27.05.2006, 15:39
“Sie sehen heute abend wirklich sehr hübsch aus, Madame!” sagte Rana zu einer der älteren Damen, die morgens aus Deutschland eingetroffen waren. Said schaute seiner Tochter aufmerksam zu und musste lächeln. „Dankeschön mein Schatz, aber du siehst auch sehr hübsch aus“ lachte die Frau. ‚Rana hat sie’ dachte Said. Sie stand dort in ihrem rosa Kleid mit den weiÃen Lackschuhen, die dunklen Locken wurden von einem Haarband zusammen gehalten. Ihre Augen funkelten. Sie war erst vier Jahre alt, aber ihr Deutsch war genau so perfekt wie ihr Arabisch, Englisch und Französisch. Als sie zum nächsten Gast weiter ging hörte Said die ältere Dame sagen: „ Oh mein Gott, was für ein niedliches Kind. Und unglaublich hübsch!“
Dann sah er Sara die Treppen zum Pool runter kommen. Sie hatte ebenfalls ein rosa Kleid ein, das gleiche wie Rana. Die beiden sahen sich in diesem Moment so ähnlich, nur hatte Sara glatte Haare. Sie grüÃte die Touristen freundlich während sie sich den Weg zu ihrer Schwester bahnte. Sara war fünf Jahre älter, aber die beiden hingen immer zusammen. Als die Musik anfing und der all-abendliche Tanz begann, kamen die beiden Mädchen zu ihrem Vater. „Hey Baba!“ sagte Sara und stieà ich leicht in die Rippen. Er fuhr ihr kurz übers Haar und lächelte die beiden dann an. „Meine Damen, möchten sie tanzen?!“ fragte er, nahm dann alle beide auf den Arm und tanzte mit seine Töchtern, während die beiden kicherten.
„Das Meer“, er lächelte wieder, allerdings bitter. „Rana liebt das Meer. Als sie noch nicht schwimmen konnte ist sie immer einfach so reingerannt.“ „Was ist mit deiner Tochter?“. Sie war gespannt ob er ihr dieses Mal antworten würde. Er tat es. „ Sie ist krank. Schon seit sie ganz klein ist.“ Er tat ihr unendlich Leid in diesem Moment und sie hätte ihm gerne geholfen. Er starrte immer noch auf das Meer. „Was hat sie denn?“ fragte sie weiter während sie am Strand entlang liefen. „Mukoviszidose“ war seine kurze Antwort, die ihn anscheinend Ãberwindung kostete. „Was ist das?“ Sie konnte mit dem Namen nichts anfangen. „Eine angeborene Stoffwechselkrankheit. Die Flüssigkeiten im Körper sind zäher als bei gesunden Menschen. Mir fehlt jetzt das angemessene Vokabular auf Spanisch um es besser erklären zu können, aber mit der Zeit verklebt Schleim die Lunge. Die Menschen ersticken langsam. Sie war als Baby immer so dünn, ständig hatte sie Bauchschmerzen. Sie hat Tag und Nacht geschrieen, ihre Mutter war vollkommen überfordert. Sie war über ein Jahr als man in Deutschland festgestellt hat was ihr fehlt. Mir kam es damals vor als hätten sie ihr Todesurteil ausgesprochen. Die Krankheit ist nicht heilbar.“ „Oh Gott“ war alles was Encarna jetzt noch hervor brachte. Said hatte sich mittlerweile wieder etwas gefangen, es schien ihm zu helfen darüber zu reden. Er fuhr fort „ Sie hatte dann gleich kurz nach der Diagnose eine Lungenentzündung. Wir haben schon nicht mehr dran geglaubt, dass sie es schafft. Aber irgendwie hat sie es geschafft. Sie hat schon damals gekämpft. Sie wurde dann von einer Klinik in die andere gebracht, immer auf der Suche nach Spezialisten, von denen es nur wenige gab. Es ging ihr dann ganz gut, bis Sophie geheiratet hat und ging.