seufzend steigt sie wieder aus, macht sich auf den Weg zur Rezeption. Er hat nicht. Natürlich nicht. Toms Anruf kam unerwartet, wie hätte er da noch die Zeit haben sollen? Er musste schlieÃlich schnell auf irgendeine der Baustellen.
Nervös kramt sie ihr Portemonnaie hervor, ahnt, dass sie keine vierzig Dollar dabei hat â und so ist es, dreiundzwanzig Dollar siebenundachtzig Cent, zählt sie nach und fühlt wie ihr Blut in die Wangen schieÃt.
Sie ringt sich ein Lächeln ab, entschuldigt sich bei der alten Dame an der Rezeption, geht in eine kleine Ecke des Raumes und kramt ihr Handy hervor. Wen? Wen rufe ich jetzt an? Mom? Nein, nicht so, nicht von einem Motel aus. Aber wen dann? Wen? Wen? Wen? Dean!?!? Ihn anrufen und eingestehen, dass sie nicht in der Lage ist, dieses verfluchte Zimmer zu zahlen? Eher noch ihre Mutter! Wen dann? Wen? Paris, schieÃt es ihr durch den Kopf. Natürlich! Paris! Eilig wählt sie die Nummer, hängt sofort verärgert wieder auf⦠the number youâve called, is temporarily not available. Lane, ihre nächster Gedanke, natürlich, Lane. Ein weitere Tastendruck, das piepsende Geräusch, als die Nummer gewählt wird. Und wieder nichts, es klingelt, aber niemand geht an das Telefon, die WG ihrer besten Freundin scheint leergefegt zu sein. Ein Handy, denkt sie, zu deinem nächsten Geburtstag werde ich dir eines schenken.
Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, hängt dabei auf, während die Panik in ihr wächst. Es gibt niemanden mehr, keinen, den sie noch um Hilfe bitten könnte. Keinen, bei dem sie sicher gehen kann, dass es kein Drama nach sich ziehen wird.
Ich hätte die verfluchte Rechnung prellen sollen, aber nein, ich musste ja ehrlich sein. Wen? Wen? Wen? Wen um alles in der Welt kann ich jetzt noch anrufen? Dad? Nein, nicht ihn, er würde es Mom erzählen. Jeder andere, jeder in Stars Hollow â niemals, die Nachricht würde wie ein Feuer die Runde machen. Obwohl? Luke?
Hallo!?!, ruft sie sich in Erinnerung. Luke? Der neue Freund deiner Mutter? Er würde zwar nichts sagen, aber wenn es doch herauskommt, wenn Lorelai erfahren würde, dass er ihr das verschwiegen hat â ein wiederholtes Niemals! Sie kann sich ein leises Lachen nicht verkneifen, als ihr ihre GroÃeltern durch den Kopf schieÃen. Natürlich. Richard und Emily Gilmore in einem Motel, eine herrliche Vorstellung.
Die Frau an der Rezeption wird langsam unruhig, ihre Finger trommeln ungeduldig auf dem hölzernen Tresen. âMiss?â, ruft sie laut und ungeduldig, eine erste Warnung.
âIchâ, setzte Rory an, setzt ihr strahlendstes Lächeln auf, geht zurück zum Empfang. âÃhm, ich habe momentan leider nicht genügend Bargeld bei mir.â
âWas ist mit Kreditkarte?â, lautet die barsche Antwort.
âIch habe leider keineâ, gibt sie zerknirscht zu. âAber eine Bankkarte. Ich habe meine Bankkarte dabeiâ, fällt ihr ein. âIch werde nur kurz zum nächsten Automaten gehen und etwas Geld abheben. Ich bin auch sofort wieder da, ehrlich!â
âNicht ohne ein Pfand, meine Liebeâ, die Furchen auf der Stirn der Alten vertiefen sich, es ist klar zu erkennen, dass sie Rory nicht traut.
