14.04.2005, 11:13
Langsam kaut sie auf einem Stück Knoppers herum, fast so, als wäre es aus Gummi und schmeckte nach Lebertran. Eine warme Decke über den Körper gebreitet, sieht sie fern. Etwas Lustiges. Vermutlich. Denn zum Lachen ist ihr nicht zumute.
Die Tür geht auf, sie beachtet es nicht. Reagiert auch nicht, als Lorelai sich schweigend neben sie setzt, sich eine Tüte Marshmellows aus dem Berg von SüÃigkeiten auf dem Wohnzimmertisch angelt. Ein kleiner Knall, die Plastiktüte öffnet sich, ein rosafarbener Schaumgummiball verschwindet in ihrem Mund. Auch sie kaut, als wäre ihr diese Anstrengung zu groÃ, der Geschmack zuwider. Ein Scotch wäre ihr lieber, eine Kanonenkugel ebenso. Egal was, hauptsache es zermatscht das Hirn. Sie legt irgendwann einen Arm um Rory und diese bettet ihren Kopf auf der Schulter ihrer Mutter, ein kleines Mädchen, das sich vor dem Gewitter fürchtet.
"Es ist aus", murmelt sie, Lorelai fährt ihr durchs Haar, Meister Proper warnt vor Fleckenzwergen.
"Deine GroÃmutter hatte eine Affäre." Eine. Zwei. Drei. Drei. Zwei. Eins. Meins.
Rory fährt auf, ihre Lippen formen ein Nein, doch ihre Stimmbänder bringen lediglich ein heiseres Quieken zustande. Sie starren sich an, die eine schiebt sich einen Marshmellow in den Mund, lutscht lustlos darauf herum, die andere wirft ihr Knoppers zurück auf den Tisch. Es gibt so vieles, was jetzt gesagt oder gefragt werden könnte, doch die Köpfe sind leer, aufgerissene Augen und schwere Lider.
"ScheiÃtag", sagt Rory.
Lorelai atmet geräuschvoll aus, ein Seufzen und ein Schnauben zugleich. "Allerdings."
Sie wenden sich wieder dem Fernseher zu, dicht aneinander gepresst starren sie auf den Bildschirm, sehen durch ihn hindurch. Der Film ist ohnehin schlecht, die Werbung zu lang. Wenn einem etwas Gutes widerfährt, ist das einen Asbach Uralt wert. Kaum gesehen, schon vergessen. So wie man alles vergisst. Früher. Oder später.
****
Der Saal ist gefüllt mit der Creme de la Creme der amerikanischen Gesellschaft, unzählige wichtige Männer mit ihren Gattinnen, eine Handvoll wichtiger Frauen mit ihren Gatten. Leises Geplauder erfüllt die Luft, Stimmengewirr vermischt mit den leisen Klängen eines Streichquartetts, Vivaldi, Klischee und dennoch immer wieder gerne gehört bei derartigen Anlässen. (Wer hätte schon die Zeit sich auf extravagante Musik zu konzentrieren?)
Für jeden, der sie nicht kennt, wirkt sie gelassen und amüsiert, doch in Wirklichkeit umklammert sie ihr Champagnerglas krampfhaft, der Blick ist unstet, beinahe gehetzt. Es hat nichts damit zu tun, dass sie mit Richard hier ist. Sie ist es gewohnt, es ist nicht der erste Anlass, bei dem sie nach wie vor die gottergebene Gattin spielt. Der Grund ist ein anderer. Der Grund ist William. Sie hat ihn bei ihrer Ankunft in der Lobby ausgemacht, er hat ihr zugenickt, ehe er in der Menge verschwand, sich seither nicht mehr blicken lies. Ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn nicht sehen will, will sie ihn nicht zusammen mit Richard sehen, weià nicht, wie sie auf dieses Bild reagieren sollte. Der Ehemann und der Geliebte, auch wenn es nur eine Nacht war, wenige Stunden, jede Minute war zuviel, jede Sekunde hat sich seit damals wie ein schwarzes Band durch ihr Leben gezogen. Ein Band, das sich bei dem Treffen mit William um ihren Hals schlang, nur darauf zu warten scheint, sich enger zu ziehen, ihr die Luft gänzlich abzuschnüren. *
So gerne sie daran glauben würde, dass es sich bei der Interaktion zwischen Richard und William nur um ein Geschäft handelt, sie ahnt, dass es um mehr geht. Sonst hätte William sie niemals um dieses Treffen gebeten.
Wenigstens hatte es etwas Gutes. Sie weià jetzt, dass nie etwas zwischen ihm und Lorelai war. Sie weiÃ, dass sie auf eine Lüge hereingefallen ist. WeiÃ, dass sie ihre Tochter für immer verloren hat. Als Lorelais Mutter hätte sie es besser wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, das Lorelai, trotz all der Schwierigkeiten, die sie miteinander hatten, all des Aufbegehrens und der Sturheit, dass ihre Tochter sich niemals mit William eingelassen hätte. Dennoch hat sie es geglaubt, Jahre hat sie damit verschwendet den einseitigen, unausgesprochenen Vorwurf zwischen ihnen stehen zu lassen, hat verspielt, was vielleicht noch zu retten gewesen wäre.
Sie atmet tief durch, nickt ihren Gesprächspartnern so freundlich wie möglich zu. Gesprächspartner, sie lacht innerlich, nicht mit ihr reden sie, mit Richard. Ãber Dinge von denen sie keine Ahnung hat. Sie ist nur der Anhang, nicht wichtiger als das Glas Champagner in ihren Händen, vielleicht noch weniger wert. Aber sie weiÃ, dass sie die Wut, die sie empfindet herunterschlucken muss. Wut auf William. Wut auf Richard. Ebenso, wie sie weiÃ, dass diese Wut völlig unberechtigt ist. Lorelai hatte Recht. Egal was gewesen war, sie hat kein Recht dazu gehabt. Kein Recht. Und hatte es dennoch getan. Ein einziger, furchtbarer Fehler, der sich jetzt immer noch rächt. Ein schwarzes Band um ihren Hals. Eine Schlaufe, die ihr die Luft abschnürt. Eine Schlinge, die, scharf wie ein Messer, das letzte Band zu ihrer Tochter gekappt hatte.
Sie entschuldigt sich irgendwann höflich, geht aus dem groÃen Saal, huscht den Flur entlang, den Kopf stolz aufgerichtet. Eine Hand an ihrem Ellenbogen, ein starker Griff, der sie in eine kleine Nische zieht.