“ „Ist Sophie ihre Mutter?“ „Ja. Sie hat geheiratet und Rana bei mir gelassen. Ich dachte, dass sie sie besucht, aber sie tat es nicht, sie sagte sie würde es nicht ertragen. Jedenfalls ging es Rana, von dem Tag als ihre Mutter ging an, immer schlechter. Die Anfälle häuften sich, die Lungenentzündungen auch. Anfangs war sie nur in der Klinik, doch dann hab ich sie zuhause betreuen lassen. Es ging ihr dann langsam besser. Aber ich hatte selten Zeit mich um sie zu kümmern und so hat meine Ãlteste sie zu sich genommen als sie acht war. Sie hat studiert und hatte mehr Zeit als ich. Aber sie kam nicht klar. Rana hatte Heimweh. Erst Corinna hat sie dann wieder hinbekommen. Aber sie hat lange dazu gebraucht. Als sie dann den Autounfall hatte, den Rana mir angesehen hat, ging alles wieder von vorne los, nur dass Coco jetzt auch noch Hilfe benötigte.“ „Ist sie wieder okay?“ unterbrach Encarna ihn kurz. „Nein, sie ist Querschnittsgelähmt seit damals. Und sie wird nie Kinder bekommen können. Sie war schwanger als der Unfall passierte.“ Er hielt kurz inne und Encarna wusste nicht wie sie das alles so schnell aufnehmen sollte. Said hatte soviel von seinen Kindern erzählt, dass sie sich vorkam als würde sie jedes einzelne kennen. Aber diese grausamen Tatsachen hatte er nie erwähnt. Kein einziges Mal hatte er diese furchtbare Krankheit oder diesen schrecklichen Unfall erwähnt. Wenn sie sich vorstellte, dass sie ihm wegen ihres angeblich gefährdeten Jobs auch noch zugesetzt hatte war ihr das peinlich. Er hatte wirklich andere Probleme. „Was ist jetzt mir Rana?“ fragte sie weil sie auch das noch wissen wollte. „Sie hat wieder eine Lungenentzündung. Und wieder haben wir gesagt bekommen sie schafft es nicht.“ Er sah verzweifelt aus. Doch bevor sie noch irgendetwas sagen konnte hatte er sich ihr um den Hals geworfen. Er hing an ihr wie ein kleiner Junge und ohne darüber nachzudenken begann sie ihm beruhigend übers Haar zu streichen. „Sie wird es schaffen, Said, ganz bestimmt! Nach allem was du mir von ihr erzählt hast wird sie es schaffen. Sie ist stark, ich glaub ganz fest daran das sie es schafft!“. Er lies sie los und schaute sie dann eindringlich, fast bittend an. „Wirklich?“ „Wirklich!“ „Wenn du Allah auch noch darum bittest, dass er sie noch bei uns lässt, sind ihre Chancen gröÃer. Tust du das?“ Als er jetzt so vor ihr stand und sie fragte fiel er auf dass er in diesem Moment nichts mehr mit dem souveränen Mann gemeinsam hatte, der vor sechs Wochen in ihrem Büro gestanden hatte. „Natürlich!“ antwortete sie und die beiden liefen schweigend zurück ins Hotel.
Am nächsten Tag hatte sie frei, wie immer, ein freier Tag pro Woche. Anders war der Job nicht zu schaffen, ging ihre reguläre Arbeitszeit doch von morgens um sieben bis die Kasse abends ausgezählt war und da wurde es meist halb elf.
Sie stand um acht Uhr auf, was für sie ausschlafen bedeutete und frühstückte dann gemütlich. Eigentlich ging sie an ihren freien Tagen immer shoppen, doch heute hatte sie keine Lust dazu.
Stattdessen begann sie im Wohnzimmer in einem Schrank zu kramen. Es dauerte einige Zeit, doch dann hatte sie gefunden was sie suchte, ihr Fotoalbum.