âKlar. Ein Pfandâ, sie kramt ihren Autoschlüssel hervor, legt ihn auf den Tresen. âMein Wagen. Er steht auf dem Parkplatz, der kleine Italiener.â
âKayâ, brummt die Alte, reiÃt den Schlüssel an sich. âAber wenn du in ner halben Stunde nich wieder auftauchst, hast du Pech gehabt.â
Ohne zu zögern stimmt sie zu, rennt geradezu aus dem Motel, es ist ihr peinlich, unendlich peinlich. Im Laufschritt nähert sie sich dem Platz, an dem sie das Ortszentrum vermutet, eine Bank, ein Automat, eine zwanzig Dollarnote auf dem Boden, nur schnell. Keuchend biegt sie um eine Ecke, findet sich im nächsten Moment auf dem Asphalt wieder, reibt sich schmerzerfüllt den SteiÃ. âAuaâ, murmelt sie, sieht auf, erkennt den Grund für ihre Bruchlandung und sämtliches Blut scheint in ihr Gesicht zu strömen, ihre Wangen beginnen zu glühen, während sich der Rest ihres Körpers eisig anfühlt. Ausgerechnet, denkt sie, vermutlich der einzige Polizist im ganzen Ort und ich muss mit ihm zusammenstoÃen.
Trotzdem ergreift sie dankbar seine Hand, lässt sich von ihm nach oben ziehen. âWohin denn so eilig, junge Dame?â, erkundigt sich der uniformierte Mann.
âIch, ähm, Geld, Geldautomatâ, beginnt sie zu stottern. âIch brauche Geld. Für, für das Zimmer. Im Motel. Es ist, und dann musste er weg und ich, und die Rechnung undâ, sie verdreht die Augen, atmet scharf ein. âTut mir leidâ, sagt sie zerknirscht.
âKeine Ursache, über eine so hübsche Lady stolpere ich doch gerne.â Erleichtert stellt Rory fest, dass er freundlich klingt, ärgert sich über ihre übertriebene Reaktion. Es ist doch völlig egal, ob du gegen einen Polizist oder einen Telefonmast läufst, egal, du hast nichts getan, um Gottes Willen, benimm dich endlich wieder halbwegs normal. âDie nächste rechtsâ, fährt der Polizist fort und deutet auf eine StraÃe.
Sie braucht einen Moment, um zu begreifen, wovon er spricht. âOh, dankeâ, murmelt sie schlieÃlich, schiebt ihr nasses Haar hinter die Ohren, nickt ihm zu und geht weiter, langsam dieses Mal.
Sie hebt das Geld ab, bezahlt das Zimmer, gibt ein groÃzügiges Trinkgeld und fährt zurück nach Yale. Dort legt sie sich in ihr Bett, zieht sich die Decke über den Kopf und schlieÃt die Augen. Es muss aufhören, denkt sie, es muss aufhören, sonst läufst du das nächste Mal vor ein fahrendes Auto. Aber was muss aufhören? Er hat es doch getan, er hat sich von Lindsay getrennt, ist zurück zu seinen Eltern gezogen, aber sich gemeinsam in der Ãffentlichkeit blicken lassen? In Stars Hollow? Unmöglich.
Dieses Versteckspiel zerrt an ihren Nerven, ihr schlechtes Gewissen ist schon zu einer chronischen Krankheit geworden, die keinen Platz für anderes lässt, alleine die letzte Stunde hat es wieder gezeigt. Scham und Schuld, alles wovon sie sich hat leiten lassen. Sie muss mit Dean reden, sie müssen die Karten endlich offen auf den Tisch legen, alles andere macht keinen Sinn mehr. Sie spürt, wie sie von einer Welle der Erschöpfung und des Selbstmitleids erfasst wird, wie sich der Kloà in ihrem Hals löst, sich löst, während ihr Tränen über das Gesicht laufen.
Irgendwann schläft sie ein, ein traumloser Schlaf, aber als sie wieder aufwacht, fühlt sie sich besser, kann endlich wieder klar denken. Weià plötzlich ganz genau, was sie zu tun hat.
Innere Unruhe erfasst sie plötzlich, ein unerklärliches Kribbeln, so als hätte sie vergessen etwas Wichtiges zu erledigen. Aber da ist nichts, nichts als dieses ekelhafte Gefühl der Scham. In wie vielen Filmen, fragt sie sich, treffen sich die Geliebten mit dem verheirateten Mann in einem Motel? Wie oft passiert es im tatsächlichen Leben?
