29.05.2006, 22:51
Zwei Wochen später saÃen alle drei morgens gemeinsam beim Frühstück in Saids Villa. Er hatte beschlossen dass Rana bleiben sollte um sich zu erholen, auch wenn die Schule schon wieder begonnen hatte.
Von jetzt auf nachher bekam Encarna so einen Eindruck was es bedeutete Mukoviszidose zu haben. Athina hustete ständig. Sie musste eine Unzahl von Medikamenten nehmen und das tägliche Inhalieren und „Abklopfen“ nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Wenn Athina morgens aufstand war das Erste was sie tat inhalieren, danach musste sie die Medikamente nehmen, so dass sie am Frühstückstisch oft keinen Hunger mehr hatte. Doch Said zwang sie zum Essen, denn es war wichtig dass sie genügend Vitamine bekam. Sie musste ohnehin schon Zusatzpräparate einnehmen. Der ganze Tagesablauf war durch die Krankheit bestimmt, doch nicht nur der von Athina, sondern auch der von Said und jetzt auch Encarnas.
Auch an diesem Morgen kam wieder eine Diskussion auf, weil Athina nichts essen wollte. Encarna verstand zwar kein Wort, da sich Said und Athina meist auf Arabisch unterhielten, doch sie wusste ja um was es ging.
Sie waren noch nicht ganz fertig, weder mit dem Frühstück, noch mit der Diskussion, als es klingelte.
Said stand auf um nachzuschauen wer da war und kurze Zeit später hörte man eine Frau und einen Mann, die Said auf Deutsch begrüÃten. Als Athina die Stimmen hörte, stellte sie ihr Saftglas auf den Tisch und murmelte „Och nein!“, was Encarna verstand. Doch noch bevor sie fragen konnte um was es denn ging, stand eine Frau in der Tür. Schlank, lange dunkle Haare, blaue Augen und sehr hübsch. Neben sie trat ein Mann der etwas älter war und blonde kurze Haare hatte. Encarna musterte die beiden und die Präsenz der Frau erschlug sie fast, so kam es ihr jedenfalls vor.
Nun kam auch Said und Athina saà immer noch auf ihrem Stuhl und rührte sich nicht. „Athina, Liebling, was soll das? Ich freu mich so dich zu sehen!“ flötete die Frau und Encarna war längst klar wer hier vor ihr stand. Athina schaute Encarna an und verdrehte die Augen, bevor sie aufstand und die beiden Gäste kühl begrüÃte. „Hallo Sophie, hallo Fred. Was macht ihr denn hier?“ Für einen kurzen Moment verschwand das Lächeln aus Sophies Gesicht. „Wir haben gehört, dass du hier bist. Und da wir gerade hier Urlaub machen, haben wir gedacht wir schaun mal kurz vorbei!“ dann schweifte ihr Blick zu Encarna und ihr Lächeln wurde immer aufgesetzter. Nun meldete sich Said zu Wort. „Das ist Encarna, meine Freundin und das, Schatz ist Sophie, Athinas Mutter und ihr Mann Fred.“ Sie tauschten einen kurzen Gruà aus, bevor sich Sophie aus dem Schrank noch zwei weitere Gedecke nahm und sich dann mit Fred an den Tisch setzte. Auch Said und Athina nahmen wieder Platz.
„Gut siehst du aus Rana!“ sagte Sophie lächelnd und sichtlich darum bemüht mit ihrer Tochter ins Gespräch zu kommen. Encarna fragte sich wann Sophie ihre Tochter das letzte Mal gesehen hatte und wie Athina da wohl ausgesehen hatte. Denn sie war immer noch sehr dünn, wenn auch nicht mehr so blass wie vor zwei Wochen. Auch ihr Gesicht war nicht mehr ganz so aufgedunsen wie bei ihrer Ankunft, aber sie sah immer noch krank aus und sah man davon ab, dass sie allgemein sehr hübsch war, sah sie heute nicht „gut“ aus. Encarna sah zu Said, der ihr durch seinen Blick signalisierte, dass er das Gleiche dachte.
Den Rest des Frühstücks erzählte Sophie irgendwelche Geschichten auf Deutsch, die Encarna nur zum Teil verstand, da Sophie mit starkem österreichischem Akzent sprach. Athina saà desinteressiert zwischen Encarna und Said und stand irgendwann einfach auf und ging.
