07.05.2005, 22:30
52. Teil
Es war eine laue Nacht, ein zarter Wind wehte. Der Himmel war ganz klar, man konnte die Sterne in schönster Pracht strahlen sehen.
Rory fröstelte. Wie spät es wohl sein mochte? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Wusste nicht wie lange sie schon auf den Stufen saÃ. Ob Minuten, ob Stunden â es machte keinerlei Unterschied.
Ihre Hände zitterten als sie den Brief erneut auseinander faltete und zu lesen begann.
Sie wusste nicht mehr wie oft sie ihn schon gelesen hatte.
Der Text blieb derselbe,wie oft sie ihn auch las. Dennoch tat sie es wieder und wieder, in der Hoffnung zu verstehen.
Liebe Rory,
Jess hatte schnell geschrieben. Er musste es sehr eilig gehabt haben. Nur wohin musste er so eilig? Wer war diese junge Frau, von der Luke gesprochen hatte? War er bei ihr?
Es tut mir leid, dass wir uns heute nicht mehr sehen werden.
Rory sah kurz hoch, weil sie glaubte ein Geräusch gehört zu haben.
Aber ich muss für ein paar Tage weg von hier.
Rory runzelte die Stirn. Sie stellte sich immer wieder dieselben Fragen.
Wohin war er gefahren? Warum hatte er es so eilig gehabt? Warum hat er sie nicht einfach angerufen? Wie lange wird er bleiben? Wird er überhaupt wieder kommen?
Ich liebe dich
Jess
Was war nur passiert, dass ihn zu einem so schnellen Aufbruch bewegte?
Rory strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie las den Brief ein weiteres Mal.
Rory tastete nach ihrer Tasche und zog das Handy heraus. Vielleicht hatte sie es unabsichtlich auf lautlos gestellt oder abgeschalten. Ihre kleine Hoffnung wurde mit einem kurzen Blick auf das Display zerstört.
Sie wählte Jess Nummer, immer und immer wieder, aber sie kam jedes Mal auf seinen Anrufbeantworter.
Unfähig etwas darauf zu sprechen, legte sie wieder auf.
Ihr Herz schmerzte. Er hatte sie alleine gelassen, nur diese kurzen Zeilen hinterlassen.
Ich liebe dich. Rory fixierte diese drei Wörter immer wieder. Sie waren wie ein Rettungsanker
Vielleicht gab es ja einen Grund und er würde bald anrufen um ihr alles zu erklären. Sie redete sich diesen Satz immer und immer wieder ein.
Rorys Blick fiel auf ihre Uhr am Handydisplay. Es war zehn Uhr. Ihre Mutter machte sich gewiss schon Sorgen.
Sie musste zu ihr gehen. Der versprochene Videoabend. Ihre Mutter war endlich wieder einigermaÃen gut gelaunt. Sie konnte ihr weder von dem Besuch bei Emily noch von Jessâ plötzlichem Verschwinden erzählen. Letzteres vor allem weil Lorelai doch nun endlich begonnen hatte ihm eine Chance zu geben.
Rory atmete tief durch. Sie wollte, dass ihre Mutter einen schönen Abend haben würde.
Sie musste versuchen fröhlich zu sein. Glücklich, obwohl es einer der durch und durch furchtbarsten Abende ihres Lebens gewesen war.
Lorelai durfte ihr nichts anmerken. Doch wie spielt man dem Menschen, der einen am besten kennt etwas vor?
Sie blickte sich ein letztes Mal in den Spiegel und war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.
Ein Blick auf Uhr sagte ihr, dass es nun an der Zeit war zu gehen.
Sie nahm ihre Tasche und verlieà das Gebäude. Es war dunkel und nicht ungefährlich in dieser Gegend. Doch die Gedanken an die bevorstehenden Stunden machten sie zu aufgeregt um an mögliche Gefahren zu denken.
Er sah seufzend aus dem Fenster. Es war ein Fehler gewesen. Er hätte es niemals zu lassen dürfen, dass sie aus seinem Leben verschwand. Regen prasselte an die Scheiben. Sie gehörte zu ihm, er zu ihr. Er wollte nichts mehr als sie zurück zu haben. Seine Finger glitten über ihr Foto.
Sie läutete an der Klingel neben dem schon schwer entzifferbaren Schild. Die Zeit bis man ihr öffnete, kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie hatte das Gebäude nie wieder betreten wollen. Langsam ging sie die Stufen empor. Ihre Beine zitterten. Es war die einzige Möglichkeit. Es gab niemanden mit dem sie sonst darüber reden konnte. Sie war sofort nach dem Gespräch her gefahren.
Die alte Dame umarmte sie und forderte sie auf hereinzukommen.
Er strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht und küsste sie.
Sie hatten den ganzen Abend gemeinsam verbracht. Er spürte, dass sie nicht gehen wollte.
Es war falsch. Er liebte eine andere. Er musste sie auffordern zu gehen. Doch ehe er reagieren konnte, hatte sie ihn aufs Bett gezogen.
Laura kletterte vorsichtig aus ihrem Zimmerfenster. Sie durfte keinen Lärm machen, das wäre zu riskant. Beinahe lautlos lief sie die StraÃe hinunter. Es waren nur zwei Minuten bis zu dem Pub. Sie würde zwei Stunden bleiben. Exakt 120 Minuten. Dann würde der Film beinahe aus sein. Sie musste zurück sein bevor ihre Eltern ihre Zimmertür öffnen würden um einen glückseligen Blick auf den Stolz der Familie zu werfen.
Rory stand langsam auf. Es war kurz nach zehn. Ihre Mutter erwartete sie seit über einer Stunde. Der Schlüssel lag immer noch am Boden. Sie hob ihn auf und sperrte langsam auf.
Lorelai war vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie erwachte als Rory den Raum betrat.
âWie lange habe ich geschlafen?â
âUm ehrlich zu sein, ich bin erst gerade gekommen. Ich...ich wurde aufgehalten. Es tut mir leid! Das nächste mal rufe ich an, versprochen.â Rory setzte sich zu ihrer Mutter.
âWer hat dich denn aufgehalten? Warst du noch bei Jess?â
Rory schloss die Augen und atmete tief durch.
