16.02.2008, 15:18
Man mag es kaum glauben, aber ich habe dieses Kapitel endlich fertig. Auch das nachfolgende ist in der Rohfassung so gut wie beendet. Das war mal eine Leistung. Ich wünsche viel Spaà beim Lesen und freue mich wie immer über Feedback.
Der GroÃteil der freien Plätze war mittlerweile besetzt. Langsam kehrte Ruhe unter den Studenten ein, denn die waren erstaunt über den Mann in ihrem Alter, der an der Tafel stand. Dem Studienplan nach war er Doktor, was für das Alter doch erstaunlich war.
Charlie bemerkte nichts, denn er schaute wieder und wieder auf seine Notizen, aus denen er immer weniger schlau wurde. Hatte er beim Frühstück noch Ideen für den perfekten Einstieg gehabt, so war er jetzt hoffnungslos verloren. SchlieÃlich riss er sich zusammen und stand auf, um die Tür zu schlieÃen. Dann ging er zurück zu seinem Tisch und begann die Vorstellung ohne den Ansatz eines Plans. „Hallo“, sagte er in die Runde, als ihm klar wurde, wie er die kommende Stunde gestalten würde. „Ich bin Charles Eppes und werde Sie heute in das Gebiet der angewandten Mathematik einführen. Wenn Sie so wollen, ist das meine Welt“, beendete er seine Eröffnung, ohne groà darüber nachzudenken. Plötzlich war alles einfach, deswegen konzentrierte er sich voll und ganz auf die Mathematik, so dass er Amita, die immer noch mit im Raum war, komplett vergaÃ.
„Sie alle wissen vermutlich, dass angewandte Mathematik sehr vielfältig ist. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und Spieltheorie umreiÃen nur grob das ganze Feld. Leider gibt es bislang nur diesen einen übergeordneten Kurs für das gesamte Gebiet, der eventuell auch auf andere Vorlesungen der klassischen Mathematik übergreift. Für die Zukunft versuche ich, diesen Kurs aufzuteilen. Aber ich bin - genau wie sie - neu hier und werde erst einmal schauen, wie dieser Kurs läuft. Inhaltlich beginnen wir jetzt mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Hierfür habe ich eine kleine Aufgabe vorbereitet, die für Sie ein Kinderspiel sein dürfte.“ Mit diesen Worten drehte er sich zum Tisch, nahm einen Würfel, den er zuvor dort hingelegt hatte, in die Hand und wendete sich wieder den Studenten zu. Den Würfel hielt er für alle gut sichtbar hoch. „Stellen Sie sich vor, dass wir diesen Würfel vierzig Mal werfen. Dabei ergibt sich folgende, angenommene Verteilung: Die Eins wird fünfmal gewürfelt, die Zwei siebenmal, die Drei viermal, die Vier neunmal, die Fünf achtmal und die Sechs fünfmal. Nennen Sie mir die absoluten Häufigkeiten hierzu.“ Nacheinander nannten einzelne Studenten die Ergebnisse, die Charlie an der Tafel festhielt, ebenso wie die Angaben, die er zuvor gemacht hatte. Dann fuhr er fort bis sie dazu die relativen Häufigkeiten festgestellt hatten.
Nachdem die Fingerübung beendet war, teilte er seinen Studenten mit, wie er sich die kommenden Vorlesungen zum Thema Wahrscheinlichkeitsrechnung vorstellte, bis er nach einer Stunde langsam zum Schluss kam. „Nun wissen Sie, was Sie erwartet. Wir sehen uns am Donnerstag. Bei Fragen vielleicht auch schon vorher, denn meine Tür steht Ihnen immer offen.“ Damit schloss er die Vorlesung endgültig.
Die Studenten klappten die Laptops zu, sammelten ihre Sachen zusammen und verlieÃen nach und nach den Raum. Ebenso begann auch Charlie, seine Unterlagen zu sortieren und sich Notizen zu machen, wo er beim nächsten Mal ansetzen würde. Dabei verlor er den Fokus auf die Mathematik wieder und ging stattdessen seinen ersten Tag an der CalSci und die damit verbundenen Erlebnisse noch einmal durch. Nur eines der vorbeiziehenden Bilder blieb länger: Amita. Schon der Gedanke an sie brachte ihn dazu, in die Realität zurückzukehren, den Blick zu heben und sich nach ihr umzuschauen. Für einen Moment konnte er sein Glück nicht fassen, denn sie war noch da. Doch ihre Aufmerksamkeit lag nicht bei ihm, stellte er fest. Stattdessen unterhielt sie sich angeregt mit einem Kommilitonen, einem männlichen Kommilitonen.