Zuerst wollte Sophie ihr folgen, doch Said riet ihr das nicht zu tun.
In diesem Moment hörte Sophie auf zu Lächeln. „Said, wie geht es ihr?“ und Encarna kam es vor als habe ihr das ganze Frühstück über eine andere Frau gegenüber gesessen. „Es geht. Wieder besser. Sie hatte wieder eine Lungenentzündung,“ antwortete er. „Eines Tages stirbt sie und ich bekomme es nicht mit, weil mir keiner was sagt!“ sagte Sophie wütend. „Sophie diese Diskussion hatten wir schon so oft, ich habe keine Lust darauf. Das euer Verhältnis nicht besser ist, ist nicht meine Schuld. Du hättest bleiben können, du wolltest nicht. Du hättest sie öfter besuchen können, du wolltest nicht. Also lass es!“ Sophie warf Encarna einen Hilfe suchenden Blick zu und der fiel nun zum ersten Mal die groÃe Ãhnlichkeit zwischen Sophie und Athina auf. Sie hatten die gleiche Gesichtsform, den gleichen Mund und die gleiche Nase. Auch das blau der Augen war gleich, nur die Gesichts und Augenform hatte Athina von Said.
Encarna lächelte Sophie kurz zu, die schien es zu verstehen, denn als sie gingen tauschten die beiden Visitenkarten aus, ohne dass Said es bemerkte.
Die beiden waren gerade gegangen, da stürmte Said in den dritten Stock in Athinas Zimmer und Encarna hörte ihn unten noch schreien. Sie verstand kein Wort, wie so oft seit Athina hier war, denn wieder einmal sprach er Arabisch. Aber es war klar, dass er sich über irgendetwas sehr aufregte. Es war das erste Mal, dass sie ihn schreien hörte und sie hätte es nie für möglich gehalten, dass er Athina überhaupt anschrie. Nun wurde sie eines besseren belehrt. Zuerst wollte sie unten bleiben, doch nach ein paar Minuten kam es ihr vor als würde er überhaupt nicht mehr aufhören und sie ging nach oben.
Je weiter sie nach oben kam um so lauter wurde er und umso langsamer wurden ihre Schritte.
Zaghaft lief sie dann in einen, der vier vom Treppenabsatz sternförmig abgehenden Gänge und fand sich vor Athinas offener Zimmertür wieder. Sie sah, dass Athina auf dem Bett saà und Said belustigt betrachtete, während der seitlich am Bett stand, immer noch brüllend und schon ganz rot im Gesicht.
Athina bemerkte sie als erstes und schaute belustigt zwischen Said und Encarna hin und her. Als Said sie bemerkte hörte er augenblicklich auf zu brüllen, sagte aber etwas, was sehr drohend klang und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Athina ihm etwas entgegnete worin der Name „Sophie“ vorkam. Einen Moment lang dachte Encarna Said würde sich auf Athina stürzen und sie verprügeln, dann schlug er aber nur die Tür hinter sich zu und stellte sich kopfschüttelnd vor sie.
„Lass uns nach unten gehen“ sagte er und nahm Encarnas Hand. Während sie die Treppen hinunter stiegen, verschwand ganz langsam das Rot aus seinem Gesicht und er sah fast wieder normal aus.
Unten setzen sie sich in das kleinste der drei Wohnzimmer oder Aufenthaltsräume, wie Said immer sagte. Für einen kurzen Moment blieb Said neben ihr sitzen, dann legte er sich auf das Sofa, den Kopf auf ihre Beine.