Lorelai sah sie besorgt an. âRory?â Sie nahm sie in die Arme. âWas ist denn los, mein Schatz?â
Rory konnte es nicht länger zurück halten. Tränen rannen über ihre Wangen.
Jess betrat das kleine, verrauchte Pub. Er musste auf andere Gedanken kommen. Schuldgefühle plagten ihn. Gegenüber Mandy und gegenüber Rory, die sich bestimmt groÃe Sorgen machte. Aber er konnte nicht mit ihr reden. Noch nicht. Er wusste nicht wie er ihr das sagen sollte. Genauso wenig wusste er wie es nun weiter gehen würde. Er hätte beinahe einen Unfall gehabt, war dem Auto gerade noch rechtzeitig ausgewichen.
Er setzte sich an die Bar.
Jess orderte einen Whiskey. Er brauchte nun etwas Starkes. Heute Nacht würde er einen Platz zum Schlafen brauchen, aber darüber beschloss er später nachzudenken. Wie unwichtig schien es im Moment zu schlafen.
Jessâ Kehle brannte. Er hasste Whiskey. Aber er lieà ihn vergessen. Zumindest für eine kurze Zeitspanne. Er bestellte ein sechstes Glas.
âJess Mariano?â
Er blickte das hübsche Mädchen verwundert an.
Laura lächelte und setzte sich neben ihn. âWie geht es dir?â
Er antwortete nicht.
âErkennst du mich denn nicht?â Sie sah ihn gespielt strafend an.
Jess musterte sie.
âLaura.â sagte sie.
Jess sah sie fragend an, plötzlich weiteten sich seine Augen.
âLaura Cortez?â
Sie nickte lächelnd.
âSpendierst du mir einen Drink?â
âWie bitte?â
âDu hast mir damals versprochen, dass wir ausgehen würden wenn ich 16 bin. Aber das hast du bestimmt auch schon vergessen. Ãbernächste Woche habe ich endlich Geburtstag. Also,
ich denke es wäre angebracht mich einzuladen.â
âVon mir aus, bestell dir etwas.â Er orderte ein weiteres Glas für sich.
âAlles in Ordnung?â Sie sah ihn fragend an.
Jess antwortete nicht. Er blickte schweigend auf sein Glas, schob es schlieÃlich dem Barkeeper zu, der sofort nachschenkte.
Laura beobachtete ihn kritisch.
âBrauchst du Hilfe?â
Er leerte das Glas und orderte ein weiteres.
âNein.â Lallte er.
âDu fährst heute nicht mehr mit dem Auto, hoffe ich.â
âMusst du nicht schon zuhause sein?â Jess war genervt. Sein Kopf rumorte.
Laura warf einen Blick auf ihre Uhr und erkannte, dass es Zeit war zu gehen.
âJess, gib mir deinen Schlüssel!â
âWillst du mein Auto klauen? Glaubst du wirklich ich gebe ausgerechnet dir meinen Schlüssel?"
Laura verdrehte die Augen. âDu bist echt unausstehlich wenn du getrunken hast.â
âDann labere mich nicht voll.â
âSchwöre, dass du nicht mehr fährst!â
âVerschwinde, du nervst.â
âJess, versprich mir im Auto zu schlafen und nicht mehr zu fahren!â
âVon mir aus.â
âSchwöre es!â
Jess stand genervt auf und wankte zur Tür. Alles drehte sich.
Laura bezahlte seine Rechnung und folgte ihm.
Jess lieà sich auf die Stufen vor dem Pub fallen. Er konnte keinen Schritt mehr gehen. Sein Körper sehnte sich nach Schlaf. Das letzte an was er sich erinnern konnte war Lauras Hand auf seiner Schulter.
53. Teil
Der Mond warf ein sanftes Licht auf sie. Er bewunderte ihre Schönheit.
Sie sah ihm in die Augen. Es erfüllte sie mit einem befriedigenden Gefühl in ihnen zu lesen. Er wollte sie. Sie benützte ihn. Er benützte sie. Doch sie würde den gröÃeren Gewinn erzielen.
Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Es regnete bereits seit Stunden. Er saà auf seinem Bett, das Foto noch immer in der Hand haltend. Er konnte seinen Blick nicht von der Frau auf dem Bild abwenden. Er vermisste sie so sehr.
Lorelai streichelte ihrer Tochter sanft über den Kopf. Rorys Augen waren rot und geschwollen. Sie wollte nicht mehr weinen, konnte es nicht mehr. Der Schmerz drohte sie zu erdrücken. Sie hatte ihr alles erzählt.
Lorelai hatte sie in die Arme genommen. So saÃen sie seit beinahe zwei Stunden. Lorelai war wütend. Sie wollte Emily und Jess am liebsten mit der nächsten Rakete zum Mond befördern. Wie konnten diese beiden Menschen es nur wagen ihrer geliebten Tochter so weh zu tun?
âWar sie hübsch, Mum? Du hast sie doch gesehen? War sie wenigstens hübsch?â Rory schluchzte. Ich liebe dich. War das ernst gemeint gewesen? Wo sollte er sonst sein wenn nicht bei ihr? Rory schüttelte sich kurz. Sie wollte diese Gedanken loswerden.
âMein armes Baby.â Lorelai küsste sie auf die Stirn.
âVielleicht sollte ich noch einmal versuchen ihn anzurufen?â
âNein, Schatz. Er muss sich melden.â
âWird er das? Wird er sich melden, Mum?â Rory schluchzte.
Elsa strich Mandy sanft über die Wange. Sie war wie eine Enkeltochter für sie.
Die alte Dame hatte sich immer sehr über ihre Besuche und die Briefe aus Harvard gefreut.
Mandys Augen begannen wieder zu tränen. âIch hätte niemals zu ihm fahren dürfen.â
Elsa dachte an Jessâ Besuch. Sie hatte in ihrem Leben erst dreimal absichtlich gelogen. Vor vielen Jahren bezüglich ihrem Alter; vor sechs Jahren bezüglich dem mysteriösen Verschwinden einer Obstschale, die ihr in Wirklichkeit runter gefallen war. Sie stritt auÃerdem ihr immer schwächer werdendes Gedächtnis ab, was sie selbst allerdings niemals als lügen bezeichnet hätte. Das dritte Mal hatte sie Jess belogen, um Mandy zu schützen â und auch ihn. Stundenlang hatte sie darüber nachgedacht ob es richtig gewesen war.