In seinem Inneren begehrte etwas auf, ein Gefühl, das er nicht genau definieren konnte. Doch er lieà sich nichts anmerken und sammelte einfach weiter seine Sachen zusammen. Währenddessen schielte er jedoch immer wieder zu den beiden herüber und bemerkte, wie sie lachte, was einfach nur wunderschön war. Kurz darauf verlieà auch sie den Raum, aber sie ging nicht alleine, denn der Kommilitone war noch immer bei ihr. Viel Zeit blieb ihm aber nicht, darüber nachzudenken, denn als auch er gehen und die Tür schlieÃen wollte, stand sein Bruder überraschend vor ihm.
„Hey Brüderchen!“, begrüÃte Don ihn.
„Oh!“, entfuhr es ihm überrascht. „Was machst Du denn hier?“
„Ich will Dich abzuholen“, erwiderte dieser grinsend, „und mir anschauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“
Sofort fragte Charlie sich, ob sich sein Bruder wirklich dafür interessierte oder ob er ihn einfach nur aufzog, wie er es so oft tat. Wieder bemerkte er die paradoxe Beziehung, die er zu seinem Bruder hatte; zwar konnte er nicht ohne ihn leben, aber mit ihm war es oft genauso schwierig, wenn nicht sogar schwieriger. Schon immer hatte Don Witze auf seine Kosten gemacht, die er nicht halb so witzig fand. Doch das war im Moment nicht wichtig, denn er war mit Larry verabredet und musste deshalb seinen Bruder abwimmeln. „Ich habe nicht viel Zeit, soll gleich noch zu meinem Mentor. Wir sehen uns dann ja später zu Hause. Mum freut sich bestimmt Dich zu sehen.“ So kurz angebunden war er selten, aber er hatte keine Lust auf ein Gespräch mit seinem Bruder. Stattdessen wollte er nur die versprochene Tasse Kaffee abholen.
„Nichts da. Nun bin ich schon mal hier, dann zeigst Du mir auch alles. Morgen fahre ich wieder, dann bist Du mich los. Du kannst mir Deinen Professor ruhig vorstellen.“
„Er ist mein Mentor, Don“, sagte Charlie, dem die Art seines Bruders schon wieder nervte, gereizt und verdrehte dabei die Augen, „denn, wie Du weiÃt, bin ich kein Student mehr.“ Doch trotz dieser Gefühle konnte er seinem Bruder die Bitte nicht abschlagen und lieà sich erweichen. „Dann komm.“
Gemeinsam gingen sie zu Larrys Büro. An dessen Tür angekommen, klopfte Charlie und trat, ohne auf eine Antwort zu warten, in den Raum. SchlieÃlich wurde er erwartet. Er konnte nicht ahnen, dass er mit seinem Bruder in ein Gespräch reinplatzte und wollte schon wieder hinausgehen, als er den Gesprächspartner, genauer gesagt die Gesprächspartnerin, seines Mentors wieder erkannte. Vor ihm saà Amita, die sich nun auch umgedreht hatte, und ihn sah. Dieses Mal stieg beiden die Röte ins Gesicht, woraufhin sie den Kopf wegdrehte und Don bemerkte.
Sofort fiel sie Don, der in Bezug auf Frauen anders als sein Bruder sehr direkt war, ins Auge. Doch belieà er es bei einem Blick auf die Schönheit, denn er wollte seinen Bruder nicht bloÃstellen. In freier Wildbahn hätte er sich vermutlich anders verhalten. Doch der Blickkontakt hielt nicht lange, sie wendete sich schnell wieder Larry zu.
Die Situation war Charlie sichtlich unangenehm. „Wir kommen später wieder“, verabschiedete er sich und wendete sich schon der Tür zu, wobei er seinen Bruder am Arm mitzog. Diesem wollte er keinen Grund für Sticheleien geben.
