23.08.2005, 18:01
Sie geht in die Knie, nimmt eines der lose auf dem Boden verteilten Blätter in die Hand, liest die ersten paar Zeilen. Ein Knoten in ihrem Magen, legt sie es zur Seite, nimmt ein zweites und drittes Blatt, nimmt einen dicken Stapel und durchblättert ihn hastig, lässt ihn schlieÃlich wieder sinken und sieht Rory an, welche sich neugierig aufgerichtet hat.
âWas ist das?â, erkundigt sie sich.
âBriefeâ, antwortet sie tonlos. âVon Dad. Von Mom.â
âBriefe?â, sie steht auf, geht zu Lorelai, geht neben ihr in die Knie und will gerade eines der dicht beschriebenen Blätter aufnehmen, als ihre Mutter sie abhält.
âNeinâ, sagt sie scharf, beginnt gleichzeitig selbst nach den Blättern zu greifen, sie wieder ordentlich zu stapeln, legt das dicke Bündel zurück in den Karton.
âMom?â
âDas sind Kopien, Roryâ, sie legt den Deckel zurück auf die Schachtel.
âIch verstehe nichtâ¦â, sie runzelt die Stirn.
âJemand hat diese Briefe kopiert, hat die Originale fein säuberlich abgeschrieben.â
âBist du sicher?â
âNatürlich bin ich dasâ, erklärt sie gereizt. âDas ist nicht Momâs Schrift. Genauso wenig wie es Dadâs Schrift ist. Es sind Kopien, Rory.â
âAus welchem Grund sollte Grandma ââ
âDas war sie nichtâ, unterbricht Lorelai ihre Tochter. âDas sind private Briefe, das sind gottverdammte Liebesbriefe. Deine GroÃmutter würde niemals jemand Fremden derartige Briefe sehen lassen, geschweige denn sie kopieren lassen. Kein Mensch würde das tun.â
âAber wo kommen sie dann her?â
âVermutlich sollte ich das meine GroÃmutter fragenâ, sie streicht sich durchs Haar, lehnt sich gegen den Schrank. Rory tut es ihr gleich und beide starren auf die Kiste, starren und überlegen. âEs ist irgendwie so, als würde man in einem Laden voller Schuhe stehenâ, wispert Lorelai. âÃberall Schuhe, unendlich viele Schuhe und weit und breit kein Verkäufer, keine anderen Kunden, keine Menschenseele, keine Ãberwachungskameras, nichts. Man weiÃ, man könnte dieses schicke paar Gucci-Stiefel mitnehmen, keiner würde es sehen, man könnte sie einfach mitnehmen. Was man natürlich nicht tut, weil es falsch wäre. Und hinterher, hinterher, da bereut man es.â
Rory blinzelt, während sie nur langsam begreift, was Lorelai meint. âAber es würde doch nichts dagegen sprechen, sie wenigstens kurz anzuprobieren. SchlieÃlich ist ja niemand da, nur ein paar kleine Schritte darin, zwei, drei Meter.â
âIch weià nichtâ, sagt sie nachdenklich, beugt sich dennoch nach vorne und hebt den Deckel wieder zur Seite, nimmt das oberste Blatt, legt es auf den Boden, streicht es fein säuberlich glatt, streift mit dem Daumen über das Datum, der Knoten in ihrem Magen wird gröÃer. âEr ist vom 16. Mai â68â, flüstert sie. Ein Tag vor meiner Geburt, denkt sie, beide Frauen denken es. Ein Tag. Ein Tag â âRory?â, sie sieht ihre Tochter ratlos an.
âMmh?â
âWürdest duâ¦â, Lorelai nimmt das Blatt wieder auf, reicht ihn Rory. âLies du ihn.â
âIch weià nicht, Mom.â
âDu hast Recht. Wir sollten es nicht tun. Es wäre falschâ, ein Schulterzucken, ein Lächeln. âAndererseits â wir wären nicht die ersten, die diese Briefe lesen. Und es wären ja nicht alle, oder? Es wäre nur dieser eine. AuÃerdem â ich war ja praktisch dabei, als sie ihn geschrieben hat, es wäre nicht wirklich falsch.â
âNur dieser eineâ, Rory nickt.