"Ich wollte das nicht", strömt es beschwörend zu ihren Ohren.
"Was wolltest du nicht?", antwortet sie leise, zischt dabei wie ein Dampfkessel. "Alles endgültig ruinieren?"
"Ich wollte dich zurück, Emily", er verleiht seinen Worten Nachdruck, indem er seinen Griff verstärkt. "Es war keine Lüge, als ich sagte, dass ich dich liebe. Bitte, gib uns noch eine Chance", da ist er wieder, der kleine Schuljunge, flehend, auf Knien umherrutschend.
"Eine Chance?", sie überschlägt sich, Stimme und Gefühle.
Er will etwas antworten, lässt es jedoch. Legt stattdessen seinen freien Arm um ihre Hüfte, zieht sie an sich, presst seinen Mund sanft gegen den ihren. Ihm entgeht nicht, dass sie unter dieser unerwarteten Berührung zusammenzuckt, ein Stück nach hinten taumelt, seinen Kuss dennoch zaghaft erwidert, sich selbst dann nicht von ihm löst, als er vorsichtig ihre Lippen teilt. Ihn hinterher entgeistert ansieht, ihre Augen zornig glitzern. Sie reiÃt sich von ihm los, rennt, ungeachtet aller Protokolle dieser Erde, zurück in den Saal. Gesellt sich wieder neben Richard. Das eben Geschehene ist vergessen. Der Schlüssel dazu liegt in einer schwach beleuchtenden Nische des weitläufigen Gebäudes.
Ohne zu wissen wie oder wie lange es gedauert hatte, ging der Abend vorüber. Kein William mehr in Sicht, er hat sich zurück gehalten, sich nicht mehr blicken lassen. Alles was jetzt noch ist, ist dieses unendlich kleine Hotelzimmer in Detroit. Monate zuvor gebucht, gebucht für sie beide, als sie noch eine Ehe geführt hatten. Gebucht, wie sie es jedes Jahr taten, jedes Jahr zu diesem Treffen. Wie jedes Jahr und doch anders, ungleich seltsamer. Seit Wochen waren sie nicht mehr länger als notwendig in einem Raum gewesen, geschweige denn in einem Schlafzimmer. Ein Zimmer, *in dem sie viele Nächte gemeinsam verbracht hatten.
Dennoch war es auch jetzt unumgänglich gewesen auf diesem gemeinsamen Zimmer zu bestehen, keiner weià es, niemand weiÃ, dass sie sich getrennt haben. Sie haben eine Illusion bewahrt, ein schwaches Abbild von dem, was einst gewesen ist.
Jetzt steht sie also dort, mehr beklommen, als den ganzen Abend zuvor, spricht kein Wort mit ihm, eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Geht geradewegs ins Badezimmer, entkleidet sich, entfernt das Make Up, schleicht zurück in das Schlafzimmer. Stellt mit unendlicher Erleichterung fest, dass er bereits in dem Bett liegt und schläft.
Vorgibt zu schlafen, denn er tut es nicht. Sie weiÃ, dass er es nicht tut. Er weiÃ, dass sie es weiÃ. Aber sie akzeptieren den Schwindel erleichtert, erspart er ihnen doch viele Worte.
Sie wacht auf, blinzelt verwirrt, bemerkt, dass ihr Kopf an seiner Schulter ruht, spürt seinen Atem in ihrem Nacken, seine Hand die auf ihrem Schenkel ruht, warm und schwer. Sie schluckt, will etwas sagen, kann es nicht. Liegt einfach nur so da, versucht das erwartungsvolle Prickeln, das sich langsam in ihrem Körper ausbreitet zu ignorieren, stellt mit leisem Entsetzen fest, dass es ihr nicht gelingen will. Sie im Gegenteil kaum merklich tiefer in seine Umarmung rutscht, nicht fähig ist, sich zu rühren, stattdessen den schwachen Duft seines Eau de Cologne tief einatmet, dasselbe das er seit Jahren benützt, es eigentlich immer getan hat, herb und vertraut, unzertrennbar mit ihm verbunden. An jedem anderen Mann wirkt es schal auf sie, eine hohle Maske, eine gemeine Lüge. Als sie mit Lorelai schwanger war, auch später noch, bis er wieder da war, sie diesen Duft kaum merklich durch die dichten Regenschwaden wahr nahm, während sie auf ihn einschlug, bis zu diesem Moment hat dieser Geruch stets ein Gefühl der Ãbelkeit in ihr aufsteigen lassen. Doch an ihm hat er eine beruhigende Wirkung auf sie, eine Decke aus Geborgenheit, Sicherheit und Obhut, selbst jetzt noch. Also bleibt sie bewegungslos liegen. Wünscht sich, er würde endlich aufwachen. Aufwachen und sich aus dieser viel zu intimen Umarmung lösen. Wünscht sich, er würde es niemals tun. Wartet bis er aufwacht, erschrocken zur Seite fährt.
"Tut mir leid", murmelt er verlegen. "Ich wollte das nicht."
"Ich weiÃ", entgegnet sie, lächelt ihm zu, weià nicht, was sie denken soll, ein Wettstreit zwischen ihrem jetzigen Ich und den halbtoten Ãberresten eines neunzehnjährigen Mädchens. Ist letztendlich froh, als er aufsteht, wortlos in seinen Morgenmantel schlüpft und im Badezimmer verschwindet.
Die Tür schlieÃt sich mit einem leisen Klicken und er geht zielstrebig auf das Waschbecken zu, dreht den Wasserhahn auf, nur um ihn wieder zu schlieÃen, lässt sich auf den Rand der Badewanne nieder. Für den Bruchteil einer Sekunde hat er sich in die Vergangenheit zurückgesetzt gefühlt. Aufzuwachen, umgeben von einer schwachen Wolke aus Shampoo, Chanel und Körperwärme, der Wärme ihres Körpers. Aufzuwachen und ein Blinzeln später feststellen zu müssen, dass etwas in diesem gewohnten Bild nicht stimmt, nicht richtig ist, verlogen und falsch. Das ihm sein Gehirn einen bösen Streich gespielt hat, ihm vorgaukelte alles wäre so, wie es bisher war.
Er hofft, sie wird es nicht falsch deuten, begreifen, dass es ein Versehen war, ein dummer Zufall, dass er sich im Schlaf an sie geklammert hat. Es aus Gewohnheit getan haben muss. Dennoch, er hat seit Monaten nicht mehr so gut geschlafen, es fällt ihm schwer sich an diesen neuen Umstand zu gewöhnen, nicht die beruhigende Gewissheit zu haben, sie im Arm zu haben, nicht ihren gleichmäÃigen Atem zu hören, diese sanfte Auf- und Abbewegung ihres Körpers, der er sich unwillkürlich anpasst, die ihn langsam in den Schlaf schaukelt.