„Schon gut, schon gut. Bleib ruhig“, sagte Larry zu Charlie und übersah dessen Bruder, als ob er Luft war. Dann wendete er sich verwirrt wieder Amita zu. „Wo waren wir stehen geblieben, Ms Ramanujan?“
„Wir haben eigentlich alles geklärt. Ich komme einfach noch mal vorbei in den nächsten Tagen“, beendete diese das Gespräch, denn sie wollte nicht in der Nähe ihres Dozenten sein. Einfach fliehen, und zwar schnellstmöglich. Sie waren nicht allein und nichts, rein gar nichts sollte irgendwer mitbekommen - weder der Professor noch der Unbekannte.
„Ja, dann machen wir das so.“ Die Verwirrtheit wich noch immer nicht aus seiner Stimme.
Während Larry noch redete stand sie schon auf, nahm ihren Rucksack und ging an den Brüdern vorbei zur noch offenen Tür. „Einen schönen Tag noch, Professor“, sagte sie von der Tür aus, bevor sie auf den Flur trat und die Tür hinter sich zuzog. Dabei schenkte sie den Brüdern keine Beachtung.
Längst hatte Larry das Gespräch schon wieder vergessen und wendete sich seinem Schützling zu. „Setz Dich, Charles. Erzähl mir von Deiner ersten Vorlesung“, forderte er ihn auf.
„Das erzähl ich Dir gleich“, begann er amüsiert darüber, dass sein Bruder einfach übersehen wurde. An dieses Gefühl konnte er sich gewöhnen. „Zuerst möchte ich Dir meinen Bruder, Don, vorstellen. Er hat mich überraschend nach der Vorlesung abgefangen, darum habe ich ihn kurzerhand mitgenommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?!“, erklärte er in einem lockeren Tonfall. Dass er über diese Ãberraschung nicht sonderlich erfreut war, lieà er nicht anklingen, denn das war eine Familiensache, die hatte hier nichts zu suchen.
„Es freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Larry daraufhin zu Don, stand dabei leicht auf und gab ihm die Hand. Nachdem die BegrüÃung beendet war, schaute Don nur verwirrt über diesen komischen Kauz zu seinem Bruder. Der zuckte aber nur mit den Schultern. Sollte sich sein Bruder doch über die Menschen wundern, mit denen er tagtäglich zu tun hatte. SchlieÃlich wusste er, dass Don nicht anders von ihm, seinem kleinen Bruder, dachte.
Während er noch darüber nachdachte, begann er endlich von seiner Vorlesung zu berichten. Dabei lieà er nichts aus, aber es war auch nichts passiert, das er auslassen müsste. Nur ein Thema sprach er nicht an, Amita. Präsent, wie sie war, gehörte sie zwar zu seiner Arbeit und war so auch als Gesprächsthema mit seinem Mentor geeignet, doch hatte er das Gefühl, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Seine Gedanken zu ihr würde er mit niemand teilen.
Erfreut hörte Larry den Ausführungen zu. Zuvor, als er den Hörsaal verlassen hatte und Charlie auf sich allein gestellt war, hatte er nicht gedacht, dass dieser sich so gut schlagen würde, schlieÃlich hatte er nicht gut ausgesehen. So freute ihn das Ergebnis nur umso mehr. Ãber die Freude vergaà er ganz, den Kaffee, den er versprochen hatte, anzubieten. Nachdem Charlie endlich fertig war, wurde es ruhig im Raum.
Zwar hatte Don den Ausführungen seines Bruders zugehört, doch war er mit seinen Gedanken woanders, er war bei der dunkelhaarigen Schönheit von vorhin. Sie wollte einfach nicht aus seinem Kopf raus, egal wie sehr er sich bemühte. Und er bemühte sich wirklich, denn seinen Kopf brauchte er momentan für andere Dinge. Schon morgen musste er wieder nach Quantico zurück, wo er im Begriff war, seine Ausbildung beim FBI abzuschlieÃen. Deswegen war er auch noch in der Nacht nach Los Angeles geflogen, da er hierher versetzt werden wollte und heute ein Vorstellungsgespräch hatte. Zwar hatte man ihm zwei Stellen angeboten, Los Angeles oder Houston, doch wählen musste er nicht. Denn, wie sich gerade eben bestätigt hatte, gab es hier eindeutig die schönsten Frauen. Allein bei diesem Gedanken breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, eines das dem seines Bruders beim Gedanken an Amita nicht unähnlich war.