Sie dreht sich um, lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Wie oft in diesem Zimmer? In diesem Bett? Für einen kurzen Moment hat sie groÃe Lust hier alles kurz und klein zu schlagen, die Stühle zu zertrümmern, die Vasen zu zerschmettern, die Matratze aus ihren Angeln zu heben, schiebt diese aufkeimende Regung allerdings sofort wieder zur Seite, atmet stattdessen tief ein.
Bildet sie es sich nur ein oder liegt sein Duft tatsächlich noch in der Luft? Nein, beschlieÃt sie, es ist das Aroma hunderter Männer, hunderter Frauen, der Duft von Putzmitteln und Waschpulvern, der sich vermischt. Der Geruch schlechten Gewissens und SchweiÃes. Der Geruch nach Müdigkeit und Sex. Der Geruch eines ordinären Motelzimmers.
Träge tapst sie in das kleine Badezimmer, lässt die Wanne mit Wasser vollaufen, jedoch nicht, ohne sie vorher mit etwas Seife und einem feuchten Handtuch gesäubert zu haben. Als das Wasser in einem klaren Strahl einläuft, schüttet sie gleich mehrere Packungen der ausgelegten Bademilch hinzu und es bilden sich riesige Berge weiÃen Schaums. Erst als sich die lockere Schaumdecke bereits über dem Rand erstreckt, dreht sie das Wasser wieder ab und lässt die Bettdecke zu Boden gleiten, gleitet selbst in das heiÃe Wasser. Sie zuckt zusammen, es ist zu heiÃ, viel zu heiÃ, ein Prickeln breitet sich auf ihrer Haut aus. Trotzdem lässt sie ihren Körper gänzlich in der Wanne verschwinden, etwas Wasser schwappt dabei plätschernd auf den gekachelten Boden. Sie lehnt ihren Kopf gegen den kühlen Rand der Wanne und schlieÃt die Augen, presst ein Ohr gegen das Porzellan, lauscht dem unheimlich anmutenden Gluckern des Wassers, das sich mit dem lauten Pochen ihres Herzens vermischt. Taucht schlieÃlich auch ihren Kopf unter Wasser, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren gesellt sich zu den anderen Geräuschen.
âDeanâ, formen ihre Lippen unter Wasser, es hört sich seltsam an, Luftblasen steigen dabei nach oben. Sie wiederholt die Prozedur, wiederholt sie, bis ihre Lungen brennen, nach Atemluft ächzen, sie hastig aufsteigt und gierig den Sauerstoff einatmet, sich wieder keuchend zurück lehnt. âDeanâ, sagt sie erneut, ganz leise nur, trotzdem - das Wort prallt an den schmucklosen Wänden ab, hallt durch den leeren Raum. Dean, denkt sie auch. Ich liebe dich, Dean. Liebe ich dich? Wenn du hier bist, wenn du bei mir bist, dann tue ich es. Bin ich mir sicher es zu tun. Doch sobald du den Raum verlässt, bin ich froh, dass du weg bist. Ebenso, wie ich froh bin, wenn du den Raum betrittst. Froh und glücklich, ausgelassen, kindisch und gierig. Gierig nach deinen Küssen, deinen Berührungen. Geborgen in deinen Armen, einfach so dazuliegen und zu schweigen. Ein Schweigen, das nichts Unangenehmes hat. Im Gegenteil, schweigen zu können und sich dabei wohl zu fühlen, ist das nicht das Höchste?
Sie beginnt nach dem Schaum zu greifen, schiebt ihn nach rechts und links, nimmt ihn auf, pustet ihn von ihrer Handfläche aus in die warme Luft, kleine, weiÃe Flocken, die zurück in die Wanne sinken. Schweigen. Das ist es. Es ist das Problem. Nein, nicht das Schweigen, nicht zu schweigen. Zu reden, das ist es. Mit ihm zu reden ist das eigentliche Problem. Der Grund, weshalb sie sich beim ersten Mal von ihm getrennt hat. Sie haben geredet ja, über Zwischenthemen, Themen die beide ein wenig interessierten. Doch sobald Dean anfing zu erzählen, begeistert anfing zu erzählen von den Dingen, die ihn interessierten, die ihn beschäftigten, wenn er davon erzählt hat, dann hat sie immer nur mit einem halben Ohr zugehört. Freundlich genickt und gelächelt, hin und wieder ein zustimmendes Brummen von sich gegeben, angestrengt versucht sich für das Thema zu interessieren, doch gelungen ist es ihr nie. So sehr sie sich bemüht hat, sie hat nie wirklichen Zugang dazu gefunden, Zugang zu Dingen wie Sport und Technik.
