What happened?
#32

Okay, hat eine Weile gedauerst, aber es geht weiter. Diesmal sogar ein bisschen länger.
Viel Spaß beim Lesen und FB geben.



Als Rory um die Kurve stolperte, sah sie vor sich eine kleine Wiese mit ein paar Bäumchen. Auf einer Bank saß ein Junge, etwa in ihrem Alter, und las in einem Buch.
Ein junger, schwarzer Hund mit weißer Schwanzspitze lief schnüffelnd über die Wiese. Sobald er Rory sah, kam er schwanzwedelnd auf sie zugestürmt. Sie bückte sich und hob ihn auf, drückte den dicken, zappelnden Hundekörper an sich. Der Hundegeruch beruhigte sie, und sie spürte, wie ihre Panik langsam nachließ. Sie ließ sich von dem Welpen den salzigen Schweiß vom Gesicht lecken, bevor sie ihn wieder absetzte.
Der Junge hob den Kopf und pfiff dem Hund. Er trug ein beiges Hemd und Jeans. Er hatte dichtes, dunkles Haar und gebräunte Arme.
„Hierher, Kleiner“, rief er.
Der Welpe lief sofort zu ihm hinüber. Rory folgte auf direktem Weg.
„Hallo“, rief sie.
Von ihrem schnellen Lauf war sie immer noch außer Atem.
„Hast du was dagegen, wenn ich mich eine Minute zu dir setze?“
Der Junge sah sie an, vertiefte dann aber wieder seinen Blick ins Buch und zuckte mit den Schultern. Rory fasste das als Ja auf und setzte sich.
In Gesellschaft dieses Jungen, der die Ruhe selber war, schien es komplett verrückt, von namenlosen Ängsten zu reden. Sie verpackte ihre Furcht in weniger abschreckende Worte.
„Ich bekam Angst da hinten. Ich dachte, es sei jemand hinter mir her.“
Der Junge seufzte. Offensichtlich war er nicht erfreut, von jemandem gestört zu werden. Trotzdem hob er den Kopf und sah an ihr vorbei zur Straße. Niemand zeigte sich.
„Ich bleibe einfach nur ein bisschen hier sitzen, bis ich wieder zu Atem komme“, sagte Rory. „Wenn es dir nichts ausmacht.“
Er schüttelte nur den Kopf und blätterte um. Ein ziemlich wortkarger Mensch, dachte Rory.
Nach einer Weile hatte sie sich wieder gefangen.
„Sieht so aus, als ob mein Verfolger nicht mehr auftaucht, wer immer es war“, sagte sie.
Jetzt, wo ihre Angst weg war, machte die Gegenwart des Jungen sie verlegen.
„Vielleicht hat er es sich anders überlegt“, sagte er, ohne von seinem Buch aufzublicken.
Rory lächelte. Das war nett von ihm. Indem er sie nicht ansah, ersparte er ihr die Peinlichkeit, ihr zu zeigen, was er wirklich von ihr dachte. Wahrscheinlichkeit glaubte er insgeheim, dass sie ihn nur anmachen wollte. Daran musste er bei Mädchen gewöhnt sein, so gut wie er aussah.
„Seltsam, ich hätte schwören können, dass jemand da war – oder etwas“, versuchte sie sich zu rechtfertigen. Der Welpe kletterte auf ihr herum und knabberte an ihren Fingern.
Der Junge warf ihr einen raschen Blick zu, als versuche er sich ein Bild von ihr zu machen. Sie wartete ab, ob er etwas sagen würde. Aber er schwieg, das tat er wohl gerne. Also quasselte sie weiter, verbarg ihre Verlegenheit hinter Worten.
„Ich komme aus Boston. Ich mache hier Ferien, gleich in dem Hotel dort hinten. Dem Independence Inn. Ich bin gestern erst angekommen. Ich bin Rory Hayden.“
„Jess“, antwortete er nur. Dann merkte er, wie unhöflich das war und setzte fort. „Ich wohne dort hinten.“ Dabei wies er mit dem Kopf in eine Richtung, wo wohl Stars Hollow lag.
Die Unterhaltung kam erneut zum Stocken, doch Rory wollte sie unbedingt in Gang halten, nicht nur, weil sie keine Lust hatte, alleine zurück zum Hotel zu gehen. Sie wollte auch etwas über diesen Jess erfahren.
„Wie heißt dein Hund?“, erkundigte sie sich deshalb.
„Ernest. Von Ernest Hemingway.“
„Du liest Hemingway?“
„Du kennst Hemingway?“, fragte Jess erstaunt.
„Na klar kenne ich Hemingway. Jeder der liest, kennt ihn.“
Jess grinste leicht.
„Entschuldige, hier in Stars Hollow gibt es nur nicht viele Leute, die ein Buch aufschlagen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich sogar der einzige. Und den großen Ernest Hemingway kennt hier mit Sicherheit auch keiner“, meinte er sarkastisch.
„Der große Ernest Hemingway“, wiederholte Rory belustigt.
„Was war das?“, fragte Jess.
„Was war was?“
„Na, dieser Unterton in deiner Stimme. Magst du etwa Hemingway nicht?“
„Man kann nicht sagen, dass ich ihn nicht mag. Ich finde ihn nur … anstrengend. Ayn Rand ist besser.“
„Ja klar, die ist natürlich nicht anstrengend“, meinte Jess spöttisch.
„Nein, ist sie nicht. Ich habe ‚Der Ursprung’ zum ersten Mal gelesen, als ich Zehn war.“
„Zehn?“
„Ja.“ Rory grinste. „Aber ich habe kein Wort verstanden, also hab ich ihn mit 15 noch einmal gelesen.“
„Ich habe es noch nicht geschafft, mich da durchzukämpfen“, erklärte Jess.
„Wirklich? Versuch es! ‚Der Ursprung’ ist ein Klassiker“, forderte ihn Rory auf.
„Ja, aber Ayn Rand ist aus politischer Sicht eine Hinterwäldlerin.“
„Mag sein, aber niemand kann einen 40-Seiten Monolog so schreiben wie sie.“