âAmanda, ich glaub es war richtig, dass du zu ihm gefahren bist. Man kann die Vergangenheit nicht verdrängen. Man muss sie verarbeiten. Habt ihr euch denn richtig ausgesprochen?â
âIch weià es nicht. Nein. Er hat kaum etwas gesagt.â
Elsa nickte und schob ihre Brille zu recht. Es war einer dieser Momente wo sie beinahe etwas Weises ausstrahlte. âIhr müsst miteinander reden. Nur so könnt ihr euer Leben wieder in den Griff bekommen.â
âEs wird niemals wieder so sein wie es war.â
âNein, mein Schatz. Niemals.â
Mandy nickte. âIch glaube, ich werde dann fahren.â
âHasse ihn nicht dafür, Amanda. Er weià es nicht und hat sich deshalb nichts dabei gedacht. Er liebt dich und wird dies immer tun.â
Es war einer dieser Momente, der einen unangenehmen Schauer auf Mandys Rücken auslöste.
Elsa schien oft genau zu wissen woran sie dachte.
âIch könnte ihn niemals hassen.â
Elsa seufzte. âIch weiÃ. Er kennt nur einen Teil der Geschichte. Belasse es dabei.â
Mandy nickte.
âVersprich mir etwas, mein Kind.â
âNatürlich, Elsaâ¦ich meine, sag mir zuerst was.â
Elsa lächelte. âDu hast dazu gelernt. Du wirst nach Harvard fahren.â
Mandy biss sich auf die Unterlippe.
âAmanda, das ist keine Bitte. Du wirst wegen eines Rückschlages nicht alles wegwerfen, hörst du?â
Mandy atmete tief durch und schloss die Augen. Tränen rannen über ihre Wangen.
Laura saà auf den kalten Stiegen vor dem Pub. Sie fror. Jess Kopf lag auf ihrem SchoÃ.
Plötzlich hielt ein Auto mit Vollbremsung vor ihnen. Jess erwachte. Er öffnete leicht die Augen. âJess! Du warst völlig weg getreten.â Sie half ihm sich aufzusetzen.
âWas hast du jetzt schon wieder angestellt? Ich habe um diese Uhrzeit Besseres zu tun!â Plötzlich erblickte Carlos Jess. Er seufzte genervt.
âDanke, dass du gekommen bist. Er hat sich total betrunken. Er wollte mir den Schlüssel nicht geben. Dann ist er raus, ich zahlte seine Rechnung! Fast fünzig Dollar! Dann sank er auf diese Stufen. Ich wollte ihn stützen und wieder aufhelfen, aberâ¦â
âVergiss nicht Luft zuholen. Was hattest du in diesem Pub verloren?â
âDas ist doch jetzt völlig nebensächlich! Was machen wir denn jetzt?â Laura blickte Carlos verzweifelt an.
âMir ist schlecht.â Murmelte Jess.
Laura sah ihn besorgt an.
âKein Wunder. Für fünfzig Dollar kann man hier nicht gerade wenig trinken.â
âEr braucht Hilfe und nicht deine Weisheiten!â
Carlos seufzte und half Jess auf.
âIch glaube, ich mussâ¦â Jess übergab sich.
âSo stellt man sich das Ende eines vollkommenen Tages vor.â Meinte Carlos sarkastisch.
âUnd jetzt gibst du mir den Schlüssel.â Befahl Laura.
âDu wirst deiner Mutter immer ähnlicher.â Carlos grinste.
âWozu? Es geht mir wieder bestens.â
âDu darfst nicht mehr fahren. Sei bitte vernünftig!â
âWeiÃt du was, Kleine? Leiste mir doch auf der Rückbank Gesellschaft, dann kannst du besser auf mich aufpassen.â
Laura tauschte einen Blick mit Carlos. Dieser grinste. âUnd willst du ihm noch immer helfen?â
âWarum müsst ihr immer so widerlich werden wenn ihr betrunken seid? Ist das ein Naturgesetz?â
âErwartest du jetzt eine Antwort?â
âEr muss bei dir schlafen!â
âWie bitte?â Carlos sah sie ungläubig an.
âWo denn sonst? Soll ich bei meinen Eltern anläuten und sagen âHey, ich hab einen alten Bekannten in diesem schäbigen Pub in unserer StraÃe getroffen. Er hat sich völlig betrunken und wird deshalb bei uns schlafen.â?â
âTante Consuela wäre begeistert.â
âBitte Carlos!â Sie sah ihn flehend an.
âDu bist mir was schuldig.â
âAlles was du willst.â
âDarauf komme ich noch zurück.â
Rory erwachte durch ein lautes Hupen. Sie war gegen drei Uhr endlich eingeschlafen.
Verschlafen setzte sie sich auf. Ihr Rücken schmerzte. Plötzlich kamen die Erinnerungen an den letzten Abend. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich. Sie tastete nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag und schaltete es ein.
Vielleicht hat er sich gemeldet. Sie hielt sich an dieser kleinen Hoffnung fest. Langsam tippte sie ihren Pin Code ein. In wenigen Sekunden würde sie es wissen. Ihre Augen ruhten auf dem Display. Sie kontrollierte den Kurzmitteilungen Eingang und hörte ihren Anrufbeantworter ab. Er hatte sich nicht gemeldet.
Sie holte tief Luft. Ich werde nicht wieder weinen. Ich bin eine unabhängige, starke Frau. Kein Mädchen, das ihre Tagesstimmung von den Launen ihres Freundes abhängig macht. Sie
beschloss nicht mehr daran zu denken und das Beste aus ihrem letzten Wochenendtag zu machen.
Sie weckte ihre Mutter. âIch bin hungrig, lass uns zu Luke gehen!â
Lorelai sah sie verwundert an, stimmte aber schlieÃlich zu. Sie machte sich groÃe Sorgen um Rory.
Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht. Ãber ihre gemeinsame Vergangenheit. Er wollte man könnte die Zeit zurück drehen. Er musste handeln, durfte sie nicht so einfach aufgeben.
Jess öffnete seine Augen. Sein Kopf rumorte. Er setzte sich langsam auf. Seine Augen wanderten verwirrt durch den kleinen Raum. Er wusste weder wo er war noch wie er hier her gekommen war.