âDann sind wir uns also einigâ, sie atmet tief durch. âLies ihn vor.â
Sie zögert einen Moment, nickt aber schlieÃlich erneut, befeuchtet sich die Zunge, räuspert sich. Beginnt mit leiser Stimme zu lesen.
Richard,
ich hoffe, du wirst vor Scham in den Boden versinken, mir drei Wochen nicht zu schreiben! Ich ahne zwar weswegen du es nicht tust, aber du wolltest es nicht anders, also musst du auch mit den Konsequenzen leben. SchlieÃlich warst du es, der mich immer wieder wegen dieser albernen Photographie bedrängt hat, ich wollte nicht, lass es dir noch einmal gesagt sein. Das habe ich jetzt davon, dass ich deinem Zureden letzten Endes doch nachgegeben habe, anstatt meinem Instinkt und meinen Augen zu trauen. Und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Unmengen von Tinte habe ich darauf verwendet, meinen Unmut über meine Unförmigkeit Ausdruck zu verleihen, aber du wolltest ja nicht hören. Von daher steht es mir wohl zu, von dir zu verlangen, das Ganze mit Fassung zu tragen, zumal ich hoffe, dass ich eines Tages wieder deinen Vorstellungen entsprechen werde â auch wenn es momentan nicht den Anschein hat. Im Gegenteil, es ist unglaublich wie schnell unser Kind in mir heranwächst, jeder Blick in den Spiegel lässt mich staunen, ebenso wie jeder Tritt es tut. Waren sie am Anfang nur sachte, beinahe ein Streicheln, so werden sie von Tag zu Tag kräftiger, manchmal beinahe zu kräftig, geradeso als wolle das Kleine mir mitteilen, dass ihm seine Herberge nicht mehr zusagt. (Wage es nicht, ich weià du fühlst dich versucht, aber lass den Gedanken wieder dorthin verschwinden, wo er seinen Ursprung nahm.) Doch noch sind es vier Wochen bis zum Geburtstermin, eine Zeit die mir unendlich lange erscheint. Wenn ich allerdings bedenke wie schnell die letzten Monate verflogen sind, dann sind dreiÃig Tage eine Winzigkeit, ein Wimpernschlag.
Glaubst du es wird uns ähnlich sehen? Ich versuche zwar angestrengt mir sein Aussehen auszumalen, aber es will mir nicht gelingen, ich schaffe es einfach nicht ein befriedigendes Bild zusammenzubekommen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, dann zerfällt es wieder. Stelle ich mir einen Jungen vor, so bin ich plötzlich der festen Ãberzeugung, dass wir ein Mädchen haben werden. Und sobald ich versuche mir eine Tochter vorzustellen, bin ich der sicheren Ãberzeugung, dass es ein Sohn sein wird. Es ist seltsam, denkst du nicht, ich müsste es wissen? Dass da ein mütterlicher Instinkt sein müsste, der mir sagt, ob ich diese Decke nun in Blau oder Rosé kaufen soll? Aber alles was ich weiÃ, ist, dass es ein menschliches Wesen sein wird, selbst dein Gerede von Gazellen und Gürteltieren, lässt da keine Zweifel aufkommen. Ein wenig vielleicht, ich hatte einen äuÃerst obskuren Traum, in dem der Arzt mir anstelle eines frisch gebadeten Menschenbabys, einen kleinen Elefanten in die Arme legte. Hör auf zu lachen, ich sehe du tust es. Dir mag es vielleicht komisch erscheinen, aber als ich aufwachte, war ich entsetzlich verwirrt und ich frage mich noch immer, ob es dieser Traum wohl etwas zu bedeuten hat. Aber vermutlich ist einfach nur dein unglaublich unsinniges Gerede, dass sich in meinem Kopf festgesetzt hat und mir derart fürchterliche Träume bringt.