Charlie sah dieses Grinsen, das er kannte und fragte sich, an wen sein Bruder dachte. Die Stille wurde wirklich spürbar, doch die Frage, die er stellen wollte, konnte er nicht stellen. Er wollte wissen, was Amita hier gemacht hatte, also suchte er nach Wegen, sein Interesse unauffällig in das nicht vorhandene Gespräch einflieÃen zu lassen.
„Professor, kann ich Sie etwas fragen?“, richtete Don sich an Larry.
„Natürlich.“
„Wer war die junge Frau vorhin?“
„Oh, Sie meinen Ms Ramanujan?! Sie ist eine Studentin und hat mich gefragt, ob sie an meinem aktuellen Projekt mitarbeiten kann. Sie ist im ersten Semester, eine aufgeweckte junge Frau. Mit dem Lebenslauf, den sie mir gezeigt hat, wird sie es weit bringen“, erzählte er ausführlich. „Ich denke, ich werde ihr eine Chance geben.
Als sie das hörten, fielen die Eppes-Männer fast vom Stuhl, denn Don wusste nun, wie er sie jederzeit wieder sehen konnte und Charlies Frage hatte sich beantwortet. Nun würde er sie vermutlich viel öfter sehen, als er es jetzt schon ohne besondere Verbindung tat. Innerlich freute er sich nun noch mehr auf das kommende Jahr, das er an der CalSci verbringen würde.
Zwar bemerkte Larry die Gefühlsregungen der beiden, konnte sie aber nicht deuten, denn Menschen waren keine Wissenschaft, die sich studieren lieà wie die Physik oder die Mathematik. So konnte er nur raten, doch das wollte er nicht, denn Fakten waren für ihn schon immer wichtiger und aussagekräftiger gewesen. Darum entschloss er sich zu warten, bis sein Schützling es erzählen würde.
Charlie brauchte Zeit, um über die Geschehnisse nachzudenken, sie zu verdauen. Darum stand er langsam auf, sein Bruder machte es ihm nach. Gemeinsam verlieÃen sie, nachdem sie sich von Larry verabschiedet hatten, den Raum. Als sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatten, blieben sie stehen.
„Komm, lass uns nach Hause fahren“, sagte Don befehlender, als er es gewollt hatte.
Diesen bestimmenden Tonfall mochte Charlie nicht, also reagierte er frostig: „Danke, ich fahre mit dem Fahrrad. Wir sehen uns dann dort.“ Doch es spielte noch mehr mit rein in diese Antwort. Auch das Interesse seines Bruders an Amita missfiel ihm. Keine Frau konnte er für sich haben, alle wollte auch sein Bruder haben. Durch sein Genie war er zwar etwas Besonderes, doch half ihm das bei Frau nicht unbedingt. Gerade in dem Augenblick erinnerte er sich an den Abschlussball, der Highschool, als er und Don das gleiche Mädchen eingeladen hatten, aber er wegen seines Alters keine Chance hatte. Daraus kam er zu der Frage, ob es bei dieser Frau wieder so enden würde.
Natürlich hatte Don den Tonfall bemerkt, schlieÃlich war er während der Ausbildung beim FBI darauf getrimmt worden, sich in die Köpfe von anderen Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Ihm war klar, dass er etwas Falsches getan hatte, doch war ihm nicht klar, was es war. Also reagierte er schroff, anstatt ihn gewähren zu lassen. „Gut, dann treffen wir uns eben dort.“
„Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr hoch“, stellte Charlie nüchtern fest, bevor er sich von seinem Bruder abwendete und in entgegen gesetzter Richtung davon ging.
Don kümmerte das nicht, denn der war mit seinen Gedanken längst wieder bei der Schönheit und setzte seinen Weg zum Ausgang, der zu den Parkplätzen führte, wo er seinen Mietwagen geparkt hatte, strikt fort. Als er ihn erreichte, schloss er den Wagen auf, öffnete die Fahrertür und setzte sich hinter das Lenkrad. Dann startete er, nachdem er den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, den Motor und setzte den Wagen gekonnt zurück.
Selbstverständlich hatte er seinen Blick abwechselnd auf den Rückspielge und die AuÃenspiegel gerichtet. Trotzdem übersah er dabei etwas, denn eine Person stand im toten Winkel.