Er erinnert sich verschwommen an die erste gemeinsame Nacht, im Grunde ebenfalls ein dummer Zufall, im Nachhinein der beste Zufall seines Lebens. Als er aufwachte, verwundert feststellt, dass er eingeschlafen sein musste. Sah, wie sie zusammengekauert auf einem Sessel ihm gegenüber schlief, bemerkte, dass er sich tatsächlich verliebt hatte. Verliebt hatte, obwohl er verlobt war, gedacht hatte, bereits die richtige Frau für sich gefunden zu haben. Aber eigentlich war es schon lange nicht mehr Pennilyn gewesen, die er in seiner Vorstellung der Zukunft neben sich gesehen hatte, sondern sie. Während er seine damalige Verlobte auf eine unbedarfte Art und Weise liebte, so weckte Emily in ihm eine komplexe Art von Gefühlen. Zugegeben, am Anfang war es ihr Aussehen gewesen, der schlanke, wohlgeformte Körper, die weichen Strähnen, die ihr schönes Gesicht umrandeten, die Art, wie sie sich bewegte, wie sie in der Vorlesung saÃ. Versicherungsrecht, ein Ort an dem sich sonst kaum ein der wenigen Frauen verirrte. Es in jenem Semester doch gleich drei Studentinnen getan hatten, sie darunter. Wie sie da saÃ, zwischen seinen Kommilitonen, kerzengerade, den Blick fest auf den Professor gerichtet, während ihre Hand jedes seiner Worte mitschrieb, der Stift geradezu über das Papier zu fliegen schien. Wie sie sich später im Gegensatz zu den anderen Zeit lies, es nicht eilig hatte aus dem Raum zu stürzen, sondern langsam ihre Utensilien in ihrer Tasche verstaute, sich schlieÃlich erhob, grazil wie eine Tänzerin. Sich ihrer Wirkung, ihres Aussehens wohl bewusst, zu jenem Zeitpunkt dennoch nicht ahnend, dass das alles war, was die meisten an ihr wahrnahmen, selbst die Lehrkörper sie darüber definierten, keiner sich die Mühe zu machen schien, ihr in die Augen zu sehen.
Ihr Augen, die Ernsthaftigkeit die darin lag, wachsame Intelligenz und Energie, zuweilen auch Spott und Amüsement. Selbst ihm war es erst Wochen später aufgefallen, erst da hatte er sich die Mühe gemacht genauer hinzusehen, hatte er festgestellt, dass sie nicht hier war, um sich einen geeigneten Ehemann aus dem Pulk der Studenten zu fischen, sondern das Studium tatsächlich ernst nahm, tatsächlich begriff, wovon der Professor sprach. Wie sie jede seiner Fragen beantwortet hatte, präzise und richtig, schlieÃlich an einem Punkt doch ins Schlingern geraten war, ihr das Blut in die Wangen stieg, sie die Lippen aufeinander presste, als der Professor sie daraufhin abschätzig ansah, meinte sie solle sich besser einen kompetenten Nachhilfelehrer besorgen, am besten einen, der Geduld und Heiratswillen mitbringe.
In jenem Moment hatte er sich geschämt, geschämt weil der alte Mann das aussprach, was er und seine Freunde schon oft erörtert hatten, er sich ertappt fühlte, ein schlechtes Gewissen bekam, als hätte er es selbst zu ihr gesagt. Der Schreck, der ihn überfiel, als sie in der nächsten Woche nicht erschien, der trockene Kommentar des Professors über ihre Absenz.
Kaum war die Stunde beendet, hatte er sich an die Fersen Melindas geheftet, sie aufgehalten, sich erkundigt, wo Emily war. Eine Erkältung, eine Grippe vielleicht, lautete die Antwort. Ein minutenlanges Feilschen die Folge, er setzte all seine Ãberredungskunst ein, bis Melinda schlieÃlich nachgab, ihm seufzend ihre Unterlagen überlies, ihm die Zimmernummer Emilys verriet. Er, als sie die Tür öffnete, zum ersten Mal richtig hinsah, ihr in die Augen sah, sich um Kopf und Kragen redete, so den Zutritt in den Wohnraum, in ihr Leben erhielt.
Sie in sein Leben lies, er nach kurzer Zeit feststellte, dass es nicht nur das Begehren war, das ihn an sie band, sondern auch ihre Intelligenz, ihr Humor, dass die Facetten ihrer beiden Charaktere ineinander passten wie Legosteine.
Doch im Laufe der Zeit hatten sie sich abgenutzt, immer mehr, bis schlieÃlich nur noch eine wackelige Basis da gewesen war, die letztendlich in sich zusammenfiel. Sie haben sich beide verändert, so sehr, so lange, bis nichts mehr passte.
Starr, das Gerippe der Gewohnheit allein, hält die menschliche Hülle aufrecht. So hat es Virginia Woolf formuliert und sie hatte Recht. Gewohnheit, Trägheit, pure Bequemheit war am Ende eigentlich alles gewesen, was sie noch aneinander band. Trotzdem war es ein Schock gewesen, als sie ihn verlies, ihm zum Vorwurf machte, alles wäre seine Schuld. Ihm unterstellte, er habe sie mit Pennilyn betrogen, obwohl sie die Einzige war, die untreu gewesen war. Das war es auch gewesen, was ihn in jenem Moment am meisten beschäftigt hatte: William Farnsworth. Endlich zu wissen, mit wem sie ihn betrogen hatte, welcher Mann verantwortlich war für diese Demütigung, den tiefen Kratzer in seinem Stolz, seinem Vertrauen.
Er seufzt, steht auf. Fährt sich über die Wange, raue Bartstoppel, die auf seiner Handfläche kratzen. Blickt in den Spiegel, erschrickt über den alten Mann, der ihn daraus anblickt. Fragt sich, weshalb dieser Kerl überhaupt hierher gekommen ist. Antwortet ihm unverzüglich. Du bist hier, Richard, weil du neugierig warst. Weil du wissen wolltest, wer die Menschen sind, Menschen von denen sie sich losgelöst hat. Weil du wissen wolltest, ob du dich von ihr losgelöst hast. Ob du es schaffst, ihr gegenüber Gleichgültigkeit zu empfinden, endlich den letzten Schlussstrich zu ziehen.