Da sind noch andere, Richard, ich will sie nicht erwähnen, aber sie sind da und ich ängstige mich schrecklich vor ihnen. Davor, dass sie Realität werden könnten. Verzeih, ich versprach dir es nicht zu tun, aber ich kann nicht anders, so sehr ich es auch versuche, es will mir nicht gelingen. Nur eine Zeile von dir und es würde vermutlich vergehen. Nur eine Umarmung und ich wäre die glücklichste Frau auf Erden.
In Liebe und mit allem wofür keine Sprache dieser Welt die passenden Worte kennt, Emily
Sie steht auf, nimmt den Koffer und schiebt ihn wortlos zurück auf den Schrank. Nimmt Rory den Brief aus der Hand, lächelt dabei. Lächelt die ganze Zeit über, als sie den Brief und den Karton behutsam auf dem Schreibtisch platziert, sich des teuren Schmucks entledigt, ihn Stück für Stück auf der blank polierten Holzfläche aufreiht. Sie schlüpft auch aus dem eleganten Abendkleid, hängt es sorgfältig über einen Bügel. Rory beobachtet die Szene schweigend, wartet darauf, dass Lorelai als Erste das Wort ergreift und sie tut es auch. âIch weià nicht woran es liegtâ, erklärt sie, wirft die Bettdecke zur Seite. âAber diese Familienfeiern sind einfach immer unendlich anstrengend.â
Rory nickt, wartet bis ihre Mutter in das Bett geschlüpft ist, die Augen geschlossen hat, ehe sie aufsteht und ins Badezimmer geht, auf dem Weg dorthin ihre Handtasche an sich nimmt.
Sie schlieÃt die Tür hinter sich ab und zieht ihr Mobiltelefon hervor, wählt auswendig eine lange Nummer, wartet ungeduldig ehe er abnimmt. âLoganâ, sagt sie. âDu musst mir einen Gefallen tunâ¦..â
***
Sie greift mit einer Hand vorsichtig nach ihrem Bauch, kann durch den dünnen Stoff ein leichtes Beben ausmachen, das sich unterscheidet, ganz anders ist, als die Bewegungen, die das Baby sonst vollzogen hat. Mittlerweile ist sie sich sicher, dass die kaum spürbaren Kontraktionen, die sie seit der letzten Nacht verspürt, tatsächlich Wehen sind, der Schmerz der dieses Mal mit einhergeht, führt es ihr nur zu gründlich vor Augen. Sie verzieht das Gesicht, halb vor Schmerz, halb vor einem Lächeln, atmet tief durch, während sie den Druck ihrer Hand auf die Bauchdecke verstärkt, wartet bis es vorbei ist, bis lediglich das Lächeln auf ihren Lippen zurückbleibt. Ein wenig unschlüssig was zu tun ist, was sie jetzt tun soll, will sie sich schon in einen der Sessel des Wohnzimmers setzten, entschlieÃt sich jedoch dagegen und stützt sich stattdessen an der Lehne ab, wartet ab. Sie muss es nicht einmal lange tun, die nächste Wehe kommt, ein wenig stärker ist sie, aber noch erträglich. Bestätigt sie in dem Entschluss sich nicht gesetzt zu haben, als sie spürt, wie warme Flüssigkeit die Innenseiten ihrer Schenkel hinabsickert. Es ist zu früh, denkt sie, es ist zu schnell, atmet erneut tief aus. Vielleicht hast du einfach nur Glück und das Baby will es dir leicht machen, eine schnelle erste Geburt, schiebt sie die Zweifel zur Seite, legt im selben Moment die Hand auf ihren Bauch, in dem das Baby ihr einen viel zu heftigen Tritt verpasst. âFalls das eine Art Unterhaltungsprogramm sein soll, um mir die Wartezeit zu verkürzen, dann lass dir gesagt sein, dass ich nicht sonderlich angetan davon binâ, flüstert sie, wartet bis das Ziehen endgültig nachlässt und sie den Griff um die Sessellehne lockert, mit der anderen Hand zärtlich über den Körper ihres ungeborenen Kindes streicht. Ihr Blick fällt auf die weiÃe Stelle an ihrem Ringfinger, die letzten Reste der Sommerbräune. Sie musste den Verlobungsring abziehen, hat es nur widerwillig getan, aber letzten Endes hat er sich doch zu sehr in ihre, durch die Schwangerschaft angeschwollenen, Finger gebohrt. Ohnehin solltest du dich langsam von ihm verabschieden, denkt sie, so schön er ist, schlieÃlich wird er bald einem Ehering weichen.