„Ich wollte dir keine Angst machen, tut mir leid!“ sagte er dann und fuhr ihr kurz übe die Wange. „Ich hatte keine Angst vor dir“ entgegnete sie wahrheitsgemäÃ, „Ich habe mich nur gefragt weshalb du so rumbrüllst. Das kenne ich nicht von dir.“
„Normalerweise ist das auch nicht meine Art und es kommt sehr selten vor, aber Rana schafft es des Ãfteren.“ „Ich hatte eigentlich immer den Eindruck, dass du dich mit ihr besonders gut verstehst, wenn du von deinen Kindern erzählt hast“. Er begann mit ihren Haaren zu spielen, die sich teilweise aus der Haarspange gelöst hatten. „Das stimmt ja auch. Aber sie ist auch die Einzige die es schafft mich von null auf hundert zu bringen, in weniger als einer Sekunde!“ grinste er jetzt schon wieder. „Um was ging es denn?“ Jetzt wollte sie es wissen und war gespannt ob er ihr ausweichen würde. Er tat es nicht. „Um Sophie. Ich hasse es wie Rana ihre Mutter behandelt. Sie hat Fehler gemacht, ja, aber es reicht wenn ich ihr das vorhalte. Rana ist ihre Tochter, sie hat nicht das Recht dazu!“ „Wieso denn nicht? Wenn sie Gründe dafür hat!“ „Nein, es gibt nie Gründe seine Mutter schlecht zu behandeln. Niemals. Wenn ich dulden würde dass alle in der Familie so miteinander umgingen, hätten wir Mord und Totschlag.“ Encarna wusste nicht was sie dazu sagen sollte. Sie wusste nicht genau welche Gründe Athina hatte ihre Mutter schlecht zu behandeln, dafür kannte sie die Geschichte der beiden nur zu oberflächlich und sie wollte sich auch nicht einmischen.
„Aber du hast ja gesehen, dass mein Schreianfall meine Tochter nicht besonders beeindruckt hat.“ „Ja, das war deutlich an ihrem Gesicht zu erkennen, ich glaube sie hat sich köstlich amüsiert.“ „Hast du mich ernst genommen?“ fragte er mitleidserregend. „Ja, schon. Du hast ja laut genug gebrüllt.“ „Hattest du ein kleines bisschen Angst und Respekt vor mir?“ sein Ton blieb der Gleiche. „Nicht wirklich, Said!“ lachte sie jetzt. „Sehr gut! Ich will nämlich nicht dass du Angst vor mir hast!“ lachte er und küsste sie dann.
„Aha, du hast dich also wieder abgeregt!“ stellte Athina einige Minuten später fest, als die beiden sich immer noch küssten. Sie grinste dabei und Encarna die zuerst erschrocken war, entspannte sich wieder.
„Setz dich“ befahl Said ihr dann, aber sehr freundlich. „Baba, entschuldige, aber es sieht lächerlich aus, wenn du in Schuhen auf der Couch liegst, denn Kopf auf Carnas Beinen und Befehle aussprichst. Ich glaube du solltest deine Lage verbessern, bevor du Befehle austeilst“, lachte sie und setzte sich. „Was gibt es denn?“ „Hast du deine Medikamente jetzt genommen?“ er war wieder ernst. „Nein“, die Antwort war klar und deutlich und auf Französisch, so dass Encarna nun auch dem Gespräch folgen konnte. „Warum nicht? Du weiÃt doch wie wichtig sie sind! Rana bitte!“ „Ich will nicht. Von den blöden Dingern wird mir immer übel!“ „Besser dir wird übel, als dass du stirbst.“ Er wurde wieder lauter, aber schrie nicht.
„Ja, ich weiÓ Sie ging hoch in ihr Zimmer um die Tabletten zu nehmen, als sie plötzlich anfing zu schreien. „Baba! Carna! Baba!“ Die beiden sprangen vom Sofa auf und wollten gerade nach oben laufen, als Athina schon vor ihnen stand. Total auÃer Atme deutete sie auf den Fernseher und versuchte etwas zu sagen, was ihr aber nicht gelang, da sie nun begann zu husten. Said schaltete schlieÃlich den Fernseher an und im nächsten Moment stockte sowohl Said, als auch Encarna der Atem. Im Fernsehen war das brennende World Trade Center zu sehen, der eine Turm war bereits eingestürzt, aus dem anderen sprangen die Menschen in Panik aus dem Fenster.
Bis auf Athinas Husten war es ganz still, keiner sagte etwas. Die beiden setzten sich aufs Sofa und schauten sich die Bilder an. „Das ist ein schlechter Film, oder?“ fragte Said nach einiger Zeit. „Baba, wer macht so was?“ Mittlerweile wurden immer wieder die Bilder eingeblendet wie die beiden Flieger in die Türme rasten. Der zweite Turm brach in sich zusammen, Encarna schrie auf.
Said schaltete um, auf dem anderen Kanal war das zerstörte, brennende Pentagon zu sehen.