Und auch Dean, er hat sich bemüht, hat die Bücher gelesen, die sie ihm empfohlen hat, sich die CDs angehört, die sie aufgelegt hat â aber wahres Interesse, wahren Gefallen daran, hat er nie entwickelt. Sie haben beide nahezu krampfhaft versucht es zu tun, aber gelungen ist es ihnen nicht wirklich.
Seltsam, schieÃt es ihr durch den Kopf. Das was mir bei Dean fehlte, hatte ich bei Jess. Das was mir bei Jess fehlte, hatte ich bei Dean. Verstand und Gefühl. Sie schmunzelt, die gute Jane Austen hat wieder mal Recht behalten. Man bracht beides, nur wenn sowohl Verstand, als auch Gefühl gleichermaÃen reagieren, kann es funktionieren.
âNicht genugâ, flüstert sie, dieses Mal so leise, dass es sofort wieder dumpf verklingt. Nicht genug, sich hin und wieder zu sehen. Auf die paar Stunden und Minuten hinzuleben, es reicht nicht. Niemals wird es das tun. Nicht genug, sich mit einem von beiden zufrieden zu geben. Liebe. Es muss doch mehr geben. Mehr als nur Geborgenheit, mehr als bedingungsloses Vertrauen, mehr als fiebrige Küsse, mehr als ein gemeinsames Lachen, gemeinsame Interessen. Irgendwo, irgendwo muss es das alles doch auch zusammen geben, zusammenflieÃen in einer einzigen Person.
Und wenn nicht? Was wenn nicht, Rory?, mahnt sie sich selbst. Was, wenn du dein Leben lang einer Illusion nachjagen wirst, wenn du eines Tages aufwachst, alt und einsam, aufwachst und feststellst, dass du einfach zuviel erwartet hast von diesem einfachen Wort, von diesen zwei Silben, diesen verfickten fünf Buchstaben. Von der Liebe.
Mit einer Hand fährt sie sich durch das nasse Haar, während sie mit der anderen nach dem Wasserhahn tastet, noch etwas heiÃes Wasser einlassen will, sie liegt bereits zu lange hier, die ehemals angenehm warme Flüssigkeit hat sich abgekühlt, ihre Haut ist schon ganz verschrumpelt, kleine Falten an ihren Fingern und Zehen. Aber sie will noch nicht aufstehen, will weiter hier liegen, umgeben vom warmen Wasser. Warm, von wegen, sie schaudert, als der Wasserstrahl sich immer kälter in die Wanne ergieÃt. Ein leerer Boiler, fantastisch. Ein tiefes, missmutiges Gurren entschlüpft ihrer Kehle und sie greift nach einem der Handtücher auf der Ablage, steht währenddessen auf. Der Schaum und einzelne Wassertropfen gleiten langsam ihren Körper hinab, als sie aus der Wanne steigt, das Badetuch um sich wickelt und über den beschlagenen Spiegel streicht.
Obwohl die gläserne Fläche sich sofort wieder leicht beschlägt, erkennt sie doch ihr Gesicht darin. Die blauen Augen, ihre gerade geschwungenen Augenbrauen, die schmale, beinahe aristokratisch wirkende Nase, das nasse, schulterlange Haar, das in feuchten Strähnen in ihrem Nacken klebt. Sie erkennt dieses Gesicht. Aber kennt sie es? Kennt sie es noch? Nun, natürlich, die Gesichtzüge, es sind dieselben wie immer, älter vielleicht, schmaler. Aber die Person dahinter, diejenige, die sich in den Augen spiegelt â kennt sie sie? Sie müsste sie kennen, es ist doch sie, Lorelai Leigh Gilmore. Aber sie weià momentan nicht mehr, wer das eigentlich ist.
