01.06.2008, 20:30
19.
Am darauf folgenden Freitag beendete Charlie seine Vorlesung pünktlich um 12:00 Uhr mittags. In der hintersten Reihe saà Amita, die sich endlich wieder am Unterricht beteiligte. Ihr kleines Gespräch, das nur aufgrund des Geschenkes stattgefunden hatte, veränderte alles, zumindest empfand er es so. Er hoffte inständig, dass es so bleiben würde. Eines wusste er sicher; er musste eine professionelle Distanz wahren, egal wie sehr er sie mochte.
Die Studenten verlieÃen nach und nach den Hörsaal. Dagegen lieà Amita sich Zeit, nahm all ihren Mut zusammen und ging nicht hinaus sondern auf das Pult zu.
Währenddessen legte Charlie sein Material zusammen und verstaute es in seiner Tasche.
"Sollte der berühmte Mathematiker Dr. Charles Edward Eppes nicht schon unterwegs sein?", fragte sie ihn, als sie vor ihm stand.
Erstaunt schaute er sie an, antwortete aber schlieÃlich: "Ich werde gleich abgeholt. Es ging nicht anders, da ich diese Vorlesung nicht absagen konnte. Das würden mir meine Studenten nicht verzeihen." Zuerst zwinkerte er in ihre Richtung, ehe sein Grinsen zu Tage trat.
Ohne mit der Wimper zu zucken, reagierte sie verzweifelt: "Stimmt! Was würden wir nur ohne Dich machen?" Allerdings wich die aufgesetzte Ernsthaftigkeit mit dem letzten Wort einem Lächeln.
"Verzweifeln!", scherzte er weiterhin und fühlte sich wohl dabei.
"Genau. Ich wüsste gar nicht, was ich mit der vielen Freizeit anfangen sollte."
"Siehst Du." Noch immer grinste Charlie. "Zur Not, wenn Du es nicht mal ein Wochenende lang ohne Arbeit aushältst, könnte ich Dir gerne noch etwas zu tun geben. Ich bin da gar nicht so." Von Wort zu Wort wurde sein Grinsen breiter.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Diese Gesprächsebene gefiel ihr, endlich war die Lockerheit wieder da, die ihr seit dem Zusammenstoà nach dem Kinobesuch so gefehlt hatte. "Ich denke, darauf kann ich noch so gerade eben verzichten, werde aber liebend gerne wieder auf das Angebot zurückkommen, wenn mir mal langweilig ist."
Mit einem Blick auf die Uhr führte er das Gespräch fort: "Ich würde gerne noch ein wenig mit Dir reden, aber ich muss leider los." Diesen Moment so zu unterbrechen widerstrebte ihm sehr, doch es ging nicht anders.
"Kein Problem. Grüà Deine Familie von mir."
"Mach ich." Charlie nahm seine Tasche in die Hand. "Nach Dir", sagte er und wies ihr höflich den Weg zur Tür.
Bei ihm hatten seine Eltern wirklich alles richtig gemacht, sogar Manieren hatte er mit auf den Weg bekommen. âZu freundlich von Dir.â Auf ihre Krücken gestützt ging Amita voraus. Als sie auf dem Flur stand, hielt sie an und drehte sich zu ihm um. "Viel SpaÃ."
"Danke", erwiderte er. "Schönes Wochenende."
"Das werde ich hoffentlich haben - vergraben in den Hausarbeiten gewisser Dozenten. Bis Montag, Charlie."
"Tschüss, Amita."
Ein letztes Mal drehte sie sich zu ihm um. âDu hast ein interessantes Interview gegebenâ, sagte sie und drehte sich zurück, um wegzugehen.
âDanke schönâ, antwortete er verwundert über den Kommentar.
Ihre Wege trennten sich. Während sie zu ihrer nächsten Vorlesung ging, schritt er zum Ausgang. Dort wartete sein Vater im Auto auf ihn. Er stieg ein, begrüÃte ihn und richtete die GrüÃe aus, ehe er still wurde.
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Ohne viel zu reden, fuhren sie zum Flughafen. Dort checkten sie ein, passierten die Sicherheitskontrolle und begaben sich in den Wartebereich. Mehrfach versuchte Alan, ein Gespräch zu beginnen, doch Charlie lieà sich nicht darauf ein. Ihm war nicht nach reden, denn je näher der Abflug rückte desto bewusster wurde er sich der anstehenden Konfrontation mit seinem Bruder. Nachdem sie so eine Stunde nahezu stillschweigend nebeneinander gesessen hatten, wurde ihr Flug aufgerufen und sie gingen an Bord. Ihre Plätze fanden sie schnell. Bei der Platzwahl lieà Charlie seinem Vater den Vortritt, der sich für den Fensterplatz entschied. So konnte er wenigstens hinausschauen, wenn sein Sohn nicht mit ihm reden wollte.