Sie setzte sich damit auf die beige Ledercouch und begann darin zu blättern.
Auf den ersten Seiten waren Kinderfotos von ihr eingeklebt. Heute musste sie zugeben, dass sie schon als Kind nie wirklich schlank gewesen war.
Dann folgten Fotos aus ihrer Ausbildungszeit und sie musste über ihre schrecklichen Kleider von damals lachen. Doch als sie umblätterte verging ihr das Lachen, denn auf den nächsten Seiten waren ihre Hochzeitsfotos. Sie hatte sich damals so auf diesen Tag gefreut und nicht einmal geahnt was für ein Mistkerl ihr Zukünftiger war. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt ihren Job für ihn und eine Familie aufzugeben, heute schüttelte sie darüber nur angewidert den Kopf. Sie fragte sich auch jetzt wieder warum er sie eigentlich geheiratet hatte. Aus Liebe wohl kaum, sonst wäre nicht seine Freundin in der Kirche erschienen. Nachdem alles herausgekommen war, war sie sofort wieder arbeiten gegangen. Es hatte ihr geholfen nicht ständig daran zu denken. Dort bekam sie die Anerkennung, denn sie war gut und das wusste jeder im Hotel. Seit damals war sie lieber im Hotel als zuhause, hier kam sie eigentlich nur zum Schlafen her, was auch unschwer an der spärlichen Einrichtung zu erkennen war. Ihre Freunde von damals hatten nach und nach alle geheiratet und Kinder bekommen, manche waren inzwischen wieder geschieden. Doch da sie kaum Freizeit hatte, oder wollte, waren die meisten Kontakte mit der Zeit eingeschlafen.
Der Rest des Albums enthielt nur Fotos aus dem Hotel, bei verschiedenen Anlässen waren immer wieder Fotos gemacht worden. Zu Weihnachten, beispielsweise, zum groÃen Festbankett. Das „Arabian Nights“ war das einzige Hotel auf ganz Mallorca, dass das ganze Jahr geöffnet hatte. Sie war dankbar dafür dass sie nicht jeden Winter arbeitslos wurde und es machte zudem Spaà im Winter im Hotel zu sein. Es war nicht so ein Trubel wie zur Hauptsaison und die Gäste waren alle sehr wohlhabend. Es waren viele dabei die jedes Jahr wiederkamen und man kannte sich. Encarna hatte aber trotzdem immer Wert darauf gelegt dass keine Freundschaften entstanden, denn sie brauchte eine gewisse Distanz für ihre Arbeit.
Jetzt fielen ihr wieder Sara und Athina ein. Es war das erste Mal in ihrer ganzen Berufszeit gewesen, dass sie privat etwas mit Gästen unternommen hatte. Wieder sah sie die beiden vor sich wie sie sich jeden Morgen über etwas anderes amüsierten und sie musste lachen. Dann plötzlich hatte sie wieder Athinas Husten im Ohr und sie hoffte, dass sie zuhause, wo auch immer das sein mochte, einen Arzt aufgesucht hatte. Im Laufe der Woche die sie mit den beiden verbracht hatte, waren ihre Zweifel immer gröÃer geworden, dass die beiden wirklich aus Frankreich kamen. Saras Französisch war einfach zu schlecht. Athinas war zwar besser, aber lies auch Spuren eines sehr seltsamen Akzentes erkennen. Nach Dialekt klang es auch nicht, Encarna konnte es nicht zuordnen. Zum Schluss hatte sie sich mit den beiden fast ausschlieÃlich auf Deutsch unterhalten, was den beiden Schwestern leichter zu fallen schien. Encarnas Deutsch war zwar auch nicht viel besser als ihr Französisch, aber es ging irgendwie. Ihre Fremdsprachenkenntnisse beschränkten sich nämlich, auÃer in Englisch, auf die Speise und Getränkekarte.