âMiss Johnson?â, vernimmt sie die Stimme des Hausmädchens. âIst alles in Ordnung mit Ihnen?â
âEs ist so weit, Claraâ, erklärt sie leise.
âSind sie sicher?â
Sie wendet den Blick von Hand und Bauch auf Clara, die Gedanken in die Gegenwart, in die nahe Zukunft. âMmmhâ, ein Nicken, ein freudiges Lächeln. Das Mädchen eilt auf sie zu und nimmt sie am Ellenbogen.
âSetzen sie sich, Miss Johnson, ich werde einen Krankenwagen rufen.â
âIch denke, ich bleibe besser stehenâ, lehnt sie höflich ab, deutet mit dem Kinn ihr Kleid hinab, dessen Rosé sich ob des Fruchtwassers stellenweise in ein dunkles Rot gefärbt hat, stellt gleichzeitig erstaunt fest, dass dieser Umstand sie keineswegs peinlich berührt, sondern sie ihn lediglich als normalen Bestandteil dessen empfindet, was vor sich geht, worauf sie seit Monaten wartet. Das Hausmädchen nimmt es noch lapidarer, drückt Emily mit sanfter Gewalt in den Sessel, befiehlt ihr sich nicht vom Fleck zu bewegen und verschwindet durch eine der Türen. Emily lehnt sich zurück und schlieÃt die Augen, legt wieder eine Hand auf ihren Bauch, denkt an das Baby, denkt an Richard. Seltsam, dass sie sich tatsächlich unbändig auf dieses Kind freut, es nicht mehr missen möchte, obwohl die Umstände nicht widriger sein könnten. Vielleicht gerade deswegen, schieÃt es ihr nicht zum ersten Mal durch den Kopf, vielleicht weil Richard und âesâ, die einzigen beiden Menschen sind von denen sie sicher weiÃ, dass sie ihr noch wichtig sind, dass sie die Beiden liebt. Sie liebt, obwohl sie sich bis vor kurzem noch nicht einmal sicher war, dass es so etwas wie Liebe überhaupt gab oder ob ihr â falls es so etwas wie Liebe gab â durch eine Laune des Schicksals die Fähigkeit fehlte, sie zu empfinden. Es gab sie und sie konnte es, sie kann es, öffnet die Augen und lächelt Clara zu, die wieder neben ihr erschienen ist.
âDer Wagen wird jeden Moment hier seinâ, erklärt sie ruhig, reicht Emily eine Tasse Tee. âDas wird sie beruhigen, Miss.â
âDankeâ, sie nimmt das warme Porzellangefäà entgegen, trinkt einen kleinen Schluck, verzieht ob des ungesüÃten Geschmacks das Gesicht. Ein Zittern, die Tasse fällt zu Boden, während sie mit beiden Händen ihren Unterleib umfasst, ein âGottâ keucht, eine Träne wegblinzelt. Wartet, dass auch diese Wehe wieder abebbt.
***
Leise steht sie auf, versucht Rory dabei nicht zu wecken. Schleicht auf Zehenspitzen durch das Zimmer und geht zum Schreibtisch. Dort greift sie nach dem Brief, legt ihn auf die Schachtel und nimmt sie an sich. Verzieht angestrengt das Gesicht, als sie dabei gegen ein Stuhlbein stöÃt, ein dumpfes Geräusch, das ihre Tochter glücklicherweise nicht aufgeweckt zu haben scheint. Dafür gelingt es ihr umso geräuschloser in ihren Bademantel zu schlüpfen und aus dem Zimmer zu schleichen. Barfuss tapst sie den Flur entlang, der dicke, rote Teppich fühlt sich angenehm weich unter ihren FuÃsohlen an. Sie bleibt vor der Tür des Raumes stehen, von dem sie die Vermutung hat, dass es der Gelbe ist, geht nach kurzem Zögern hinein. Rory liegt währenddessen noch immer bewegungslos im Bett und wartet mit gespitzten Ohren auf das Geräusch eines Kiesels auf Glas.