Nein, bislang ist es dir nicht gelungen, bislang verbindet dich noch immer etwas mit ihr. Wenn du nur wirklich wüsstest was es ist, dann könntest du die Verbindung kappen. Also finde es heraus, verdammt noch Mal, streng dich wenigstens einmal richtig an - denn was nützt eine unsichtbare Verknüpfung, wenn sie dich an etwas fesselt, was schon lange zerbrochen ist? Ein Glas das zerspringt, zu tausend Scherben zerbirst, du würdest es nicht liegen lassen. Du würdest die Splitter zusammenfegen und wegwerfen. Wenn es ein schönes Glas war, vielleicht noch hin und wieder daran denken, ihm ein wenig nachtrauern. Aber du würdest es vergessen, es gibt schlieÃlich unzählige andere Gläser aus denen du deinen Whiskey trinken kannst. Selbst wenn er daraus anders schmecken würde, kämst du doch niemals auf den Gedanken keinen Tropfen mehr anzurühren. Du würdest trinken, solange bis du dich an das neue Aroma gewöhnt hast, Gefallen an ihm findest, letztendlich das alte Bukett nur noch eine schwache Erinnerung ist. Eine Schöne zwar, aber eine Vergangene, unwiederbringlich. Es gibt nun Mal Dinge, die man nicht reparieren kann.
Zu seinem Erstaunen scheint es ihr ebenso zu gehen, zu seiner Erleichterung, seiner Enttäuschung. Sie hat ihren Koffer auf dem Bett ausgebreitet, als er aus dem Badezimmer kommt. Lässt sorgfältig Stück um Stück ihrer Garderobe in dem groÃen Lederkoffer verschwinden. "Was tust du da?", erkundigt er sich dennoch erstaunt.
"Ich packe", ein paar Blusen wandern in den Koffer, sie drückt sie mit beiden Händen nach unten, um mehr Stauraum zu schaffen, hält inne und dreht sich um. "Hör zu, Richard. Es besteht keinerlei Anlass, dass wir weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung. Denn das ist es nicht. Du und ich, wir haben keine Zukunft. Es ist vorbei. Und die Leute werden es sowieso erfahren, ob es heute oder in fünf Wochen passiert ist ihnen völlig egal. Aber mir nicht, ich will es endgültig hinter mich bringen", sie lächelt ihn matt an. "Wir beide sollten es endgültig hinter uns bringen."
"In Ordnung", ein Nicken von ihm, stark und bestimmt, das falsche Lächeln auf ihrem Gesicht wird im selben Moment zu einem Echten.
"Ich werde für eine Weile nach Paris gehen", sagt sie leise, erklärt sich, als sie den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkt. "Als ich mit Rory in Europa war, hat Hopie mir angeboten für eine Weile bei ihr unterzukommen, falls ich - ", sie stockt, presst ihre Lippen aufeinander. "Nun, jedenfalls denke ich, dass es das Beste ist, dieses Angebot anzunehmen. Ich brauche Zeit. Zeit um über alles Nachzudenken. Vor allem darüber, wie es jetzt mit mir weitergehen soll." Die braucht sie, hat keine Ahnung, was sie jetzt mit sich anfangen soll. Richard hat einen Beruf, doch sie - der ihre war es immer, seine Ehefrau zu sein.
"Emily, selbst wenn wir uns scheiden lassen, ich werde nach wie vor für dich sorgen", erwidert er, als hätte er einen Teil ihrer Gedanken gelesen. "Ich werde gut für dich sorgen." *
"Du weiÃt, dass du das nicht musst." Der Vertrag. Sie hat ihn damals unterschrieben, hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt, dachte nicht im Traum daran, dass sie sich jemals trennen könnten.
"Aber ich will es. Wir kennen uns seit vierzig Jahren. Ich habe dir viel zu verdanken, mehr als ich jemals in Worte fassen kann", ich wäre tot. Rauschgift, eine Kugel, ganz gleich weswegen. Tot, Emily, tot ohne dich. "Selbst wenn wir kein Paar mehr sind, wirst du mir doch immer etwas bedeuten. Man kann die Vergangenheit nicht einfach so auslöschen. Nicht einmal die Unterschrift auf Scheidungspapieren kann es."
"Was willst du damit sagen?", beiläufig, sie hört ihm eigentlich gar nicht zu. Wer begibt sich schon freiwillig in einen Zwinger voller tollwütiger Hunde? Riskiert Bisse, die nie mehr heilen?
"Ich will nicht, dass du wegen mir -"
"Aber das tue ich nicht", fällt sie ihm ins Wort. "Ich tue es wegen mir."
"Aber was ist mit Rory? Was ist mit Lorelai?", fragt er, runzelt die Stirn, tiefe Furchen.
"Lorelai", entgegnet sie mit einem Anflug von Bitterkeit und setzt sich auf den Bettrand, verkreuzt die Beine hinter den Knöcheln, die Hände ruhen auf ihrem SchoÃ, verkrampft, ineinander gekrallt. "Sie hat Dinge gesagt - wir haben Dinge zueinander gesagt, die, die", wieder stockt sie, weià nicht wie sie ihre Gedanken formulieren soll, zumal Richard und sie fortan getrennte Wege gehen werden. Sie brauchen einander nicht mehr zu belasten, sie will ihn mit nichts belasten. "Es ist besser, wenn wir ein wenig Abstand zueinander halten. Und Rory, die Semesterferien sind lang, da wird sie sicherlich Zeit haben mich hin und wieder besuchen zu können."
Sie steht auf, beginnt schweigend weiterzupacken, so wie er sie schweigend beobachtet.
So wie er am 3. Februar 2005 (Vierzig Jahre zuvor hatten sich ihre Lippen das erste Mal berührt. Vierzig Jahre später sollten sie sich für immer trennen. Ironie des Schicksals oder Kalkül?) schweigend seine Unterschrift unter die Scheidungspapiere setzen wird. So wie sie dasselbe tausende Kilometer entfernt tun wird. Sich anschlieÃend mit einer Flasche Wein auf ihr Zimmer zurückzieht und versucht den fahlen Geschmack in ihrem Mund mit dem Bordeaux herunterzuspülen. So wie er sich mit einer Flasche Scotch in sein Arbeitszimmer zurückzieht. Sie weinen, beide, es ist nicht Trauer, auch keine Erleichterung. Es gibt keinen Grund zu weinen. So wie es keinen Grund gibt, es nicht zu tun.