Sie packte das Album gerade wieder weg, als das Telefon klingelte. Sie musste es erst suchen und folgte dem Klingeln hektisch durch die Wohnung. SchlieÃlich fand sie es in der Küche auf der Spüle. „Encarna Diaz, hallo?“ meldete sie sich atemlos. „ Hallo hier ist Said. Waren sie gerade joggen, oder was tun sie?“ lachte er am anderen Ende. Sie war überrascht gewesen, dass er sie anrief und war gespannt was er wollte. Vielleicht sollte sie ja heute doch noch ins Geschäft kommen? „Nein, ich musste das Telefon erst suchen. Was gibt es denn?“ Er lachte jetzt wirklich. Sie freute sich ihn lachen zu hören, auch wenn sie seit gestern wusste, das sein Lachen nicht immer echt war. „Ja ja, hier im Hotel die Leute mit deinem Ordnungsfimmel in den Wahnsinn treiben und daheim rumschlampen, das haben wir gerne“ Sie lachte jetzt auch weil sie sich vorstellen konnte wie er sich in ihrem Schreibtischstuhl zurücklehnte, die FüÃe auf dem Tisch und vor sich hin grinste. Sie hatte ihm oft beim Telefonieren zugesehen. „Tja, da hast du mich wohl ertappt, aber du rufst doch bestimmt nicht an um den Zustand meiner Wohnung zu überprüfen, oder?“ Sie wollte jetzt endlich wissen um was es ging. „Ãh, nein, eigentlich nicht. Ich wollte, na ja, eigentlich wollte ich fragen ob du an deinem freien Tag Lust hättest mit mir essen zu gehen?“ Vor Schreck wäre ihr fast das Telefon aus der Hand gerutscht. Sie musste überlegen was sie jetzt antwortete, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte. Eigentlich wollte sie Beruf und Privates immer streng trennen, was ihr bisher auch immer gelungen war, wenigstens fast immer. Bis auf das eine Mal, Sara und Athina. Und was hatte sie jetzt davon? Sie saà hier und machte sich Sorgen um Athina, während die beiden nicht einmal kurz angerufen hatten. „Hallo? bist du noch da?“ fragte Said. „Ja, doch, natürlich“ antwortete sie verwirrt. „Also was ist, gehst du heute Abend mit mir essen?“ fragte er noch einmal. „Said, eigentlich habe ich heute Abend schon was vor. Es geht nicht, tut mir Leid.“ Sie versuchte sich heraus zu reden. Wenn sie schon was vor hatte konnte er eigentlich nichts mehr tun. Für einen Moment war sie erleichtert. „Ok, dann anders“ hörte sie ihn am anderen Ende, „ du wirst heute Abend um punkt acht fertig angezogen vor deiner Tür stehen. Ich hole dich ab. Das ist keine Bitte sondern ein Befehl deines Chefs. Falls es dir besser gefällt kannst du dir auch einreden es wäre ein Geschäftsessen. Du wirst da sein.“ sie versuchte ihn mit einem verzweifelten „Ja, aber…“ zu unterbrechen, was ihr nicht gelang. „ Und erzähl mir jetzt nicht wieder du hättest etwas vor, ich glaub dir sowieso nicht. Ich bin jetzt seit sechs Wochen hier und du hattest an deinem freien Tag nie etwas Besseres vor als doch noch im Hotel aufzutauchen. Deshalb rufe ich auch schon heute Vormittag an, dass du Zeit hast dir zu überlegen was du anziehen wirst. Und komm bloà nicht auf die Idee hier doch noch aufzutauchen. Ich bin dein Chef und ich habe dir deine Aufgabe für heute erteilt. Okay?“ „Was bildest…“ begann sie doch er lieà sie wieder nicht ausreden. „Heute Abend, punkt acht Uhr. Du wirst da sein. Ich freu mich!“ sagte er und legte auf. Encarna stand da und starrte das Telefon an als hätte sie einen Geist gesehen.
TBC