Carlos saà im Wohnzimmer und las die New York Times, als Jess den Raum betrat.
âWas mache ich hier?â
Carlos sah nicht auf. âDu hast hier übernachtet.â
âWarum?â
âWeil meine Cousine ein sehr ausgeprägtes Helfersyndrom hat.â
Jess setzte sich neben ihn. âWelche Cousine?â
âLaura. Welche Cousine von mir wohnt denn noch in New York?â
âLauraâ¦ich kann mich nicht erinnern sie getroffen zu habenâ¦â Jess dachte angestrengt nach. âDoch da war jemandâ¦ich weià nur mehr Bruchstückeâ¦â
âDu schuldest ihr übrigens fünfzig Dollar. Warum betrinkst du dich um fünfzig Dollar? Gibt dir dein Onkel soviel Taschengeld? Oder hast du irgendeinen tollen Nebenjob wo du das groÃe Geld machst? Dann wolltest du noch Auto fahrenâ¦â
âKönntest du leiser reden, ich habe Kopfschmerzen.â Jess fuhr sich durch die Haare. Mandy, Rory. Die Ereignisse des Vortages liefen wie ein Film vor seinen Augen ab.
Mandy hatte schlieÃlich doch bei Elsa übernachtet. Vormittags machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto. Sie hasste es diese StraÃe hinunter zu gehen. Furchtbare Erinnerungen kamen hoch. Sie versuchte diese abzuschütteln, was ihr jedoch nicht gelang.
Mandy beschloss einen Umweg durch kleine Seitengassen zu gehen. An einer Ecke sah sie ein Mädchen, das bettelte. Sie gab ihr etwas Geld.
Mandy ging langsam weiter. Sie war diesen Weg früher oft gegangen. Ihr Blick fiel auf ein groÃes Schild, das vor einer Glastür hing. Zu verkaufen. Sie sah durch die schmutzigen Fenster. Früher war hier ein Eiscafeâ gewesen. Das Eis war billig gewesen und hatte auch dementsprechend geschmeckt, trotzdem waren sie oft hier gewesen. Jess hatte sie in diesem Cafeâ das erste Mal geküsst. Er war es auch mit dem sie das letzte Mal hier gewesen war. Am Tag bevor sie von ihm schwanger geworden war.
âHey, das Cafeâ gibt es nicht mehr.â
Mandy drehte sich um. Samantha lächelte sie an.
âWas machst du denn hier? Studierst du nicht an so einer noblen Uni? Princeton, Yale?â
âHarvard.â Antwortete Mandy kühl.
âIst doch alles dasselbe.â
âFür dich schon.â
âDu bist sehr gut drauf heute. Was machst du in New York? Du willst wohl kaum diesen Laden kaufen.â
âWohl kaum. Ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Auto.â
âAch ja, deine Tante hat dir ja dieses tolle Auto geschenkt, damit du dich von uns abhebst.â
Mandy verdrehte genervt die Augen.
âHast du es extra weit weg geparkt damit es nicht gestohlen wird?â
âSagt dir das Wort Parkverbot etwas?â
âDu willst zu ihm, habe ich recht?â Samantha lächelte triumphierend.
Mandy ging weiter, doch sie folgte ihr.
âAkzeptier es endlich, SüÃe. Er will nichts von dir. Rein gar nichts. Er hat doch nur aus Mitleid noch Kontakt zu dir.â
Mandy funkelte sie wütend an. âEr hat eine wirklich liebe Freundin, vielleicht solltest DU das endlich akzeptieren!â
âTatsächlich? Von ihr hat er letzte Nacht kein Wort erwähnt.â
Laura rannte den ganzen Weg von der U-Bahn Station zu Carlosâ Wohnung.
Plötzlich stieà sie mit einer jungen Frau zusammen und stürzte beinahe.
âEntschuldige.â Sarah half ihr auf.
âSarah?â Laura umarmte sie. Sie hatten sich schon sehr lange nicht mehr gesehen.
âWie geht es dir denn? Du wirst immer hübscher.â Sarah lächelte.
âDanke, gut und dir?â
âSehr gut. Ich studiere jetzt.â
âWow, das ist toll.â Laura strahlte. Sie wollte auch in drei Jahren studieren.
âDu hattest es so eilig. Wohin gehst du denn?â
Lauras Miene veränderte sich. âZu Carlos. Jess ging es letzte Nacht sehr schlecht, deshalb hat er bei ihm übernachtet. Er hatte sich betrunken. Ich hoffe es geht ihm heute wieder besser.â
Sarah sah sie besorgt an. âDas hoffe ich auch. Warum hat er sich denn betrunken?â
âIch weià es nicht.â
âWeiÃt du Laura, ich finde es schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben. Treffen wir uns doch hin und wieder und telefonieren wir.â Sie reichte ihr eine Visitenkarte.
âDas wäre schön.â Laura lächelte. Sarah war immer nett zu ihr gewesen. Sie hatte sie zwar nie sehr gut gekannt, sie aber für ihr selbstbewusstes Auftreten und ihr Aussehen bewundert.
âIch freue mich schon.â
âIch mich auch. Ich wollte schon immer deine Freundin sein.â
âDu solltest dann zu Jess gehen. Ruf mich mal an wenn du Zeit hast!"
âMach ich.â Laura lächelte und ging weiter.
Sarah sah ihr lächelnd nach.
Lorelai trank ihren Cafeâ aus.
âDie Pancakes waren echt klasse.â Lobte Rory. Sie versuchte fröhlich zu klingen.
âJa, Luke hat sich wieder echt Mühe gegeben.â Lorelai blickte lächelnd auf ihren Freund, der gerade einem Mann, der an der Bar saÃ, Kaffee nachschenkte.
âMum, ich glaube ich werde dann nach New Haven fahren.â
âBist du dir sicher?â
Rory nickte. Das Lernen würde sie am Besten ablenken. Hoffte sie zumindest.
âIch komme gleich.â Rory stand auf und verlieà das Diner.
Sie hatte sich vorgenommen es nicht zu tun. Aber sie konnte nicht länger warten. Zitternd wählte sie Jessâ Nummer. Das Herz blieb ihr fast stehen als sie realisierte, dass er das Handy eingeschaltet hatte.