To be continued
ATN: So, für meine momentan beiden einzigen Leser *G* Danke für's FB, ihr seid zu gut zu mir!
Die Tür geht auf, sie beachtet es nicht. Reagiert auch nicht, als Lorelai sich schweigend neben sie setzt, sich eine Tüte Marshmellows aus dem Berg von SüÃigkeiten auf dem Wohnzimmertisch angelt. Ein kleiner Knall, die Plastiktüte öffnet sich, ein rosafarbener Schaumgummiball verschwindet in ihrem Mund. Auch sie kaut, als wäre ihr diese Anstrengung zu groÃ, der Geschmack zuwider. Ein Scotch wäre ihr lieber, eine Kanonenkugel ebenso. Egal was, hauptsache es zermatscht das Hirn. Sie legt irgendwann einen Arm um Rory und diese bettet ihren Kopf auf der Schulter ihrer Mutter, ein kleines Mädchen, das sich vor dem Gewitter fürchtet.
"Es ist aus", murmelt sie, Lorelai fährt ihr durchs Haar, Meister Proper warnt vor Fleckenzwergen.
"Deine GroÃmutter hatte eine Affäre." Eine. Zwei. Drei. Drei. Zwei. Eins. Meins.
Rory fährt auf, ihre Lippen formen ein Nein, doch ihre Stimmbänder bringen lediglich ein heiseres Quieken zustande. Sie starren sich an, die eine schiebt sich einen Marshmellow in den Mund, lutscht lustlos darauf herum, die andere wirft ihr Knoppers zurück auf den Tisch. Es gibt so vieles, was jetzt gesagt oder gefragt werden könnte, doch die Köpfe sind leer, aufgerissene Augen und schwere Lider.
"ScheiÃtag", sagt Rory.
Lorelai atmet geräuschvoll aus, ein Seufzen und ein Schnauben zugleich. "Allerdings."
Sie wenden sich wieder dem Fernseher zu, dicht aneinander gepresst starren sie auf den Bildschirm, sehen durch ihn hindurch. Der Film ist ohnehin schlecht, die Werbung zu lang. Wenn einem etwas Gutes widerfährt, ist das einen Asbach Uralt wert. Kaum gesehen, schon vergessen. So wie man alles vergisst. Früher. Oder später.
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Der Saal ist gefüllt mit der Creme de la Creme der amerikanischen Gesellschaft, unzählige wichtige Männer mit ihren Gattinnen, eine Handvoll wichtiger Frauen mit ihren Gatten. Leises Geplauder erfüllt die Luft, Stimmengewirr vermischt mit den leisen Klängen eines Streichquartetts, Vivaldi, Klischee und dennoch immer wieder gerne gehört bei derartigen Anlässen. (Wer hätte schon die Zeit sich auf extravagante Musik zu konzentrieren?)
Für jeden, der sie nicht kennt, wirkt sie gelassen und amüsiert, doch in Wirklichkeit umklammert sie ihr Champagnerglas krampfhaft, der Blick ist unstet, beinahe gehetzt. Es hat nichts damit zu tun, dass sie mit Richard hier ist. Sie ist es gewohnt, es ist nicht der erste Anlass, bei dem sie nach wie vor die gottergebene Gattin spielt. Der Grund ist ein anderer. Der Grund ist William. Sie hat ihn bei ihrer Ankunft in der Lobby ausgemacht, er hat ihr zugenickt, ehe er in der Menge verschwand, sich seither nicht mehr blicken lies. Ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn nicht sehen will, will sie ihn nicht zusammen mit Richard sehen, weià nicht, wie sie auf dieses Bild reagieren sollte. Der Ehemann und der Geliebte, auch wenn es nur eine Nacht war, wenige Stunden, jede Minute war zuviel, jede Sekunde hat sich seit damals wie ein schwarzes Band durch ihr Leben gezogen. Ein Band, das sich bei dem Treffen mit William um ihren Hals schlang, nur darauf zu warten scheint, sich enger zu ziehen, ihr die Luft gänzlich abzuschnüren. *
So gerne sie daran glauben würde, dass es sich bei der Interaktion zwischen Richard und William nur um ein Geschäft handelt, sie ahnt, dass es um mehr geht. Sonst hätte William sie niemals um dieses Treffen gebeten.
Wenigstens hatte es etwas Gutes. Sie weià jetzt, dass nie etwas zwischen ihm und Lorelai war. Sie weiÃ, dass sie auf eine Lüge hereingefallen ist. WeiÃ, dass sie ihre Tochter für immer verloren hat. Als Lorelais Mutter hätte sie es besser wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, das Lorelai, trotz all der Schwierigkeiten, die sie miteinander hatten, all des Aufbegehrens und der Sturheit, dass ihre Tochter sich niemals mit William eingelassen hätte. Dennoch hat sie es geglaubt, Jahre hat sie damit verschwendet den einseitigen, unausgesprochenen Vorwurf zwischen ihnen stehen zu lassen, hat verspielt, was vielleicht noch zu retten gewesen wäre.
Sie atmet tief durch, nickt ihren Gesprächspartnern so freundlich wie möglich zu. Gesprächspartner, sie lacht innerlich, nicht mit ihr reden sie, mit Richard. Ãber Dinge von denen sie keine Ahnung hat. Sie ist nur der Anhang, nicht wichtiger als das Glas Champagner in ihren Händen, vielleicht noch weniger wert. Aber sie weiÃ, dass sie die Wut, die sie empfindet herunterschlucken muss. Wut auf William. Wut auf Richard. Ebenso, wie sie weiÃ, dass diese Wut völlig unberechtigt ist. Lorelai hatte Recht. Egal was gewesen war, sie hat kein Recht dazu gehabt. Kein Recht. Und hatte es dennoch getan. Ein einziger, furchtbarer Fehler, der sich jetzt immer noch rächt. Ein schwarzes Band um ihren Hals. Eine Schlaufe, die ihr die Luft abschnürt. Eine Schlinge, die, scharf wie ein Messer, das letzte Band zu ihrer Tochter gekappt hatte.
Sie entschuldigt sich irgendwann höflich, geht aus dem groÃen Saal, huscht den Flur entlang, den Kopf stolz aufgerichtet. Eine Hand an ihrem Ellenbogen, ein starker Griff, der sie in eine kleine Nische zieht.
"Ich wollte das nicht", strömt es beschwörend zu ihren Ohren.
"Was wolltest du nicht?", antwortet sie leise, zischt dabei wie ein Dampfkessel. "Alles endgültig ruinieren?"