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5.
Der GroÃteil der freien Plätze war mittlerweile besetzt. Langsam kehrte Ruhe unter den Studenten ein, denn die waren erstaunt über den Mann in ihrem Alter, der an der Tafel stand. Dem Studienplan nach war er Doktor, was für das Alter doch erstaunlich war.
Charlie bemerkte nichts, denn er schaute wieder und wieder auf seine Notizen, aus denen er immer weniger schlau wurde. Hatte er beim Frühstück noch Ideen für den perfekten Einstieg gehabt, so war er jetzt hoffnungslos verloren. SchlieÃlich riss er sich zusammen und stand auf, um die Tür zu schlieÃen. Dann ging er zurück zu seinem Tisch und begann die Vorstellung ohne den Ansatz eines Plans. „Hallo“, sagte er in die Runde, als ihm klar wurde, wie er die kommende Stunde gestalten würde. „Ich bin Charles Eppes und werde Sie heute in das Gebiet der angewandten Mathematik einführen. Wenn Sie so wollen, ist das meine Welt“, beendete er seine Eröffnung, ohne groà darüber nachzudenken. Plötzlich war alles einfach, deswegen konzentrierte er sich voll und ganz auf die Mathematik, so dass er Amita, die immer noch mit im Raum war, komplett vergaÃ.
„Sie alle wissen vermutlich, dass angewandte Mathematik sehr vielfältig ist. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und Spieltheorie umreiÃen nur grob das ganze Feld. Leider gibt es bislang nur diesen einen übergeordneten Kurs für das gesamte Gebiet, der eventuell auch auf andere Vorlesungen der klassischen Mathematik übergreift. Für die Zukunft versuche ich, diesen Kurs aufzuteilen. Aber ich bin - genau wie sie - neu hier und werde erst einmal schauen, wie dieser Kurs läuft. Inhaltlich beginnen wir jetzt mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Hierfür habe ich eine kleine Aufgabe vorbereitet, die für Sie ein Kinderspiel sein dürfte.“ Mit diesen Worten drehte er sich zum Tisch, nahm einen Würfel, den er zuvor dort hingelegt hatte, in die Hand und wendete sich wieder den Studenten zu. Den Würfel hielt er für alle gut sichtbar hoch. „Stellen Sie sich vor, dass wir diesen Würfel vierzig Mal werfen. Dabei ergibt sich folgende, angenommene Verteilung: Die Eins wird fünfmal gewürfelt, die Zwei siebenmal, die Drei viermal, die Vier neunmal, die Fünf achtmal und die Sechs fünfmal. Nennen Sie mir die absoluten Häufigkeiten hierzu.“ Nacheinander nannten einzelne Studenten die Ergebnisse, die Charlie an der Tafel festhielt, ebenso wie die Angaben, die er zuvor gemacht hatte. Dann fuhr er fort bis sie dazu die relativen Häufigkeiten festgestellt hatten.
Nachdem die Fingerübung beendet war, teilte er seinen Studenten mit, wie er sich die kommenden Vorlesungen zum Thema Wahrscheinlichkeitsrechnung vorstellte, bis er nach einer Stunde langsam zum Schluss kam. „Nun wissen Sie, was Sie erwartet. Wir sehen uns am Donnerstag. Bei Fragen vielleicht auch schon vorher, denn meine Tür steht Ihnen immer offen.“ Damit schloss er die Vorlesung endgültig.
Die Studenten klappten die Laptops zu, sammelten ihre Sachen zusammen und verlieÃen nach und nach den Raum. Ebenso begann auch Charlie, seine Unterlagen zu sortieren und sich Notizen zu machen, wo er beim nächsten Mal ansetzen würde. Dabei verlor er den Fokus auf die Mathematik wieder und ging stattdessen seinen ersten Tag an der CalSci und die damit verbundenen Erlebnisse noch einmal durch. Nur eines der vorbeiziehenden Bilder blieb länger: Amita. Schon der Gedanke an sie brachte ihn dazu, in die Realität zurückzukehren, den Blick zu heben und sich nach ihr umzuschauen. Für einen Moment konnte er sein Glück nicht fassen, denn sie war noch da. Doch ihre Aufmerksamkeit lag nicht bei ihm, stellte er fest. Stattdessen unterhielt sie sich angeregt mit einem Kommilitonen, einem männlichen Kommilitonen.