To be continued
ATN: Mit 24 stündiger Verspätung... sry:knuddel:
âWas ist das?â, erkundigt sie sich.
âBriefeâ, antwortet sie tonlos. âVon Dad. Von Mom.â
âBriefe?â, sie steht auf, geht zu Lorelai, geht neben ihr in die Knie und will gerade eines der dicht beschriebenen Blätter aufnehmen, als ihre Mutter sie abhält.
âNeinâ, sagt sie scharf, beginnt gleichzeitig selbst nach den Blättern zu greifen, sie wieder ordentlich zu stapeln, legt das dicke Bündel zurück in den Karton.
âMom?â
âDas sind Kopien, Roryâ, sie legt den Deckel zurück auf die Schachtel.
âIch verstehe nichtâ¦â, sie runzelt die Stirn.
âJemand hat diese Briefe kopiert, hat die Originale fein säuberlich abgeschrieben.â
âBist du sicher?â
âNatürlich bin ich dasâ, erklärt sie gereizt. âDas ist nicht Momâs Schrift. Genauso wenig wie es Dadâs Schrift ist. Es sind Kopien, Rory.â
âAus welchem Grund sollte Grandma ââ
âDas war sie nichtâ, unterbricht Lorelai ihre Tochter. âDas sind private Briefe, das sind gottverdammte Liebesbriefe. Deine GroÃmutter würde niemals jemand Fremden derartige Briefe sehen lassen, geschweige denn sie kopieren lassen. Kein Mensch würde das tun.â
âAber wo kommen sie dann her?â
âVermutlich sollte ich das meine GroÃmutter fragenâ, sie streicht sich durchs Haar, lehnt sich gegen den Schrank. Rory tut es ihr gleich und beide starren auf die Kiste, starren und überlegen. âEs ist irgendwie so, als würde man in einem Laden voller Schuhe stehenâ, wispert Lorelai. âÃberall Schuhe, unendlich viele Schuhe und weit und breit kein Verkäufer, keine anderen Kunden, keine Menschenseele, keine Ãberwachungskameras, nichts. Man weiÃ, man könnte dieses schicke paar Gucci-Stiefel mitnehmen, keiner würde es sehen, man könnte sie einfach mitnehmen. Was man natürlich nicht tut, weil es falsch wäre. Und hinterher, hinterher, da bereut man es.â
Rory blinzelt, während sie nur langsam begreift, was Lorelai meint. âAber es würde doch nichts dagegen sprechen, sie wenigstens kurz anzuprobieren. SchlieÃlich ist ja niemand da, nur ein paar kleine Schritte darin, zwei, drei Meter.â
âIch weià nichtâ, sagt sie nachdenklich, beugt sich dennoch nach vorne und hebt den Deckel wieder zur Seite, nimmt das oberste Blatt, legt es auf den Boden, streicht es fein säuberlich glatt, streift mit dem Daumen über das Datum, der Knoten in ihrem Magen wird gröÃer. âEr ist vom 16. Mai â68â, flüstert sie. Ein Tag vor meiner Geburt, denkt sie, beide Frauen denken es. Ein Tag. Ein Tag â âRory?â, sie sieht ihre Tochter ratlos an.
âMmh?â
âWürdest duâ¦â, Lorelai nimmt das Blatt wieder auf, reicht ihn Rory. âLies du ihn.â
âIch weià nicht, Mom.â
âDu hast Recht. Wir sollten es nicht tun. Es wäre falschâ, ein Schulterzucken, ein Lächeln. âAndererseits â wir wären nicht die ersten, die diese Briefe lesen. Und es wären ja nicht alle, oder? Es wäre nur dieser eine. AuÃerdem â ich war ja praktisch dabei, als sie ihn geschrieben hat, es wäre nicht wirklich falsch.â
âNur dieser eineâ, Rory nickt.
âDann sind wir uns also einigâ, sie atmet tief durch. âLies ihn vor.â
Sie zögert einen Moment, nickt aber schlieÃlich erneut, befeuchtet sich die Zunge, räuspert sich. Beginnt mit leiser Stimme zu lesen.