Ohne sich eines weitern Blickes zu würdigen, hastet sie zurück in das Schlafzimmer, greift nach ihren Klamotten, zieht sich an, ohne sich abzutrocknen. Der Stoff klebt unangenehm an ihrer feuchten Haut, als sie sich ihre Tasche schnappt, aus dem Raum stürmt, mit nassem Haar über die kleine Parkanlage zu ihrem Wagen sprintet. Sie sitzt schon beinahe darin, als sie plötzlich innehält, ihr diese Belanglosigkeit durch den Kopf schieÃt. Hat er bezahlt? Hat er das Zimmer bezahlt? Vierzig Dollar die Nacht, ob sie wohl auch Stundenpreise haben? Seufzend steigt sie wieder aus, macht sich auf den Weg zur Rezeption. Er hat nicht. Natürlich nicht. Toms Anruf kam unerwartet, wie hätte er da noch die Zeit haben sollen? Er musste schlieÃlich schnell auf irgendeine der Baustellen.
Nervös kramt sie ihr Portemonnaie hervor, ahnt, dass sie keine vierzig Dollar dabei hat â und so ist es, dreiundzwanzig Dollar siebenundachtzig Cent, zählt sie nach und fühlt wie ihr Blut in die Wangen schieÃt.
Sie ringt sich ein Lächeln ab, entschuldigt sich bei der alten Dame an der Rezeption, geht in eine kleine Ecke des Raumes und kramt ihr Handy hervor. Wen? Wen rufe ich jetzt an? Mom? Nein, nicht so, nicht von einem Motel aus. Aber wen dann? Wen? Wen? Wen? Dean!?!? Ihn anrufen und eingestehen, dass sie nicht in der Lage ist, dieses verfluchte Zimmer zu zahlen? Eher noch ihre Mutter! Wen dann? Wen? Paris, schieÃt es ihr durch den Kopf. Natürlich! Paris! Eilig wählt sie die Nummer, hängt sofort verärgert wieder auf⦠the number youâve called, is temporarily not available. Lane, ihre nächster Gedanke, natürlich, Lane. Ein weitere Tastendruck, das piepsende Geräusch, als die Nummer gewählt wird. Und wieder nichts, es klingelt, aber niemand geht an das Telefon, die WG ihrer besten Freundin scheint leergefegt zu sein. Ein Handy, denkt sie, zu deinem nächsten Geburtstag werde ich dir eines schenken.
Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, hängt dabei auf, während die Panik in ihr wächst. Es gibt niemanden mehr, keinen, den sie noch um Hilfe bitten könnte. Keinen, bei dem sie sicher gehen kann, dass es kein Drama nach sich ziehen wird.
Ich hätte die verfluchte Rechnung prellen sollen, aber nein, ich musste ja ehrlich sein. Wen? Wen? Wen? Wen um alles in der Welt kann ich jetzt noch anrufen? Dad? Nein, nicht ihn, er würde es Mom erzählen. Jeder andere, jeder in Stars Hollow â niemals, die Nachricht würde wie ein Feuer die Runde machen. Obwohl? Luke?
Hallo!?!, ruft sie sich in Erinnerung. Luke? Der neue Freund deiner Mutter? Er würde zwar nichts sagen, aber wenn es doch herauskommt, wenn Lorelai erfahren würde, dass er ihr das verschwiegen hat â ein wiederholtes Niemals! Sie kann sich ein leises Lachen nicht verkneifen, als ihr ihre GroÃeltern durch den Kopf schieÃen. Natürlich. Richard und Emily Gilmore in einem Motel, eine herrliche Vorstellung.
Die Frau an der Rezeption wird langsam unruhig, ihre Finger trommeln ungeduldig auf dem hölzernen Tresen. âMiss?â, ruft sie laut und ungeduldig, eine erste Warnung.
âIchâ, setzte Rory an, setzt ihr strahlendstes Lächeln auf, geht zurück zum Empfang. âÃhm, ich habe momentan leider nicht genügend Bargeld bei mir.â
âWas ist mit Kreditkarte?â, lautet die barsche Antwort.
âIch habe leider keineâ, gibt sie zerknirscht zu. âAber eine Bankkarte. Ich habe meine Bankkarte dabeiâ, fällt ihr ein. âIch werde nur kurz zum nächsten Automaten gehen und etwas Geld abheben. Ich bin auch sofort wieder da, ehrlich!â
âNicht ohne ein Pfand, meine Liebeâ, die Furchen auf der Stirn der Alten vertiefen sich, es ist klar zu erkennen, dass sie Rory nicht traut.