Kurz darauf hob die Maschine ab. Den ersten Snack gab es kurz darauf, als das Abschnallsignal ertönte. Danach lehnte sich Alan für ein kleines Nickerchen in seinem Sitz zurück, während Charlie sich auf den kleinen Monitor vor ihm konzentrierte.
Er hoffte, dass ein netter Film laufen würde, doch im Programm für die Erwachsenen lief nur ein Actionfilm, der ihn nicht interessierte. Daher wechselte er ins Kinderprogramm, auf dem ein alter Glücksbärchi-Film gezeigt wurde. Gerade machte Hoffnungsbärchi wieder mal allen Mut, dass sie die zu bewältigende Aufgabe schaffen würden. Früher als Kind hatte er das immer gerne gesehen, doch im Moment empfand er vor allem Hoffnungsbärchi sehr nervig, daher schaltete er den Monitor aus und holte aus seiner Tasche einen Aktendeckel hervor. Darin lagen Hausarbeiten seiner Studenten, ganz oben Amitas, die er zur Hand nahm und die ersten Seiten las. Ihre Gliederung gefiel ihr, auch die Einleitung hatte sie auf den Punkt gebracht. Nun begann er, sich intensiv mit ihren Thesen auseinander zu setzen und schlug die eigentliche Ausarbeitung auf. Doch der Tag hatte seine Spuren hinterlassen, so dass ihm, nachdem er einige Seiten gelesen hatte, die Augen zufielen.
WeiÃe Shorts und ein rotes, mit indischen Mustern versehenes T-Shirt sowie Flip-Flops trug er, als er den menschenleeren Strand entlang lief. Er blieb stehen und warf einen letzten Blicks aufs Meer, ehe er sich wieder seinem Weg zuwendete. Plötzlich war er nicht mehr alleine, wie er sofort bemerkte, doch geblendet von der strahlenden Sonne, die sich dem Horizont entgegen neigte, sah er nur die von Tüchern umspielte Silhouette einer Frau, mehr nicht. Dann schirmte er jedoch seine Augen mit der Hand ab und erkannte sie. Schnellen Schrittes brachte er die wenigen Meter, die ihn von ihr trennten, hinter sich, um sie in seine Arme zu schlieÃen und ihr tief in die Augen zu schauen. Erst dann berührte er mit seinen Lippen vorsichtig ihre und liebkoste zärtlich ihren Mund. Langsam und vorsichtig begannen nun seine Hände, sich ihren Weg durch die Tuchlagen zu suchen, um schlieÃlich ihre zarte Haut unter seinen Fingern zu spüren. In diesem Moment sprach sie ihn an. âCharlieâ, sagte sie mit einer Stimme, die nicht ihr gehörte. Doch darum kümmerte er sich nicht weiter, sondern lieà behutsam seine Hände ihren Körper entlang gleiten, als ob er nie etwas anderes getan hatte. âCharlie!â, kam es nun noch deutlicher und wesentlich männlicher aus ihrem Mund. Erstaunt über die Stimme schaute er sie an und erkannte sie nicht wieder.
âHm?â, murmelte er und schaute seinen Vater an, während er sich seinen Traum zurückwünschte.
âWir werden gleich landen, Du musst Dich anschnallenâ, antwortete Alan amüsiert. âHast Du etwas Schönes geträumt?â Das Lächeln, das seine Lippen umspielte, war sehr verräterisch.
Verwundert schaute Charlie ihn an und fragte sich gleichzeitig, was er getan hatte. Das war auch der Grund, warum er die Frage einfach im Raum stehen lieÃ.
âIst denn wenigstens die Hausarbeit gut, die Du vorhin gelesen hast?â
âEine der besten bisher. Sie ist von Amita.â
âIst sie eine gute Studentin?â
âSoweit ich es bisher beurteilen kann, schon. Larry stimmt mir da auch zu.â
âDann hatten wir wohl Glück, dass Dein Bruder sie angefahren hat. Es reicht ja nicht, dass wir ein Wunderkind in der Familie haben, nun haben wir auch noch eins im Bekanntenkreis.â
Darauf sagte Charlie nichts mehr sondern nickte nur, nebenbei legte er die Arbeit in seine Tasche zurück. Dann schloss er endlich seinen Sicherheitsgurt.
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Nachdem sie gelandet waren, holten sie ihr Gepäck und liefen auf den Ausgang zu, wo Don schon auf sie wartete, den Terry begleitete.