In seinem Inneren begehrte etwas auf, ein Gefühl, das er nicht genau definieren konnte. Doch er lieà sich nichts anmerken und sammelte einfach weiter seine Sachen zusammen. Währenddessen schielte er jedoch immer wieder zu den beiden herüber und bemerkte, wie sie lachte, was einfach nur wunderschön war. Kurz darauf verlieà auch sie den Raum, aber sie ging nicht alleine, denn der Kommilitone war noch immer bei ihr. Viel Zeit blieb ihm aber nicht, darüber nachzudenken, denn als auch er gehen und die Tür schlieÃen wollte, stand sein Bruder überraschend vor ihm.
„Hey Brüderchen!“, begrüÃte Don ihn.
„Oh!“, entfuhr es ihm überrascht. „Was machst Du denn hier?“
„Ich will Dich abzuholen“, erwiderte dieser grinsend, „und mir anschauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“
Sofort fragte Charlie sich, ob sich sein Bruder wirklich dafür interessierte oder ob er ihn einfach nur aufzog, wie er es so oft tat. Wieder bemerkte er die paradoxe Beziehung, die er zu seinem Bruder hatte; zwar konnte er nicht ohne ihn leben, aber mit ihm war es oft genauso schwierig, wenn nicht sogar schwieriger. Schon immer hatte Don Witze auf seine Kosten gemacht, die er nicht halb so witzig fand. Doch das war im Moment nicht wichtig, denn er war mit Larry verabredet und musste deshalb seinen Bruder abwimmeln. „Ich habe nicht viel Zeit, soll gleich noch zu meinem Mentor. Wir sehen uns dann ja später zu Hause. Mum freut sich bestimmt Dich zu sehen.“ So kurz angebunden war er selten, aber er hatte keine Lust auf ein Gespräch mit seinem Bruder. Stattdessen wollte er nur die versprochene Tasse Kaffee abholen.
„Nichts da. Nun bin ich schon mal hier, dann zeigst Du mir auch alles. Morgen fahre ich wieder, dann bist Du mich los. Du kannst mir Deinen Professor ruhig vorstellen.“
„Er ist mein Mentor, Don“, sagte Charlie, dem die Art seines Bruders schon wieder nervte, gereizt und verdrehte dabei die Augen, „denn, wie Du weiÃt, bin ich kein Student mehr.“ Doch trotz dieser Gefühle konnte er seinem Bruder die Bitte nicht abschlagen und lieà sich erweichen. „Dann komm.“
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Gemeinsam gingen sie zu Larrys Büro. An dessen Tür angekommen, klopfte Charlie und trat, ohne auf eine Antwort zu warten, in den Raum. SchlieÃlich wurde er erwartet. Er konnte nicht ahnen, dass er mit seinem Bruder in ein Gespräch reinplatzte und wollte schon wieder hinausgehen, als er den Gesprächspartner, genauer gesagt die Gesprächspartnerin, seines Mentors wieder erkannte. Vor ihm saà Amita, die sich nun auch umgedreht hatte, und ihn sah. Dieses Mal stieg beiden die Röte ins Gesicht, woraufhin sie den Kopf wegdrehte und Don bemerkte.
Sofort fiel sie Don, der in Bezug auf Frauen anders als sein Bruder sehr direkt war, ins Auge. Doch belieà er es bei einem Blick auf die Schönheit, denn er wollte seinen Bruder nicht bloÃstellen. In freier Wildbahn hätte er sich vermutlich anders verhalten. Doch der Blickkontakt hielt nicht lange, sie wendete sich schnell wieder Larry zu.
Die Situation war Charlie sichtlich unangenehm. „Wir kommen später wieder“, verabschiedete er sich und wendete sich schon der Tür zu, wobei er seinen Bruder am Arm mitzog. Diesem wollte er keinen Grund für Sticheleien geben.