Es war eine laue Nacht, ein zarter Wind wehte. Der Himmel war ganz klar, man konnte die Sterne in schönster Pracht strahlen sehen.
Rory fröstelte. Wie spät es wohl sein mochte? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Wusste nicht wie lange sie schon auf den Stufen saÃ. Ob Minuten, ob Stunden â es machte keinerlei Unterschied.
Ihre Hände zitterten als sie den Brief erneut auseinander faltete und zu lesen begann.
Sie wusste nicht mehr wie oft sie ihn schon gelesen hatte.
Der Text blieb derselbe,wie oft sie ihn auch las. Dennoch tat sie es wieder und wieder, in der Hoffnung zu verstehen.
Liebe Rory,
Jess hatte schnell geschrieben. Er musste es sehr eilig gehabt haben. Nur wohin musste er so eilig? Wer war diese junge Frau, von der Luke gesprochen hatte? War er bei ihr?
Es tut mir leid, dass wir uns heute nicht mehr sehen werden.
Rory sah kurz hoch, weil sie glaubte ein Geräusch gehört zu haben.
Aber ich muss für ein paar Tage weg von hier.
Rory runzelte die Stirn. Sie stellte sich immer wieder dieselben Fragen.
Wohin war er gefahren? Warum hatte er es so eilig gehabt? Warum hat er sie nicht einfach angerufen? Wie lange wird er bleiben? Wird er überhaupt wieder kommen?
Ich liebe dich
Jess
Was war nur passiert, dass ihn zu einem so schnellen Aufbruch bewegte?
Rory strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie las den Brief ein weiteres Mal.
Rory tastete nach ihrer Tasche und zog das Handy heraus. Vielleicht hatte sie es unabsichtlich auf lautlos gestellt oder abgeschalten. Ihre kleine Hoffnung wurde mit einem kurzen Blick auf das Display zerstört.
Sie wählte Jess Nummer, immer und immer wieder, aber sie kam jedes Mal auf seinen Anrufbeantworter.
Unfähig etwas darauf zu sprechen, legte sie wieder auf.
Ihr Herz schmerzte. Er hatte sie alleine gelassen, nur diese kurzen Zeilen hinterlassen.
Ich liebe dich. Rory fixierte diese drei Wörter immer wieder. Sie waren wie ein Rettungsanker
Vielleicht gab es ja einen Grund und er würde bald anrufen um ihr alles zu erklären. Sie redete sich diesen Satz immer und immer wieder ein.
Rorys Blick fiel auf ihre Uhr am Handydisplay. Es war zehn Uhr. Ihre Mutter machte sich gewiss schon Sorgen.
Sie musste zu ihr gehen. Der versprochene Videoabend. Ihre Mutter war endlich wieder einigermaÃen gut gelaunt. Sie konnte ihr weder von dem Besuch bei Emily noch von Jessâ plötzlichem Verschwinden erzählen. Letzteres vor allem weil Lorelai doch nun endlich begonnen hatte ihm eine Chance zu geben.
Rory atmete tief durch. Sie wollte, dass ihre Mutter einen schönen Abend haben würde.
Sie musste versuchen fröhlich zu sein. Glücklich, obwohl es einer der durch und durch furchtbarsten Abende ihres Lebens gewesen war.
Lorelai durfte ihr nichts anmerken. Doch wie spielt man dem Menschen, der einen am besten kennt etwas vor?
Sie blickte sich ein letztes Mal in den Spiegel und war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.
Ein Blick auf Uhr sagte ihr, dass es nun an der Zeit war zu gehen.
Sie nahm ihre Tasche und verlieà das Gebäude. Es war dunkel und nicht ungefährlich in dieser Gegend. Doch die Gedanken an die bevorstehenden Stunden machten sie zu aufgeregt um an mögliche Gefahren zu denken.
Er sah seufzend aus dem Fenster. Es war ein Fehler gewesen. Er hätte es niemals zu lassen dürfen, dass sie aus seinem Leben verschwand. Regen prasselte an die Scheiben. Sie gehörte zu ihm, er zu ihr. Er wollte nichts mehr als sie zurück zu haben. Seine Finger glitten über ihr Foto.
Sie läutete an der Klingel neben dem schon schwer entzifferbaren Schild. Die Zeit bis man ihr öffnete, kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Sie hatte das Gebäude nie wieder betreten wollen. Langsam ging sie die Stufen empor. Ihre Beine zitterten. Es war die einzige Möglichkeit. Es gab niemanden mit dem sie sonst darüber reden konnte. Sie war sofort nach dem Gespräch her gefahren.
Die alte Dame umarmte sie und forderte sie auf hereinzukommen.
Er strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht und küsste sie.
Sie hatten den ganzen Abend gemeinsam verbracht. Er spürte, dass sie nicht gehen wollte.
Es war falsch. Er liebte eine andere. Er musste sie auffordern zu gehen. Doch ehe er reagieren konnte, hatte sie ihn aufs Bett gezogen.
Laura kletterte vorsichtig aus ihrem Zimmerfenster. Sie durfte keinen Lärm machen, das wäre zu riskant. Beinahe lautlos lief sie die StraÃe hinunter. Es waren nur zwei Minuten bis zu dem Pub. Sie würde zwei Stunden bleiben. Exakt 120 Minuten. Dann würde der Film beinahe aus sein. Sie musste zurück sein bevor ihre Eltern ihre Zimmertür öffnen würden um einen glückseligen Blick auf den Stolz der Familie zu werfen.
Rory stand langsam auf. Es war kurz nach zehn. Ihre Mutter erwartete sie seit über einer Stunde. Der Schlüssel lag immer noch am Boden. Sie hob ihn auf und sperrte langsam auf.
Lorelai war vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie erwachte als Rory den Raum betrat.
âWie lange habe ich geschlafen?â
âUm ehrlich zu sein, ich bin erst gerade gekommen. Ich...ich wurde aufgehalten. Es tut mir leid! Das nächste mal rufe ich an, versprochen.â Rory setzte sich zu ihrer Mutter.
âWer hat dich denn aufgehalten? Warst du noch bei Jess?â
Rory schloss die Augen und atmete tief durch.