"Ich wollte dich zurück, Emily", er verleiht seinen Worten Nachdruck, indem er seinen Griff verstärkt. "Es war keine Lüge, als ich sagte, dass ich dich liebe. Bitte, gib uns noch eine Chance", da ist er wieder, der kleine Schuljunge, flehend, auf Knien umherrutschend.
"Eine Chance?", sie überschlägt sich, Stimme und Gefühle.
Er will etwas antworten, lässt es jedoch. Legt stattdessen seinen freien Arm um ihre Hüfte, zieht sie an sich, presst seinen Mund sanft gegen den ihren. Ihm entgeht nicht, dass sie unter dieser unerwarteten Berührung zusammenzuckt, ein Stück nach hinten taumelt, seinen Kuss dennoch zaghaft erwidert, sich selbst dann nicht von ihm löst, als er vorsichtig ihre Lippen teilt. Ihn hinterher entgeistert ansieht, ihre Augen zornig glitzern. Sie reiÃt sich von ihm los, rennt, ungeachtet aller Protokolle dieser Erde, zurück in den Saal. Gesellt sich wieder neben Richard. Das eben Geschehene ist vergessen. Der Schlüssel dazu liegt in einer schwach beleuchtenden Nische des weitläufigen Gebäudes.
Ohne zu wissen wie oder wie lange es gedauert hatte, ging der Abend vorüber. Kein William mehr in Sicht, er hat sich zurück gehalten, sich nicht mehr blicken lassen. Alles was jetzt noch ist, ist dieses unendlich kleine Hotelzimmer in Detroit. Monate zuvor gebucht, gebucht für sie beide, als sie noch eine Ehe geführt hatten. Gebucht, wie sie es jedes Jahr taten, jedes Jahr zu diesem Treffen. Wie jedes Jahr und doch anders, ungleich seltsamer. Seit Wochen waren sie nicht mehr länger als notwendig in einem Raum gewesen, geschweige denn in einem Schlafzimmer. Ein Zimmer, *in dem sie viele Nächte gemeinsam verbracht hatten.
Dennoch war es auch jetzt unumgänglich gewesen auf diesem gemeinsamen Zimmer zu bestehen, keiner weià es, niemand weiÃ, dass sie sich getrennt haben. Sie haben eine Illusion bewahrt, ein schwaches Abbild von dem, was einst gewesen ist.
Jetzt steht sie also dort, mehr beklommen, als den ganzen Abend zuvor, spricht kein Wort mit ihm, eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Geht geradewegs ins Badezimmer, entkleidet sich, entfernt das Make Up, schleicht zurück in das Schlafzimmer. Stellt mit unendlicher Erleichterung fest, dass er bereits in dem Bett liegt und schläft.
Vorgibt zu schlafen, denn er tut es nicht. Sie weiÃ, dass er es nicht tut. Er weiÃ, dass sie es weiÃ. Aber sie akzeptieren den Schwindel erleichtert, erspart er ihnen doch viele Worte.
Sie wacht auf, blinzelt verwirrt, bemerkt, dass ihr Kopf an seiner Schulter ruht, spürt seinen Atem in ihrem Nacken, seine Hand die auf ihrem Schenkel ruht, warm und schwer. Sie schluckt, will etwas sagen, kann es nicht. Liegt einfach nur so da, versucht das erwartungsvolle Prickeln, das sich langsam in ihrem Körper ausbreitet zu ignorieren, stellt mit leisem Entsetzen fest, dass es ihr nicht gelingen will. Sie im Gegenteil kaum merklich tiefer in seine Umarmung rutscht, nicht fähig ist, sich zu rühren, stattdessen den schwachen Duft seines Eau de Cologne tief einatmet, dasselbe das er seit Jahren benützt, es eigentlich immer getan hat, herb und vertraut, unzertrennbar mit ihm verbunden. An jedem anderen Mann wirkt es schal auf sie, eine hohle Maske, eine gemeine Lüge. Als sie mit Lorelai schwanger war, auch später noch, bis er wieder da war, sie diesen Duft kaum merklich durch die dichten Regenschwaden wahr nahm, während sie auf ihn einschlug, bis zu diesem Moment hat dieser Geruch stets ein Gefühl der Ãbelkeit in ihr aufsteigen lassen. Doch an ihm hat er eine beruhigende Wirkung auf sie, eine Decke aus Geborgenheit, Sicherheit und Obhut, selbst jetzt noch. Also bleibt sie bewegungslos liegen. Wünscht sich, er würde endlich aufwachen. Aufwachen und sich aus dieser viel zu intimen Umarmung lösen. Wünscht sich, er würde es niemals tun. Wartet bis er aufwacht, erschrocken zur Seite fährt.
"Tut mir leid", murmelt er verlegen. "Ich wollte das nicht."
"Ich weiÃ", entgegnet sie, lächelt ihm zu, weià nicht, was sie denken soll, ein Wettstreit zwischen ihrem jetzigen Ich und den halbtoten Ãberresten eines neunzehnjährigen Mädchens. Ist letztendlich froh, als er aufsteht, wortlos in seinen Morgenmantel schlüpft und im Badezimmer verschwindet.
Die Tür schlieÃt sich mit einem leisen Klicken und er geht zielstrebig auf das Waschbecken zu, dreht den Wasserhahn auf, nur um ihn wieder zu schlieÃen, lässt sich auf den Rand der Badewanne nieder. Für den Bruchteil einer Sekunde hat er sich in die Vergangenheit zurückgesetzt gefühlt. Aufzuwachen, umgeben von einer schwachen Wolke aus Shampoo, Chanel und Körperwärme, der Wärme ihres Körpers. Aufzuwachen und ein Blinzeln später feststellen zu müssen, dass etwas in diesem gewohnten Bild nicht stimmt, nicht richtig ist, verlogen und falsch. Das ihm sein Gehirn einen bösen Streich gespielt hat, ihm vorgaukelte alles wäre so, wie es bisher war.
Er hofft, sie wird es nicht falsch deuten, begreifen, dass es ein Versehen war, ein dummer Zufall, dass er sich im Schlaf an sie geklammert hat. Es aus Gewohnheit getan haben muss. Dennoch, er hat seit Monaten nicht mehr so gut geschlafen, es fällt ihm schwer sich an diesen neuen Umstand zu gewöhnen, nicht die beruhigende Gewissheit zu haben, sie im Arm zu haben, nicht ihren gleichmäÃigen Atem zu hören, diese sanfte Auf- und Abbewegung ihres Körpers, der er sich unwillkürlich anpasst, die ihn langsam in den Schlaf schaukelt.