„Schon gut, schon gut. Bleib ruhig“, sagte Larry zu Charlie und übersah dessen Bruder, als ob er Luft war. Dann wendete er sich verwirrt wieder Amita zu. „Wo waren wir stehen geblieben, Ms Ramanujan?“
„Wir haben eigentlich alles geklärt. Ich komme einfach noch mal vorbei in den nächsten Tagen“, beendete diese das Gespräch, denn sie wollte nicht in der Nähe ihres Dozenten sein. Einfach fliehen, und zwar schnellstmöglich. Sie waren nicht allein und nichts, rein gar nichts sollte irgendwer mitbekommen - weder der Professor noch der Unbekannte.
„Ja, dann machen wir das so.“ Die Verwirrtheit wich noch immer nicht aus seiner Stimme.
Während Larry noch redete stand sie schon auf, nahm ihren Rucksack und ging an den Brüdern vorbei zur noch offenen Tür. „Einen schönen Tag noch, Professor“, sagte sie von der Tür aus, bevor sie auf den Flur trat und die Tür hinter sich zuzog. Dabei schenkte sie den Brüdern keine Beachtung.
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Längst hatte Larry das Gespräch schon wieder vergessen und wendete sich seinem Schützling zu. „Setz Dich, Charles. Erzähl mir von Deiner ersten Vorlesung“, forderte er ihn auf.
„Das erzähl ich Dir gleich“, begann er amüsiert darüber, dass sein Bruder einfach übersehen wurde. An dieses Gefühl konnte er sich gewöhnen. „Zuerst möchte ich Dir meinen Bruder, Don, vorstellen. Er hat mich überraschend nach der Vorlesung abgefangen, darum habe ich ihn kurzerhand mitgenommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?!“, erklärte er in einem lockeren Tonfall. Dass er über diese Ãberraschung nicht sonderlich erfreut war, lieà er nicht anklingen, denn das war eine Familiensache, die hatte hier nichts zu suchen.
„Es freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Larry daraufhin zu Don, stand dabei leicht auf und gab ihm die Hand. Nachdem die BegrüÃung beendet war, schaute Don nur verwirrt über diesen komischen Kauz zu seinem Bruder. Der zuckte aber nur mit den Schultern. Sollte sich sein Bruder doch über die Menschen wundern, mit denen er tagtäglich zu tun hatte. SchlieÃlich wusste er, dass Don nicht anders von ihm, seinem kleinen Bruder, dachte.
Während er noch darüber nachdachte, begann er endlich von seiner Vorlesung zu berichten. Dabei lieà er nichts aus, aber es war auch nichts passiert, das er auslassen müsste. Nur ein Thema sprach er nicht an, Amita. Präsent, wie sie war, gehörte sie zwar zu seiner Arbeit und war so auch als Gesprächsthema mit seinem Mentor geeignet, doch hatte er das Gefühl, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Seine Gedanken zu ihr würde er mit niemand teilen.
Erfreut hörte Larry den Ausführungen zu. Zuvor, als er den Hörsaal verlassen hatte und Charlie auf sich allein gestellt war, hatte er nicht gedacht, dass dieser sich so gut schlagen würde, schlieÃlich hatte er nicht gut ausgesehen. So freute ihn das Ergebnis nur umso mehr. Ãber die Freude vergaà er ganz, den Kaffee, den er versprochen hatte, anzubieten. Nachdem Charlie endlich fertig war, wurde es ruhig im Raum.
Zwar hatte Don den Ausführungen seines Bruders zugehört, doch war er mit seinen Gedanken woanders, er war bei der dunkelhaarigen Schönheit von vorhin. Sie wollte einfach nicht aus seinem Kopf raus, egal wie sehr er sich bemühte. Und er bemühte sich wirklich, denn seinen Kopf brauchte er momentan für andere Dinge. Schon morgen musste er wieder nach Quantico zurück, wo er im Begriff war, seine Ausbildung beim FBI abzuschlieÃen. Deswegen war er auch noch in der Nacht nach Los Angeles geflogen, da er hierher versetzt werden wollte und heute ein Vorstellungsgespräch hatte. Zwar hatte man ihm zwei Stellen angeboten, Los Angeles oder Houston, doch wählen musste er nicht. Denn, wie sich gerade eben bestätigt hatte, gab es hier eindeutig die schönsten Frauen. Allein bei diesem Gedanken breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, eines das dem seines Bruders beim Gedanken an Amita nicht unähnlich war.