Als er seinen Vater und seinen Bruder, dessen mürrischer Blick Bände sprach, auf sich zukommen sah, berührte er sie sachte am Arm und ging gemeinsam mit ihr auf sie zu. "Hallo Dad", begrüÃte er seinen Vater und umarmte ihn locker, ehe er sich seinem Bruder zuwandte. "Hey Charlie", sagte er nur. Dann drehte er sich zu Terry und nahm ihre Hand. "Ich möchte Euch Terry Lake vorstellen, meine Freundin." Mit der freien Hand deutete er nun auf seine Familie. "Das ist mein Vater, Alan Eppes und das mein Bruder, Charlie."
Nun löste sie sich von Don und ging auf seinen Vater zu und schüttelte seine Hand. "Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Eppes."
Den Händedruck erwiderte er. "Die Freude ist ganz meinerseits, Terry."
Danach wandte sie sich zum Nesthäkchen der Familie. "Hallo Charlie. Schön, Dich endlich mal zu treffen. Ich habe schon viel von Dir gehört." Freundlich lächelte sie ihn an.
Ãberrascht schaute Charlie sie an, ergriff aber gleichzeitig ihre Hand. "Nur Gutes, hoffe ich", begann er und lächelte sie offen an.
Das Lächeln erwiderte sie.
Dann ergriff Don wieder das Wort: "Wollt Ihr erst mal ins Hotel? Wenn nicht, könnten wir Essen gehen, wenn Ihr Lust habt."
"Mir gefällt die Idee", erwiderte Alan und schaute zu seinem anderen Sohn, um eine Bestätigung zu erhalten.
"Meinetwegen", antwortete Charlie.
Nun ergriff Don wieder Terrys Hand und ging mit ihr voraus zum Parkplatz, wo er sein Auto abgestellt hatte. Wie selbstverständlich setzte sich Charlie auf den Rücksitz, wo er immer saÃ, wenn er zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder unterwegs war. Terry setzte sich zu ihm.
"Wollen Sie nicht vorne sitzen, Terry?", fragte Alan, der noch immer drauÃen stand und sich zu ihr hinunterbeugte.
"Ich habe die kürzeren Beine, die passen perfekt hinter den Beifahrersitz", entgegnete sie. Nachdem das geklärt war, traf sie im Rückspiegel Dons Blick. Wohlwollend nickte und lächelte sie ihm zu, ehe sie sich anschnallte.
Das machten auch alle anderen, bevor Don den Motor anlieà und vom Parkplatz hinunterfuhr. Während er sich auf die Fahrt konzentrierte, schaute Alan aus dem Fenster. Das wollte auch Charlie tun, doch er kam nicht dazu.
"Wir waren an der selben Uni, auch wenn ich nicht Mathematik studiert habe", begann Terry zu erzählen.
Die Augen wandte er von der StraÃe ab und schaute seine Sitznachbarin an. "Cool. Welcher Studiengang?"
"Ich habe mein Grundstudium Psychologie dort absolviert, mich dann aber für eine Karriere beim FBI entschieden."
"Ah, Geisteswissenschaften. Ich bin mehr für die Naturwissenschaften."
"Wirklich? Das hätte ich jetzt nicht vermutetâ, entgegnete sie prompt und lächelte dabei.
Charlie lächelte sie an, denn die Unterhaltung war nett. Wie sein Bruder eine so tolle Frau abbekommen hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, aber das beeinflusste seine Laune, die sich nun stetig besserte, nicht. "Welche Professoren hattest Du?"
"Melanowitch, Larke, Glondyk waren die wichtigsten."
"Larke? Hat der nicht auch irgendwas mit Biologie gemacht?"
"Ich denke schon. Soweit ich mich erinnere, wollte er beweisen, dass das Verhalten durch Veränderung des biologischen Umfeldes variiert."
"Genau, das war's. Meine Mutter hat mich gezwungen, einen Vortrag darüber mit ihr anzuhören. Ãberraschenderweise war der dann aber interessant."
"Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und er hat wirklich gut referiert in seinem Seminar, wenn ich das mal mit den anderem Professoren vergleiche."
"Manche sind sehr dröge, da gebe ich Dir Recht. Allerdings hatte ich Glück mit meinen."
"Das ist die Hauptsache. Was machst Du denn sonst so, abgesehen von Mathematik, mit der Du laut Don auch einen GroÃteil Deiner Freizeit verbringst?"
Verwirrt schaute Charlie sie an und fragte sich, was sein Bruder noch alles erzählt hatte. Terry wusste mehr über ihn, als ihm lieb war. "Hm ... Ich wandere gerne ... und ..." Angestrengt dachte er nach, was er denn noch als Hobby bezeichnen konnte, aber ihm fiel nichts ein.