Jess seufzte.
„Na gut, ich werde es noch einmal probieren, dafür musst du Ernest Hemingway noch eine Chance geben.“
Rory seufzte und Jess merkte, dass sie zögerte.
„Ernest hat nur gute Dinge über dich zu sagen“, versuchte er ihn ihr daher schmackhaft zu machen.
„Na gut, ich gebe ihm noch eine Chance“, willigte Rory ein und Jess grinste zufrieden.
Die beiden schwiegen eine Weile, bis es schließlich Jess war, der die Stille durchbrach.
„Und was bringt dich dazu, in einem Kuhdorf wie Stars Hollow Urlaub zu machen?“
„Du scheinst aber eine hohe Meinung von Stars Hollow zu haben“, stellte Rory fest.
Als Jess nicht antwortete, sondern nur mit den Schultern zuckte, begann sie zu erzählen.
„Ich möchte etwas über meine Mum in Erfahrung bringen.“
„Was ist mit ihr?“
Rory versuchte es als etwas völlig Normales hinzustellen.
„Sie starb, als ich fünf war. Sie ertrank, in einem See ganz in der Nähe.“
Jess schwieg. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Ich erinnere mich nicht daran. Mein Vater hat wieder geheiratet, und ich habe eine Halbschwester, Georgia, aber wir nennen sie nur Gigi. Sie ist ganz in Ordnung. Meine Stiefmutter ist auch nicht übel, aber ich nenne sie Sherry, nicht Mum, weil – naja, ich hatte schon eine Mutter, auch wenn sie tot ist.“
Jess schloss sein Buch und nickte mitfühlend.
„Ja, ich glaube, seine eigene Mutter kann man nie vergessen“, sagte er und dachte dabei an seine Mutter, die bei ihm einen ziemlich bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.
„Naja, ich fürchte, ich habe wohl ein schlechtes Gedächtnis. Ich erinnere mich nämlich nicht mehr an sie. Keine Spur“, meinte Rory betrübt.
Jess zuckte mit den Schultern.
„Die meisten Leute wissen nicht mehr viel aus der Zeit, als sie klein waren.“
„Aber du erinnerst dich doch noch an Leute, die du kanntest, als du fünf oder sechs warst, oder?“
Er überlegte und runzelte dabei die Stirn.
„An so viele nun auch wieder nicht.“
Dann grinste er. Sie mochte sein Grinsen. Es hatte etwas Spitzbübisches an sich.
„Ich erinnere mich noch an einen Typ“, erzählte Jess. „Stanley Comax. Er hatte abstehende Ohren und ein Gesicht wie ein Äffchen. Stan war mein bester Freund … Aber wir sind dann auf verschiedene Schulen gegangen und unsere Wege haben sich getrennt.“
Rory musste zugeben, dass sie ihn mochte. Normalerweise kam sie mit Jungen in ihrem Alter nicht besonders gut zurecht. Sie schienen Angst vor ihr zu haben. Vielleicht lag es daran, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm, oder es lag an ihren Kleidern. Die kleidete sich nicht gerade konventionell, aber sie war nicht bereit, ihren Stil für irgendjemanden zu ändern. Gleichaltrige interessierten sich meist nicht für die Dinge, die sie interessierten, weshalb sie dann in einem fort quasselte, lauter dummes Zeug, bei dem jeder denken musste, dass sie nichts als Stroh im Kopf hatte. Aber jetzt saß sie schon zehn Minuten da und fühlte sich in Jess’ Gesellschaft so wohl, als hätte sie ihn ihr ganzes Leben lang gekannt.
„Ob ein fünfjähriges Kind wohl an Gedächtnisschwund leiden kann, was meinst du?“, fragte sie ihn.
Wieder überlegte er, bevor er antwortete.
„Sicher, warum nicht? Aber die Eltern des Kindes würden es wahrscheinlich gar nicht merken. Ein kleines Kind hat schließlich nicht so viel zu vergessen.“
Rory lächelte leicht, doch es wirkte künstlich. Die bloße Andeutung, dass sie im Zusammenhang mit ihrer Mutter an Gedächtnisschwund litt, war schon schlimm genug. Aber von ihren Panikattacken durfte er nichts erfahren. Sonst würde er sie bestimmt für einen echten Freak halten.
„Wahrscheinlich hältst du mich für ziemlich durchgeknallt“, sagte sie und sah Jess an.
„Eigentlich nicht. Die Welt ist doch reichlich verrückt.“
Er nahm Ernest von ihrem Schoß und setzte ihn ins Gras.
„Soll ich dir vielleicht das wunderbare Stars Hollow zeigen?“, fragte er sarkastisch und stand auf. „Anschließend bringe ich dich ins Hotel, wenn du magst. Dann brauchst du keine Angst vor irgendwelchen Typen haben, die dir nachschleichen.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Rory begriffen hatte, was er damit meinte. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, beobachtete zu werden. Selbst die Panikattacke war ihr entfallen. Es war fast so, als sei es jemand anderem passiert. Sie war glücklich und freute sich wie ein Kind, das gerade ein neues Fahrrad bekommen hat. Nein, sogar noch glücklicher. Wie war es möglich, dass ihre Stimmungen so schwanken konnten? Du bist ganz schön verrückt, dachte sie, doch sie lächelte bei dem Gedanken. Niemand, der wirklich verrückt war, konnte sich so gut fühlen. Sie stand ebenfalls auf und folgte Jess und dem kleinen Hund.

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