Richard,
ich hoffe, du wirst vor Scham in den Boden versinken, mir drei Wochen nicht zu schreiben! Ich ahne zwar weswegen du es nicht tust, aber du wolltest es nicht anders, also musst du auch mit den Konsequenzen leben. SchlieÃlich warst du es, der mich immer wieder wegen dieser albernen Photographie bedrängt hat, ich wollte nicht, lass es dir noch einmal gesagt sein. Das habe ich jetzt davon, dass ich deinem Zureden letzten Endes doch nachgegeben habe, anstatt meinem Instinkt und meinen Augen zu trauen. Und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Unmengen von Tinte habe ich darauf verwendet, meinen Unmut über meine Unförmigkeit Ausdruck zu verleihen, aber du wolltest ja nicht hören. Von daher steht es mir wohl zu, von dir zu verlangen, das Ganze mit Fassung zu tragen, zumal ich hoffe, dass ich eines Tages wieder deinen Vorstellungen entsprechen werde â auch wenn es momentan nicht den Anschein hat. Im Gegenteil, es ist unglaublich wie schnell unser Kind in mir heranwächst, jeder Blick in den Spiegel lässt mich staunen, ebenso wie jeder Tritt es tut. Waren sie am Anfang nur sachte, beinahe ein Streicheln, so werden sie von Tag zu Tag kräftiger, manchmal beinahe zu kräftig, geradeso als wolle das Kleine mir mitteilen, dass ihm seine Herberge nicht mehr zusagt. (Wage es nicht, ich weià du fühlst dich versucht, aber lass den Gedanken wieder dorthin verschwinden, wo er seinen Ursprung nahm.) Doch noch sind es vier Wochen bis zum Geburtstermin, eine Zeit die mir unendlich lange erscheint. Wenn ich allerdings bedenke wie schnell die letzten Monate verflogen sind, dann sind dreiÃig Tage eine Winzigkeit, ein Wimpernschlag.
Glaubst du es wird uns ähnlich sehen? Ich versuche zwar angestrengt mir sein Aussehen auszumalen, aber es will mir nicht gelingen, ich schaffe es einfach nicht ein befriedigendes Bild zusammenzubekommen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, dann zerfällt es wieder. Stelle ich mir einen Jungen vor, so bin ich plötzlich der festen Ãberzeugung, dass wir ein Mädchen haben werden. Und sobald ich versuche mir eine Tochter vorzustellen, bin ich der sicheren Ãberzeugung, dass es ein Sohn sein wird. Es ist seltsam, denkst du nicht, ich müsste es wissen? Dass da ein mütterlicher Instinkt sein müsste, der mir sagt, ob ich diese Decke nun in Blau oder Rosé kaufen soll? Aber alles was ich weiÃ, ist, dass es ein menschliches Wesen sein wird, selbst dein Gerede von Gazellen und Gürteltieren, lässt da keine Zweifel aufkommen. Ein wenig vielleicht, ich hatte einen äuÃerst obskuren Traum, in dem der Arzt mir anstelle eines frisch gebadeten Menschenbabys, einen kleinen Elefanten in die Arme legte. Hör auf zu lachen, ich sehe du tust es. Dir mag es vielleicht komisch erscheinen, aber als ich aufwachte, war ich entsetzlich verwirrt und ich frage mich noch immer, ob es dieser Traum wohl etwas zu bedeuten hat. Aber vermutlich ist einfach nur dein unglaublich unsinniges Gerede, dass sich in meinem Kopf festgesetzt hat und mir derart fürchterliche Träume bringt.
Da sind noch andere, Richard, ich will sie nicht erwähnen, aber sie sind da und ich ängstige mich schrecklich vor ihnen. Davor, dass sie Realität werden könnten. Verzeih, ich versprach dir es nicht zu tun, aber ich kann nicht anders, so sehr ich es auch versuche, es will mir nicht gelingen. Nur eine Zeile von dir und es würde vermutlich vergehen. Nur eine Umarmung und ich wäre die glücklichste Frau auf Erden.