âKlar. Ein Pfandâ, sie kramt ihren Autoschlüssel hervor, legt ihn auf den Tresen. âMein Wagen. Er steht auf dem Parkplatz, der kleine Italiener.â
âKayâ, brummt die Alte, reiÃt den Schlüssel an sich. âAber wenn du in ner halben Stunde nich wieder auftauchst, hast du Pech gehabt.â
Ohne zu zögern stimmt sie zu, rennt geradezu aus dem Motel, es ist ihr peinlich, unendlich peinlich. Im Laufschritt nähert sie sich dem Platz, an dem sie das Ortszentrum vermutet, eine Bank, ein Automat, eine zwanzig Dollarnote auf dem Boden, nur schnell. Keuchend biegt sie um eine Ecke, findet sich im nächsten Moment auf dem Asphalt wieder, reibt sich schmerzerfüllt den SteiÃ. âAuaâ, murmelt sie, sieht auf, erkennt den Grund für ihre Bruchlandung und sämtliches Blut scheint in ihr Gesicht zu strömen, ihre Wangen beginnen zu glühen, während sich der Rest ihres Körpers eisig anfühlt. Ausgerechnet, denkt sie, vermutlich der einzige Polizist im ganzen Ort und ich muss mit ihm zusammenstoÃen.
Trotzdem ergreift sie dankbar seine Hand, lässt sich von ihm nach oben ziehen. âWohin denn so eilig, junge Dame?â, erkundigt sich der uniformierte Mann.
âIch, ähm, Geld, Geldautomatâ, beginnt sie zu stottern. âIch brauche Geld. Für, für das Zimmer. Im Motel. Es ist, und dann musste er weg und ich, und die Rechnung undâ, sie verdreht die Augen, atmet scharf ein. âTut mir leidâ, sagt sie zerknirscht.
âKeine Ursache, über eine so hübsche Lady stolpere ich doch gerne.â Erleichtert stellt Rory fest, dass er freundlich klingt, ärgert sich über ihre übertriebene Reaktion. Es ist doch völlig egal, ob du gegen einen Polizist oder einen Telefonmast läufst, egal, du hast nichts getan, um Gottes Willen, benimm dich endlich wieder halbwegs normal. âDie nächste rechtsâ, fährt der Polizist fort und deutet auf eine StraÃe.
Sie braucht einen Moment, um zu begreifen, wovon er spricht. âOh, dankeâ, murmelt sie schlieÃlich, schiebt ihr nasses Haar hinter die Ohren, nickt ihm zu und geht weiter, langsam dieses Mal.
Sie hebt das Geld ab, bezahlt das Zimmer, gibt ein groÃzügiges Trinkgeld und fährt zurück nach Yale. Dort legt sie sich in ihr Bett, zieht sich die Decke über den Kopf und schlieÃt die Augen. Es muss aufhören, denkt sie, es muss aufhören, sonst läufst du das nächste Mal vor ein fahrendes Auto. Aber was muss aufhören? Er hat es doch getan, er hat sich von Lindsay getrennt, ist zurück zu seinen Eltern gezogen, aber sich gemeinsam in der Ãffentlichkeit blicken lassen? In Stars Hollow? Unmöglich.
Dieses Versteckspiel zerrt an ihren Nerven, ihr schlechtes Gewissen ist schon zu einer chronischen Krankheit geworden, die keinen Platz für anderes lässt, alleine die letzte Stunde hat es wieder gezeigt. Scham und Schuld, alles wovon sie sich hat leiten lassen. Sie muss mit Dean reden, sie müssen die Karten endlich offen auf den Tisch legen, alles andere macht keinen Sinn mehr. Sie spürt, wie sie von einer Welle der Erschöpfung und des Selbstmitleids erfasst wird, wie sich der Kloà in ihrem Hals löst, sich löst, während ihr Tränen über das Gesicht laufen.
Irgendwann schläft sie ein, ein traumloser Schlaf, aber als sie wieder aufwacht, fühlt sie sich besser, kann endlich wieder klar denken. Weià plötzlich ganz genau, was sie zu tun hat.