Charlie sah dieses Grinsen, das er kannte und fragte sich, an wen sein Bruder dachte. Die Stille wurde wirklich spürbar, doch die Frage, die er stellen wollte, konnte er nicht stellen. Er wollte wissen, was Amita hier gemacht hatte, also suchte er nach Wegen, sein Interesse unauffällig in das nicht vorhandene Gespräch einflieÃen zu lassen.
„Professor, kann ich Sie etwas fragen?“, richtete Don sich an Larry.
„Natürlich.“
„Wer war die junge Frau vorhin?“
„Oh, Sie meinen Ms Ramanujan?! Sie ist eine Studentin und hat mich gefragt, ob sie an meinem aktuellen Projekt mitarbeiten kann. Sie ist im ersten Semester, eine aufgeweckte junge Frau. Mit dem Lebenslauf, den sie mir gezeigt hat, wird sie es weit bringen“, erzählte er ausführlich. „Ich denke, ich werde ihr eine Chance geben.
Als sie das hörten, fielen die Eppes-Männer fast vom Stuhl, denn Don wusste nun, wie er sie jederzeit wieder sehen konnte und Charlies Frage hatte sich beantwortet. Nun würde er sie vermutlich viel öfter sehen, als er es jetzt schon ohne besondere Verbindung tat. Innerlich freute er sich nun noch mehr auf das kommende Jahr, das er an der CalSci verbringen würde.
Zwar bemerkte Larry die Gefühlsregungen der beiden, konnte sie aber nicht deuten, denn Menschen waren keine Wissenschaft, die sich studieren lieà wie die Physik oder die Mathematik. So konnte er nur raten, doch das wollte er nicht, denn Fakten waren für ihn schon immer wichtiger und aussagekräftiger gewesen. Darum entschloss er sich zu warten, bis sein Schützling es erzählen würde.
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Charlie brauchte Zeit, um über die Geschehnisse nachzudenken, sie zu verdauen. Darum stand er langsam auf, sein Bruder machte es ihm nach. Gemeinsam verlieÃen sie, nachdem sie sich von Larry verabschiedet hatten, den Raum. Als sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatten, blieben sie stehen.
„Komm, lass uns nach Hause fahren“, sagte Don befehlender, als er es gewollt hatte.
Diesen bestimmenden Tonfall mochte Charlie nicht, also reagierte er frostig: „Danke, ich fahre mit dem Fahrrad. Wir sehen uns dann dort.“ Doch es spielte noch mehr mit rein in diese Antwort. Auch das Interesse seines Bruders an Amita missfiel ihm. Keine Frau konnte er für sich haben, alle wollte auch sein Bruder haben. Durch sein Genie war er zwar etwas Besonderes, doch half ihm das bei Frau nicht unbedingt. Gerade in dem Augenblick erinnerte er sich an den Abschlussball, der Highschool, als er und Don das gleiche Mädchen eingeladen hatten, aber er wegen seines Alters keine Chance hatte. Daraus kam er zu der Frage, ob es bei dieser Frau wieder so enden würde.
Natürlich hatte Don den Tonfall bemerkt, schlieÃlich war er während der Ausbildung beim FBI darauf getrimmt worden, sich in die Köpfe von anderen Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Ihm war klar, dass er etwas Falsches getan hatte, doch war ihm nicht klar, was es war. Also reagierte er schroff, anstatt ihn gewähren zu lassen. „Gut, dann treffen wir uns eben dort.“
„Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr hoch“, stellte Charlie nüchtern fest, bevor er sich von seinem Bruder abwendete und in entgegen gesetzter Richtung davon ging.
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Don kümmerte das nicht, denn der war mit seinen Gedanken längst wieder bei der Schönheit und setzte seinen Weg zum Ausgang, der zu den Parkplätzen führte, wo er seinen Mietwagen geparkt hatte, strikt fort. Als er ihn erreichte, schloss er den Wagen auf, öffnete die Fahrertür und setzte sich hinter das Lenkrad. Dann startete er, nachdem er den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, den Motor und setzte den Wagen gekonnt zurück.
Selbstverständlich hatte er seinen Blick abwechselnd auf den Rückspielge und die AuÃenspiegel gerichtet. Trotzdem übersah er dabei etwas, denn eine Person stand im toten Winkel.
Danke an Jo & XY ungelöst - die weltbesten Künstlerinnen
Ideenlos und stolz darauf!