Er erinnert sich verschwommen an die erste gemeinsame Nacht, im Grunde ebenfalls ein dummer Zufall, im Nachhinein der beste Zufall seines Lebens. Als er aufwachte, verwundert feststellt, dass er eingeschlafen sein musste. Sah, wie sie zusammengekauert auf einem Sessel ihm gegenüber schlief, bemerkte, dass er sich tatsächlich verliebt hatte. Verliebt hatte, obwohl er verlobt war, gedacht hatte, bereits die richtige Frau für sich gefunden zu haben. Aber eigentlich war es schon lange nicht mehr Pennilyn gewesen, die er in seiner Vorstellung der Zukunft neben sich gesehen hatte, sondern sie. Während er seine damalige Verlobte auf eine unbedarfte Art und Weise liebte, so weckte Emily in ihm eine komplexe Art von Gefühlen. Zugegeben, am Anfang war es ihr Aussehen gewesen, der schlanke, wohlgeformte Körper, die weichen Strähnen, die ihr schönes Gesicht umrandeten, die Art, wie sie sich bewegte, wie sie in der Vorlesung saÃ. Versicherungsrecht, ein Ort an dem sich sonst kaum ein der wenigen Frauen verirrte. Es in jenem Semester doch gleich drei Studentinnen getan hatten, sie darunter. Wie sie da saÃ, zwischen seinen Kommilitonen, kerzengerade, den Blick fest auf den Professor gerichtet, während ihre Hand jedes seiner Worte mitschrieb, der Stift geradezu über das Papier zu fliegen schien. Wie sie sich später im Gegensatz zu den anderen Zeit lies, es nicht eilig hatte aus dem Raum zu stürzen, sondern langsam ihre Utensilien in ihrer Tasche verstaute, sich schlieÃlich erhob, grazil wie eine Tänzerin. Sich ihrer Wirkung, ihres Aussehens wohl bewusst, zu jenem Zeitpunkt dennoch nicht ahnend, dass das alles war, was die meisten an ihr wahrnahmen, selbst die Lehrkörper sie darüber definierten, keiner sich die Mühe zu machen schien, ihr in die Augen zu sehen.
Ihr Augen, die Ernsthaftigkeit die darin lag, wachsame Intelligenz und Energie, zuweilen auch Spott und Amüsement. Selbst ihm war es erst Wochen später aufgefallen, erst da hatte er sich die Mühe gemacht genauer hinzusehen, hatte er festgestellt, dass sie nicht hier war, um sich einen geeigneten Ehemann aus dem Pulk der Studenten zu fischen, sondern das Studium tatsächlich ernst nahm, tatsächlich begriff, wovon der Professor sprach. Wie sie jede seiner Fragen beantwortet hatte, präzise und richtig, schlieÃlich an einem Punkt doch ins Schlingern geraten war, ihr das Blut in die Wangen stieg, sie die Lippen aufeinander presste, als der Professor sie daraufhin abschätzig ansah, meinte sie solle sich besser einen kompetenten Nachhilfelehrer besorgen, am besten einen, der Geduld und Heiratswillen mitbringe.
In jenem Moment hatte er sich geschämt, geschämt weil der alte Mann das aussprach, was er und seine Freunde schon oft erörtert hatten, er sich ertappt fühlte, ein schlechtes Gewissen bekam, als hätte er es selbst zu ihr gesagt. Der Schreck, der ihn überfiel, als sie in der nächsten Woche nicht erschien, der trockene Kommentar des Professors über ihre Absenz.
Kaum war die Stunde beendet, hatte er sich an die Fersen Melindas geheftet, sie aufgehalten, sich erkundigt, wo Emily war. Eine Erkältung, eine Grippe vielleicht, lautete die Antwort. Ein minutenlanges Feilschen die Folge, er setzte all seine Ãberredungskunst ein, bis Melinda schlieÃlich nachgab, ihm seufzend ihre Unterlagen überlies, ihm die Zimmernummer Emilys verriet. Er, als sie die Tür öffnete, zum ersten Mal richtig hinsah, ihr in die Augen sah, sich um Kopf und Kragen redete, so den Zutritt in den Wohnraum, in ihr Leben erhielt.
Sie in sein Leben lies, er nach kurzer Zeit feststellte, dass es nicht nur das Begehren war, das ihn an sie band, sondern auch ihre Intelligenz, ihr Humor, dass die Facetten ihrer beiden Charaktere ineinander passten wie Legosteine.
Doch im Laufe der Zeit hatten sie sich abgenutzt, immer mehr, bis schlieÃlich nur noch eine wackelige Basis da gewesen war, die letztendlich in sich zusammenfiel. Sie haben sich beide verändert, so sehr, so lange, bis nichts mehr passte.
Starr, das Gerippe der Gewohnheit allein, hält die menschliche Hülle aufrecht. So hat es Virginia Woolf formuliert und sie hatte Recht. Gewohnheit, Trägheit, pure Bequemheit war am Ende eigentlich alles gewesen, was sie noch aneinander band. Trotzdem war es ein Schock gewesen, als sie ihn verlies, ihm zum Vorwurf machte, alles wäre seine Schuld. Ihm unterstellte, er habe sie mit Pennilyn betrogen, obwohl sie die Einzige war, die untreu gewesen war. Das war es auch gewesen, was ihn in jenem Moment am meisten beschäftigt hatte: William Farnsworth. Endlich zu wissen, mit wem sie ihn betrogen hatte, welcher Mann verantwortlich war für diese Demütigung, den tiefen Kratzer in seinem Stolz, seinem Vertrauen.
Er seufzt, steht auf. Fährt sich über die Wange, raue Bartstoppel, die auf seiner Handfläche kratzen. Blickt in den Spiegel, erschrickt über den alten Mann, der ihn daraus anblickt. Fragt sich, weshalb dieser Kerl überhaupt hierher gekommen ist. Antwortet ihm unverzüglich. Du bist hier, Richard, weil du neugierig warst. Weil du wissen wolltest, wer die Menschen sind, Menschen von denen sie sich losgelöst hat. Weil du wissen wolltest, ob du dich von ihr losgelöst hast. Ob du es schaffst, ihr gegenüber Gleichgültigkeit zu empfinden, endlich den letzten Schlussstrich zu ziehen.