Lorelai sah sie besorgt an. âRory?â Sie nahm sie in die Arme. âWas ist denn los, mein Schatz?â
Rory konnte es nicht länger zurück halten. Tränen rannen über ihre Wangen.
Jess betrat das kleine, verrauchte Pub. Er musste auf andere Gedanken kommen. Schuldgefühle plagten ihn. Gegenüber Mandy und gegenüber Rory, die sich bestimmt groÃe Sorgen machte. Aber er konnte nicht mit ihr reden. Noch nicht. Er wusste nicht wie er ihr das sagen sollte. Genauso wenig wusste er wie es nun weiter gehen würde. Er hätte beinahe einen Unfall gehabt, war dem Auto gerade noch rechtzeitig ausgewichen.
Er setzte sich an die Bar.
Jess orderte einen Whiskey. Er brauchte nun etwas Starkes. Heute Nacht würde er einen Platz zum Schlafen brauchen, aber darüber beschloss er später nachzudenken. Wie unwichtig schien es im Moment zu schlafen.
Jessâ Kehle brannte. Er hasste Whiskey. Aber er lieà ihn vergessen. Zumindest für eine kurze Zeitspanne. Er bestellte ein sechstes Glas.
âJess Mariano?â
Er blickte das hübsche Mädchen verwundert an.
Laura lächelte und setzte sich neben ihn. âWie geht es dir?â
Er antwortete nicht.
âErkennst du mich denn nicht?â Sie sah ihn gespielt strafend an.
Jess musterte sie.
âLaura.â sagte sie.
Jess sah sie fragend an, plötzlich weiteten sich seine Augen.
âLaura Cortez?â
Sie nickte lächelnd.
âSpendierst du mir einen Drink?â
âWie bitte?â
âDu hast mir damals versprochen, dass wir ausgehen würden wenn ich 16 bin. Aber das hast du bestimmt auch schon vergessen. Ãbernächste Woche habe ich endlich Geburtstag. Also,
ich denke es wäre angebracht mich einzuladen.â
âVon mir aus, bestell dir etwas.â Er orderte ein weiteres Glas für sich.
âAlles in Ordnung?â Sie sah ihn fragend an.
Jess antwortete nicht. Er blickte schweigend auf sein Glas, schob es schlieÃlich dem Barkeeper zu, der sofort nachschenkte.
Laura beobachtete ihn kritisch.
âBrauchst du Hilfe?â
Er leerte das Glas und orderte ein weiteres.
âNein.â Lallte er.
âDu fährst heute nicht mehr mit dem Auto, hoffe ich.â
âMusst du nicht schon zuhause sein?â Jess war genervt. Sein Kopf rumorte.
Laura warf einen Blick auf ihre Uhr und erkannte, dass es Zeit war zu gehen.
âJess, gib mir deinen Schlüssel!â
âWillst du mein Auto klauen? Glaubst du wirklich ich gebe ausgerechnet dir meinen Schlüssel?"
Laura verdrehte die Augen. âDu bist echt unausstehlich wenn du getrunken hast.â
âDann labere mich nicht voll.â
âSchwöre, dass du nicht mehr fährst!â
âVerschwinde, du nervst.â
âJess, versprich mir im Auto zu schlafen und nicht mehr zu fahren!â
âVon mir aus.â
âSchwöre es!â
Jess stand genervt auf und wankte zur Tür. Alles drehte sich.
Laura bezahlte seine Rechnung und folgte ihm.
Jess lieà sich auf die Stufen vor dem Pub fallen. Er konnte keinen Schritt mehr gehen. Sein Körper sehnte sich nach Schlaf. Das letzte an was er sich erinnern konnte war Lauras Hand auf seiner Schulter.
53. Teil
Der Mond warf ein sanftes Licht auf sie. Er bewunderte ihre Schönheit.
Sie sah ihm in die Augen. Es erfüllte sie mit einem befriedigenden Gefühl in ihnen zu lesen. Er wollte sie. Sie benützte ihn. Er benützte sie. Doch sie würde den gröÃeren Gewinn erzielen.
Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Es regnete bereits seit Stunden. Er saà auf seinem Bett, das Foto noch immer in der Hand haltend. Er konnte seinen Blick nicht von der Frau auf dem Bild abwenden. Er vermisste sie so sehr.
Lorelai streichelte ihrer Tochter sanft über den Kopf. Rorys Augen waren rot und geschwollen. Sie wollte nicht mehr weinen, konnte es nicht mehr. Der Schmerz drohte sie zu erdrücken. Sie hatte ihr alles erzählt.
Lorelai hatte sie in die Arme genommen. So saÃen sie seit beinahe zwei Stunden. Lorelai war wütend. Sie wollte Emily und Jess am liebsten mit der nächsten Rakete zum Mond befördern. Wie konnten diese beiden Menschen es nur wagen ihrer geliebten Tochter so weh zu tun?
âWar sie hübsch, Mum? Du hast sie doch gesehen? War sie wenigstens hübsch?â Rory schluchzte. Ich liebe dich. War das ernst gemeint gewesen? Wo sollte er sonst sein wenn nicht bei ihr? Rory schüttelte sich kurz. Sie wollte diese Gedanken loswerden.
âMein armes Baby.â Lorelai küsste sie auf die Stirn.
âVielleicht sollte ich noch einmal versuchen ihn anzurufen?â
âNein, Schatz. Er muss sich melden.â
âWird er das? Wird er sich melden, Mum?â Rory schluchzte.
Elsa strich Mandy sanft über die Wange. Sie war wie eine Enkeltochter für sie.
Die alte Dame hatte sich immer sehr über ihre Besuche und die Briefe aus Harvard gefreut.
Mandys Augen begannen wieder zu tränen. âIch hätte niemals zu ihm fahren dürfen.â
Elsa dachte an Jessâ Besuch. Sie hatte in ihrem Leben erst dreimal absichtlich gelogen. Vor vielen Jahren bezüglich ihrem Alter; vor sechs Jahren bezüglich dem mysteriösen Verschwinden einer Obstschale, die ihr in Wirklichkeit runter gefallen war. Sie stritt auÃerdem ihr immer schwächer werdendes Gedächtnis ab, was sie selbst allerdings niemals als lügen bezeichnet hätte. Das dritte Mal hatte sie Jess belogen, um Mandy zu schützen â und auch ihn. Stundenlang hatte sie darüber nachgedacht ob es richtig gewesen war.