Etwa drei Stunden saÃen die drei da und starrten ungläubig auf den Bildschirm.
„Rana, ruf Sara an und sag ihr sie soll einen Rundruf starten. Ich will, dass alle in drei Tagen zuhause sind, inklusive Kinder und Ehemänner. Vor allem Saskia soll aus den USA raus, am besten noch heute!“ „Glaubst du das war nicht der letzte Anschlag?“ fragte Athina. „Ich glaube das war erst der Anfang. Und jetzt geh!“
Als Athina den Raum verlassen hatte, wandte er sich Encarna zu. „Kommst du mit nach Tunis?“ sie schaute überrascht auf. „Said, ich weià nicht…“. Sie beendete den Satz nicht. „Bitte, komm mit uns. Ich brauch dich dort jetzt!“ „Meinst du nicht dass es etwas zu früh ist?“ Er lief unruhig im Raum auf und ab. „Nein, ich glaube nicht. Für mich nicht. Ich will, dass du mitkommst. Es wäre mir wirklich wichtig.“ „In Ordnung, dann werde ich mitkommen“ sagte sie, noch bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte.
Während Athina anfing zu packen fuhr Said ins Hotel und regelte seine Abreise und Encarnas Abwesenheit und Encarna packte bei sich zu Hause. Während sie ihre Koffer packte kam ihr das alles unwirklich vor. Die Bilder aus dem Fernseher immer noch im Kopf kam sie sich vor wie in einem Alptraum. Gleichzeitig freute sie sich darauf mit Said und Athina nach Tunis zu fliegen um dort seine Familie kennen zu lernen.
Said holte sie auf dem Rückweg wieder ab und nahm sie wieder mit zur Villa. Er wollte heute noch fliegen.
Als sie ankamen hörten sie Athina laut mit jemandem diskutieren, zuerst dachte Encarna sie würde telefonieren, doch dann erkannte sie Sophies Stimme.
Beide standen oben in Saids Schlafzimmer und verstummten als Said und Encarna den Raum betraten. „Said, was hast du vor?“ fuhr Sophie ihn an. „Wir werden nachhause fliegen. Willst du auch mitkommen?“ Er blieb ganz ruhig. „Ich bin doch nicht lebensmüde. Eben wurde bin Laden als möglicher Täter genannt. Wenn das stimmt fliegt ihr genau in die falsche Richtung! Soweit ich weià stehst du nicht auf der Freundesliste der al Qu’aida!“ schrie sie. „Und Athina wird nicht nach Tunis fliegen. Sie kommt mit mir!“ Sophie war vollkommen aufgelöst, den Tränen nahe. Ihre Angst um Athina war deutlich spürbar, schien Said aber nicht zu beeindrucken. „Rana kommt mit mir. Du kannst mit kommen wenn du willst. Deine Kinder und dein Mann natürlich auch. Du weiÃt, dass ich meine Familie nie in Gefahr bringen würde. Aber ich denke im Moment ist es in allen Ländern gefährlicher die mit den USA verbündet sind als sonst wo. Und nur zu Hause komme ich an Informationen.“ „Versprich mir, dass ihr in Tunis bleibt und nicht in die VAE fliegt!“ „Das kann ich nicht Sophie. Wenn es sein muss werden wir dorthin fliegen.“ Sophie brach in Tränen aus und Encarna verstand nicht weshalb sie sich solche Sorgen machte. Es war nicht geklärt wer diese Anschläge begangen hatte. Es war nicht geklärt ob sie wieder zuschlagen würden und es war mehr als unwahrscheinlich, dass einer von ihnen von Anschlägen getroffen werden würde. Aber ihres Wissens nach waren die Attentäter doch in den Flugzeugen mit umgekommen. Und wer war al Qu’aida? Sie hatte diesen Namen schon einmal gehört, konnte ihn aber nicht zuordnen. Noch am gleichen Tag flog sie abends mit Said und Athina in seiner Privatmaschine nach Tunis, mit Zwischenstopp Berlin, wo Sara zustieg.
Während des Flugs wurde wenig gesprochen und auch Athina und Sara redeten wenig. Die ganze Zeit über lief das Fernsehen mit den neusten Nachrichten. Irgendwann schaltete Said aus.
TBC