Nein, bislang ist es dir nicht gelungen, bislang verbindet dich noch immer etwas mit ihr. Wenn du nur wirklich wüsstest was es ist, dann könntest du die Verbindung kappen. Also finde es heraus, verdammt noch Mal, streng dich wenigstens einmal richtig an - denn was nützt eine unsichtbare Verknüpfung, wenn sie dich an etwas fesselt, was schon lange zerbrochen ist? Ein Glas das zerspringt, zu tausend Scherben zerbirst, du würdest es nicht liegen lassen. Du würdest die Splitter zusammenfegen und wegwerfen. Wenn es ein schönes Glas war, vielleicht noch hin und wieder daran denken, ihm ein wenig nachtrauern. Aber du würdest es vergessen, es gibt schlieÃlich unzählige andere Gläser aus denen du deinen Whiskey trinken kannst. Selbst wenn er daraus anders schmecken würde, kämst du doch niemals auf den Gedanken keinen Tropfen mehr anzurühren. Du würdest trinken, solange bis du dich an das neue Aroma gewöhnt hast, Gefallen an ihm findest, letztendlich das alte Bukett nur noch eine schwache Erinnerung ist. Eine Schöne zwar, aber eine Vergangene, unwiederbringlich. Es gibt nun Mal Dinge, die man nicht reparieren kann.
Zu seinem Erstaunen scheint es ihr ebenso zu gehen, zu seiner Erleichterung, seiner Enttäuschung. Sie hat ihren Koffer auf dem Bett ausgebreitet, als er aus dem Badezimmer kommt. Lässt sorgfältig Stück um Stück ihrer Garderobe in dem groÃen Lederkoffer verschwinden. "Was tust du da?", erkundigt er sich dennoch erstaunt.
"Ich packe", ein paar Blusen wandern in den Koffer, sie drückt sie mit beiden Händen nach unten, um mehr Stauraum zu schaffen, hält inne und dreht sich um. "Hör zu, Richard. Es besteht keinerlei Anlass, dass wir weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung. Denn das ist es nicht. Du und ich, wir haben keine Zukunft. Es ist vorbei. Und die Leute werden es sowieso erfahren, ob es heute oder in fünf Wochen passiert ist ihnen völlig egal. Aber mir nicht, ich will es endgültig hinter mich bringen", sie lächelt ihn matt an. "Wir beide sollten es endgültig hinter uns bringen."
"In Ordnung", ein Nicken von ihm, stark und bestimmt, das falsche Lächeln auf ihrem Gesicht wird im selben Moment zu einem Echten.
"Ich werde für eine Weile nach Paris gehen", sagt sie leise, erklärt sich, als sie den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkt. "Als ich mit Rory in Europa war, hat Hopie mir angeboten für eine Weile bei ihr unterzukommen, falls ich - ", sie stockt, presst ihre Lippen aufeinander. "Nun, jedenfalls denke ich, dass es das Beste ist, dieses Angebot anzunehmen. Ich brauche Zeit. Zeit um über alles Nachzudenken. Vor allem darüber, wie es jetzt mit mir weitergehen soll." Die braucht sie, hat keine Ahnung, was sie jetzt mit sich anfangen soll. Richard hat einen Beruf, doch sie - der ihre war es immer, seine Ehefrau zu sein.
"Emily, selbst wenn wir uns scheiden lassen, ich werde nach wie vor für dich sorgen", erwidert er, als hätte er einen Teil ihrer Gedanken gelesen. "Ich werde gut für dich sorgen." *
"Du weiÃt, dass du das nicht musst." Der Vertrag. Sie hat ihn damals unterschrieben, hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt, dachte nicht im Traum daran, dass sie sich jemals trennen könnten.
"Aber ich will es. Wir kennen uns seit vierzig Jahren. Ich habe dir viel zu verdanken, mehr als ich jemals in Worte fassen kann", ich wäre tot. Rauschgift, eine Kugel, ganz gleich weswegen. Tot, Emily, tot ohne dich. "Selbst wenn wir kein Paar mehr sind, wirst du mir doch immer etwas bedeuten. Man kann die Vergangenheit nicht einfach so auslöschen. Nicht einmal die Unterschrift auf Scheidungspapieren kann es."
"Was willst du damit sagen?", beiläufig, sie hört ihm eigentlich gar nicht zu. Wer begibt sich schon freiwillig in einen Zwinger voller tollwütiger Hunde? Riskiert Bisse, die nie mehr heilen?
"Ich will nicht, dass du wegen mir -"
"Aber das tue ich nicht", fällt sie ihm ins Wort. "Ich tue es wegen mir."
"Aber was ist mit Rory? Was ist mit Lorelai?", fragt er, runzelt die Stirn, tiefe Furchen.
"Lorelai", entgegnet sie mit einem Anflug von Bitterkeit und setzt sich auf den Bettrand, verkreuzt die Beine hinter den Knöcheln, die Hände ruhen auf ihrem SchoÃ, verkrampft, ineinander gekrallt. "Sie hat Dinge gesagt - wir haben Dinge zueinander gesagt, die, die", wieder stockt sie, weià nicht wie sie ihre Gedanken formulieren soll, zumal Richard und sie fortan getrennte Wege gehen werden. Sie brauchen einander nicht mehr zu belasten, sie will ihn mit nichts belasten. "Es ist besser, wenn wir ein wenig Abstand zueinander halten. Und Rory, die Semesterferien sind lang, da wird sie sicherlich Zeit haben mich hin und wieder besuchen zu können."
Sie steht auf, beginnt schweigend weiterzupacken, so wie er sie schweigend beobachtet.
So wie er am 3. Februar 2005 (Vierzig Jahre zuvor hatten sich ihre Lippen das erste Mal berührt. Vierzig Jahre später sollten sie sich für immer trennen. Ironie des Schicksals oder Kalkül?) schweigend seine Unterschrift unter die Scheidungspapiere setzen wird. So wie sie dasselbe tausende Kilometer entfernt tun wird. Sich anschlieÃend mit einer Flasche Wein auf ihr Zimmer zurückzieht und versucht den fahlen Geschmack in ihrem Mund mit dem Bordeaux herunterzuspülen. So wie er sich mit einer Flasche Scotch in sein Arbeitszimmer zurückzieht. Sie weinen, beide, es ist nicht Trauer, auch keine Erleichterung. Es gibt keinen Grund zu weinen. So wie es keinen Grund gibt, es nicht zu tun.
To be continued
ATN: So, für meine momentan beiden einzigen Leser *G* Danke für's FB, ihr seid zu gut zu mir!