âAmanda, ich glaub es war richtig, dass du zu ihm gefahren bist. Man kann die Vergangenheit nicht verdrängen. Man muss sie verarbeiten. Habt ihr euch denn richtig ausgesprochen?â
âIch weià es nicht. Nein. Er hat kaum etwas gesagt.â
Elsa nickte und schob ihre Brille zu recht. Es war einer dieser Momente wo sie beinahe etwas Weises ausstrahlte. âIhr müsst miteinander reden. Nur so könnt ihr euer Leben wieder in den Griff bekommen.â
âEs wird niemals wieder so sein wie es war.â
âNein, mein Schatz. Niemals.â
Mandy nickte. âIch glaube, ich werde dann fahren.â
âHasse ihn nicht dafür, Amanda. Er weià es nicht und hat sich deshalb nichts dabei gedacht. Er liebt dich und wird dies immer tun.â
Es war einer dieser Momente, der einen unangenehmen Schauer auf Mandys Rücken auslöste.
Elsa schien oft genau zu wissen woran sie dachte.
âIch könnte ihn niemals hassen.â
Elsa seufzte. âIch weiÃ. Er kennt nur einen Teil der Geschichte. Belasse es dabei.â
Mandy nickte.
âVersprich mir etwas, mein Kind.â
âNatürlich, Elsaâ¦ich meine, sag mir zuerst was.â
Elsa lächelte. âDu hast dazu gelernt. Du wirst nach Harvard fahren.â
Mandy biss sich auf die Unterlippe.
âAmanda, das ist keine Bitte. Du wirst wegen eines Rückschlages nicht alles wegwerfen, hörst du?â
Mandy atmete tief durch und schloss die Augen. Tränen rannen über ihre Wangen.
Laura saà auf den kalten Stiegen vor dem Pub. Sie fror. Jess Kopf lag auf ihrem SchoÃ.
Plötzlich hielt ein Auto mit Vollbremsung vor ihnen. Jess erwachte. Er öffnete leicht die Augen. âJess! Du warst völlig weg getreten.â Sie half ihm sich aufzusetzen.
âWas hast du jetzt schon wieder angestellt? Ich habe um diese Uhrzeit Besseres zu tun!â Plötzlich erblickte Carlos Jess. Er seufzte genervt.
âDanke, dass du gekommen bist. Er hat sich total betrunken. Er wollte mir den Schlüssel nicht geben. Dann ist er raus, ich zahlte seine Rechnung! Fast fünzig Dollar! Dann sank er auf diese Stufen. Ich wollte ihn stützen und wieder aufhelfen, aberâ¦â
âVergiss nicht Luft zuholen. Was hattest du in diesem Pub verloren?â
âDas ist doch jetzt völlig nebensächlich! Was machen wir denn jetzt?â Laura blickte Carlos verzweifelt an.
âMir ist schlecht.â Murmelte Jess.
Laura sah ihn besorgt an.
âKein Wunder. Für fünfzig Dollar kann man hier nicht gerade wenig trinken.â
âEr braucht Hilfe und nicht deine Weisheiten!â
Carlos seufzte und half Jess auf.
âIch glaube, ich mussâ¦â Jess übergab sich.
âSo stellt man sich das Ende eines vollkommenen Tages vor.â Meinte Carlos sarkastisch.
âUnd jetzt gibst du mir den Schlüssel.â Befahl Laura.
âDu wirst deiner Mutter immer ähnlicher.â Carlos grinste.
âWozu? Es geht mir wieder bestens.â
âDu darfst nicht mehr fahren. Sei bitte vernünftig!â
âWeiÃt du was, Kleine? Leiste mir doch auf der Rückbank Gesellschaft, dann kannst du besser auf mich aufpassen.â
Laura tauschte einen Blick mit Carlos. Dieser grinste. âUnd willst du ihm noch immer helfen?â
âWarum müsst ihr immer so widerlich werden wenn ihr betrunken seid? Ist das ein Naturgesetz?â
âErwartest du jetzt eine Antwort?â
âEr muss bei dir schlafen!â
âWie bitte?â Carlos sah sie ungläubig an.
âWo denn sonst? Soll ich bei meinen Eltern anläuten und sagen âHey, ich hab einen alten Bekannten in diesem schäbigen Pub in unserer StraÃe getroffen. Er hat sich völlig betrunken und wird deshalb bei uns schlafen.â?â
âTante Consuela wäre begeistert.â
âBitte Carlos!â Sie sah ihn flehend an.
âDu bist mir was schuldig.â
âAlles was du willst.â
âDarauf komme ich noch zurück.â
Rory erwachte durch ein lautes Hupen. Sie war gegen drei Uhr endlich eingeschlafen.
Verschlafen setzte sie sich auf. Ihr Rücken schmerzte. Plötzlich kamen die Erinnerungen an den letzten Abend. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich. Sie tastete nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag und schaltete es ein.
Vielleicht hat er sich gemeldet. Sie hielt sich an dieser kleinen Hoffnung fest. Langsam tippte sie ihren Pin Code ein. In wenigen Sekunden würde sie es wissen. Ihre Augen ruhten auf dem Display. Sie kontrollierte den Kurzmitteilungen Eingang und hörte ihren Anrufbeantworter ab. Er hatte sich nicht gemeldet.
Sie holte tief Luft. Ich werde nicht wieder weinen. Ich bin eine unabhängige, starke Frau. Kein Mädchen, das ihre Tagesstimmung von den Launen ihres Freundes abhängig macht. Sie
beschloss nicht mehr daran zu denken und das Beste aus ihrem letzten Wochenendtag zu machen.
Sie weckte ihre Mutter. âIch bin hungrig, lass uns zu Luke gehen!â
Lorelai sah sie verwundert an, stimmte aber schlieÃlich zu. Sie machte sich groÃe Sorgen um Rory.
Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht. Ãber ihre gemeinsame Vergangenheit. Er wollte man könnte die Zeit zurück drehen. Er musste handeln, durfte sie nicht so einfach aufgeben.
Jess öffnete seine Augen. Sein Kopf rumorte. Er setzte sich langsam auf. Seine Augen wanderten verwirrt durch den kleinen Raum. Er wusste weder wo er war noch wie er hier her gekommen war.