Don, der das Gespräch mit angehört hatte, ahnte, dass sein Bruder in Bedrängnis geraten war und rettete ihn. "Mögt Ihr Pizza? Da drüben ist die beste Pizzeria, die ich kenne."
"Tolle Ideeâ, entgegnete Charlie sehr enthusiastisch, war er doch so der Frage nach Hobbys entkommen. Die Antwort entsprach zwar nicht den Tatsachen, aber das war nicht von Belang.
Auch Alan stimmte zu, woraufhin Don den Wagen parkte. Dann gingen sie hinein und setzen sich an einen Tisch und warteten auf eine Bedienung.
Die entstandene Stille unterbrach Alan. "Was machen Sie beruflich, Terry?", fragte er direkt und neugierig.
"Ich habe wie Don die Ausbildung zum FBI-Agent absolviert und gerade meine Prüfung abgelegt. Jetzt werde ich eine Stelle in Los Angeles antreten."
"Dann ziehen Sie auch zu uns?â Kurz wandte er den Blick von seinem Gegenüber ab und schaute seinen Sohn fragend an. âDavon hat mein Sohn nichts erwähnt, als er mich gefragt hat, ob er vorübergehend wieder einziehen kann."
"Nein, nein. Ich finde noch eine Bleibe, bis es so weit ist."
"Das kommt gar nicht in Frage. Wenn Sie jetzt noch keine Bleibe haben, wird das auch so schnell nichts. Der Wohnungsmarkt ist gerade sehr schlecht und im Haus ist Platz genug. Wir werden wir noch eine Ecke für Sie und Ihre Sachen finden."
"Das Angebot kann ich nicht annehmen, Mr. Eppes."
"Doch, das können Sie, aber nur, wenn Sie mich Alan nennen."
Bevor sie antwortete, schaute sie Don an, der ihr kaum merklich zunickte. "Gut. Dann nehme ich Ihr Angebot an, Alan. Vielen Dank."
"Dann wäre das ja gelöst."
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Es war früh am Abend, als sie Terry nach Hause brachten. Freundlich verabschiedeten sich Charlie und Alan von ihr, ehe Don sie zur Tür begleitete. Dort wechselten die beiden noch kurz ein paar Worte, um sich schlieÃlich mit einem innigen Kuss zu verabschieden. Aus der Ferne wurden sie dabei neugierig beobachtet. Alan freute sich sehr für seinen Sohn, lernte er doch kennen, was er selbst erlebt hatte. Auch Charlie freute sich, allerdings aus einem anderen Grund.
Kurz darauf kehrte Don zum Wagen zurück und setzte sich hinter das Lenkrad. "Ich werde Euch jetzt zum Hotel fahren." Schon startete er den Wagen und fuhr los. "Habt Ihr noch irgendetwas geplant für Euren Aufenthalt? Die Zeremonie beginnt ja erst um morgen Nachmittag, Zeit habt ihr also genug. Morgenabend können wir Ausgehen zur Feier des Tages?â
"Das können wir gerne im Auge behalten, aber heute werde ich nichts mehr machen, schlieÃlich bin ich nicht mehr der Jüngste." Noch während er sprach, bildete sich in Alans Kopf ein Plan. "Vielleicht hat Charlie ja Lust, heute Abend etwas mit Dir zu unternehmen, anstatt nur mit seinem alten Herrn auf dem Hotelzimmer herumzusitzen", schlug er vor.
"Das ist eine groÃartige Idee. Also wenn Du Lust hast, machen wir heute einen drauf, Charlie."
Gegen zwei hatte er noch weniger Chancen als gegen einen Eppes, überlegte Charlie. Abgesehen davon hatte sein Vater recht, er wollte nicht nur auf dem Hotelzimmer hocken. "Abgemacht", lautete seine Antwort aus diesem Grund.
"Ich hole Dich dann in einer halben Stunde ab."
"Okay."
Kurz darauf hielt Don den Wagen vor einem kleinen, schicken Hotel. Dort stiegen sein Vater und sein Bruder aus. Zuerst checkten sie ein, ehe sie ihr Zimmer bezogen. Als erster betrat Charlie das Bad und machte sich frisch, zog ein neues T-Shirt an und kehrte dann zurück ins Zimmer. Da er noch etwas Zeit hatte, beschäftigte er sich mit den Hausarbeiten, die er mitgenommen hatte. Sein Vater dagegen schaltete den Fernseher ein und legte sich aufs Bett. Binnen kürzester Zeit war er eingenickt, wie er es vorausgesagt hatte.
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Danke an Jo & XY ungelöst - die weltbesten Künstlerinnen
Ideenlos und stolz darauf!