In Liebe und mit allem wofür keine Sprache dieser Welt die passenden Worte kennt, Emily
Sie steht auf, nimmt den Koffer und schiebt ihn wortlos zurück auf den Schrank. Nimmt Rory den Brief aus der Hand, lächelt dabei. Lächelt die ganze Zeit über, als sie den Brief und den Karton behutsam auf dem Schreibtisch platziert, sich des teuren Schmucks entledigt, ihn Stück für Stück auf der blank polierten Holzfläche aufreiht. Sie schlüpft auch aus dem eleganten Abendkleid, hängt es sorgfältig über einen Bügel. Rory beobachtet die Szene schweigend, wartet darauf, dass Lorelai als Erste das Wort ergreift und sie tut es auch. âIch weià nicht woran es liegtâ, erklärt sie, wirft die Bettdecke zur Seite. âAber diese Familienfeiern sind einfach immer unendlich anstrengend.â
Rory nickt, wartet bis ihre Mutter in das Bett geschlüpft ist, die Augen geschlossen hat, ehe sie aufsteht und ins Badezimmer geht, auf dem Weg dorthin ihre Handtasche an sich nimmt.
Sie schlieÃt die Tür hinter sich ab und zieht ihr Mobiltelefon hervor, wählt auswendig eine lange Nummer, wartet ungeduldig ehe er abnimmt. âLoganâ, sagt sie. âDu musst mir einen Gefallen tunâ¦..â
***
Sie greift mit einer Hand vorsichtig nach ihrem Bauch, kann durch den dünnen Stoff ein leichtes Beben ausmachen, das sich unterscheidet, ganz anders ist, als die Bewegungen, die das Baby sonst vollzogen hat. Mittlerweile ist sie sich sicher, dass die kaum spürbaren Kontraktionen, die sie seit der letzten Nacht verspürt, tatsächlich Wehen sind, der Schmerz der dieses Mal mit einhergeht, führt es ihr nur zu gründlich vor Augen. Sie verzieht das Gesicht, halb vor Schmerz, halb vor einem Lächeln, atmet tief durch, während sie den Druck ihrer Hand auf die Bauchdecke verstärkt, wartet bis es vorbei ist, bis lediglich das Lächeln auf ihren Lippen zurückbleibt. Ein wenig unschlüssig was zu tun ist, was sie jetzt tun soll, will sie sich schon in einen der Sessel des Wohnzimmers setzten, entschlieÃt sich jedoch dagegen und stützt sich stattdessen an der Lehne ab, wartet ab. Sie muss es nicht einmal lange tun, die nächste Wehe kommt, ein wenig stärker ist sie, aber noch erträglich. Bestätigt sie in dem Entschluss sich nicht gesetzt zu haben, als sie spürt, wie warme Flüssigkeit die Innenseiten ihrer Schenkel hinabsickert. Es ist zu früh, denkt sie, es ist zu schnell, atmet erneut tief aus. Vielleicht hast du einfach nur Glück und das Baby will es dir leicht machen, eine schnelle erste Geburt, schiebt sie die Zweifel zur Seite, legt im selben Moment die Hand auf ihren Bauch, in dem das Baby ihr einen viel zu heftigen Tritt verpasst. âFalls das eine Art Unterhaltungsprogramm sein soll, um mir die Wartezeit zu verkürzen, dann lass dir gesagt sein, dass ich nicht sonderlich angetan davon binâ, flüstert sie, wartet bis das Ziehen endgültig nachlässt und sie den Griff um die Sessellehne lockert, mit der anderen Hand zärtlich über den Körper ihres ungeborenen Kindes streicht. Ihr Blick fällt auf die weiÃe Stelle an ihrem Ringfinger, die letzten Reste der Sommerbräune. Sie musste den Verlobungsring abziehen, hat es nur widerwillig getan, aber letzten Endes hat er sich doch zu sehr in ihre, durch die Schwangerschaft angeschwollenen, Finger gebohrt. Ohnehin solltest du dich langsam von ihm verabschieden, denkt sie, so schön er ist, schlieÃlich wird er bald einem Ehering weichen.