Carlos saà im Wohnzimmer und las die New York Times, als Jess den Raum betrat.
âWas mache ich hier?â
Carlos sah nicht auf. âDu hast hier übernachtet.â
âWarum?â
âWeil meine Cousine ein sehr ausgeprägtes Helfersyndrom hat.â
Jess setzte sich neben ihn. âWelche Cousine?â
âLaura. Welche Cousine von mir wohnt denn noch in New York?â
âLauraâ¦ich kann mich nicht erinnern sie getroffen zu habenâ¦â Jess dachte angestrengt nach. âDoch da war jemandâ¦ich weià nur mehr Bruchstückeâ¦â
âDu schuldest ihr übrigens fünfzig Dollar. Warum betrinkst du dich um fünfzig Dollar? Gibt dir dein Onkel soviel Taschengeld? Oder hast du irgendeinen tollen Nebenjob wo du das groÃe Geld machst? Dann wolltest du noch Auto fahrenâ¦â
âKönntest du leiser reden, ich habe Kopfschmerzen.â Jess fuhr sich durch die Haare. Mandy, Rory. Die Ereignisse des Vortages liefen wie ein Film vor seinen Augen ab.
Mandy hatte schlieÃlich doch bei Elsa übernachtet. Vormittags machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto. Sie hasste es diese StraÃe hinunter zu gehen. Furchtbare Erinnerungen kamen hoch. Sie versuchte diese abzuschütteln, was ihr jedoch nicht gelang.
Mandy beschloss einen Umweg durch kleine Seitengassen zu gehen. An einer Ecke sah sie ein Mädchen, das bettelte. Sie gab ihr etwas Geld.
Mandy ging langsam weiter. Sie war diesen Weg früher oft gegangen. Ihr Blick fiel auf ein groÃes Schild, das vor einer Glastür hing. Zu verkaufen. Sie sah durch die schmutzigen Fenster. Früher war hier ein Eiscafeâ gewesen. Das Eis war billig gewesen und hatte auch dementsprechend geschmeckt, trotzdem waren sie oft hier gewesen. Jess hatte sie in diesem Cafeâ das erste Mal geküsst. Er war es auch mit dem sie das letzte Mal hier gewesen war. Am Tag bevor sie von ihm schwanger geworden war.
âHey, das Cafeâ gibt es nicht mehr.â
Mandy drehte sich um. Samantha lächelte sie an.
âWas machst du denn hier? Studierst du nicht an so einer noblen Uni? Princeton, Yale?â
âHarvard.â Antwortete Mandy kühl.
âIst doch alles dasselbe.â
âFür dich schon.â
âDu bist sehr gut drauf heute. Was machst du in New York? Du willst wohl kaum diesen Laden kaufen.â
âWohl kaum. Ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Auto.â
âAch ja, deine Tante hat dir ja dieses tolle Auto geschenkt, damit du dich von uns abhebst.â
Mandy verdrehte genervt die Augen.
âHast du es extra weit weg geparkt damit es nicht gestohlen wird?â
âSagt dir das Wort Parkverbot etwas?â
âDu willst zu ihm, habe ich recht?â Samantha lächelte triumphierend.
Mandy ging weiter, doch sie folgte ihr.
âAkzeptier es endlich, SüÃe. Er will nichts von dir. Rein gar nichts. Er hat doch nur aus Mitleid noch Kontakt zu dir.â
Mandy funkelte sie wütend an. âEr hat eine wirklich liebe Freundin, vielleicht solltest DU das endlich akzeptieren!â
âTatsächlich? Von ihr hat er letzte Nacht kein Wort erwähnt.â
Laura rannte den ganzen Weg von der U-Bahn Station zu Carlosâ Wohnung.
Plötzlich stieà sie mit einer jungen Frau zusammen und stürzte beinahe.
âEntschuldige.â Sarah half ihr auf.
âSarah?â Laura umarmte sie. Sie hatten sich schon sehr lange nicht mehr gesehen.
âWie geht es dir denn? Du wirst immer hübscher.â Sarah lächelte.
âDanke, gut und dir?â
âSehr gut. Ich studiere jetzt.â
âWow, das ist toll.â Laura strahlte. Sie wollte auch in drei Jahren studieren.
âDu hattest es so eilig. Wohin gehst du denn?â
Lauras Miene veränderte sich. âZu Carlos. Jess ging es letzte Nacht sehr schlecht, deshalb hat er bei ihm übernachtet. Er hatte sich betrunken. Ich hoffe es geht ihm heute wieder besser.â
Sarah sah sie besorgt an. âDas hoffe ich auch. Warum hat er sich denn betrunken?â
âIch weià es nicht.â
âWeiÃt du Laura, ich finde es schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben. Treffen wir uns doch hin und wieder und telefonieren wir.â Sie reichte ihr eine Visitenkarte.
âDas wäre schön.â Laura lächelte. Sarah war immer nett zu ihr gewesen. Sie hatte sie zwar nie sehr gut gekannt, sie aber für ihr selbstbewusstes Auftreten und ihr Aussehen bewundert.
âIch freue mich schon.â
âIch mich auch. Ich wollte schon immer deine Freundin sein.â
âDu solltest dann zu Jess gehen. Ruf mich mal an wenn du Zeit hast!"
âMach ich.â Laura lächelte und ging weiter.
Sarah sah ihr lächelnd nach.
Lorelai trank ihren Cafeâ aus.
âDie Pancakes waren echt klasse.â Lobte Rory. Sie versuchte fröhlich zu klingen.
âJa, Luke hat sich wieder echt Mühe gegeben.â Lorelai blickte lächelnd auf ihren Freund, der gerade einem Mann, der an der Bar saÃ, Kaffee nachschenkte.
âMum, ich glaube ich werde dann nach New Haven fahren.â
âBist du dir sicher?â
Rory nickte. Das Lernen würde sie am Besten ablenken. Hoffte sie zumindest.
âIch komme gleich.â Rory stand auf und verlieà das Diner.
Sie hatte sich vorgenommen es nicht zu tun. Aber sie konnte nicht länger warten. Zitternd wählte sie Jessâ Nummer. Das Herz blieb ihr fast stehen als sie realisierte, dass er das Handy eingeschaltet hatte.