âMiss Johnson?â, vernimmt sie die Stimme des Hausmädchens. âIst alles in Ordnung mit Ihnen?â
âEs ist so weit, Claraâ, erklärt sie leise.
âSind sie sicher?â
Sie wendet den Blick von Hand und Bauch auf Clara, die Gedanken in die Gegenwart, in die nahe Zukunft. âMmmhâ, ein Nicken, ein freudiges Lächeln. Das Mädchen eilt auf sie zu und nimmt sie am Ellenbogen.
âSetzen sie sich, Miss Johnson, ich werde einen Krankenwagen rufen.â
âIch denke, ich bleibe besser stehenâ, lehnt sie höflich ab, deutet mit dem Kinn ihr Kleid hinab, dessen Rosé sich ob des Fruchtwassers stellenweise in ein dunkles Rot gefärbt hat, stellt gleichzeitig erstaunt fest, dass dieser Umstand sie keineswegs peinlich berührt, sondern sie ihn lediglich als normalen Bestandteil dessen empfindet, was vor sich geht, worauf sie seit Monaten wartet. Das Hausmädchen nimmt es noch lapidarer, drückt Emily mit sanfter Gewalt in den Sessel, befiehlt ihr sich nicht vom Fleck zu bewegen und verschwindet durch eine der Türen. Emily lehnt sich zurück und schlieÃt die Augen, legt wieder eine Hand auf ihren Bauch, denkt an das Baby, denkt an Richard. Seltsam, dass sie sich tatsächlich unbändig auf dieses Kind freut, es nicht mehr missen möchte, obwohl die Umstände nicht widriger sein könnten. Vielleicht gerade deswegen, schieÃt es ihr nicht zum ersten Mal durch den Kopf, vielleicht weil Richard und âesâ, die einzigen beiden Menschen sind von denen sie sicher weiÃ, dass sie ihr noch wichtig sind, dass sie die Beiden liebt. Sie liebt, obwohl sie sich bis vor kurzem noch nicht einmal sicher war, dass es so etwas wie Liebe überhaupt gab oder ob ihr â falls es so etwas wie Liebe gab â durch eine Laune des Schicksals die Fähigkeit fehlte, sie zu empfinden. Es gab sie und sie konnte es, sie kann es, öffnet die Augen und lächelt Clara zu, die wieder neben ihr erschienen ist.
âDer Wagen wird jeden Moment hier seinâ, erklärt sie ruhig, reicht Emily eine Tasse Tee. âDas wird sie beruhigen, Miss.â
âDankeâ, sie nimmt das warme Porzellangefäà entgegen, trinkt einen kleinen Schluck, verzieht ob des ungesüÃten Geschmacks das Gesicht. Ein Zittern, die Tasse fällt zu Boden, während sie mit beiden Händen ihren Unterleib umfasst, ein âGottâ keucht, eine Träne wegblinzelt. Wartet, dass auch diese Wehe wieder abebbt.
***
Leise steht sie auf, versucht Rory dabei nicht zu wecken. Schleicht auf Zehenspitzen durch das Zimmer und geht zum Schreibtisch. Dort greift sie nach dem Brief, legt ihn auf die Schachtel und nimmt sie an sich. Verzieht angestrengt das Gesicht, als sie dabei gegen ein Stuhlbein stöÃt, ein dumpfes Geräusch, das ihre Tochter glücklicherweise nicht aufgeweckt zu haben scheint. Dafür gelingt es ihr umso geräuschloser in ihren Bademantel zu schlüpfen und aus dem Zimmer zu schleichen. Barfuss tapst sie den Flur entlang, der dicke, rote Teppich fühlt sich angenehm weich unter ihren FuÃsohlen an. Sie bleibt vor der Tür des Raumes stehen, von dem sie die Vermutung hat, dass es der Gelbe ist, geht nach kurzem Zögern hinein. Rory liegt währenddessen noch immer bewegungslos im Bett und wartet mit gespitzten Ohren auf das Geräusch eines Kiesels auf Glas.
To be continued
ATN: Mit 24 stündiger Verspätung... sry:knuddel: