Road of Illusions
#16

Kapitel 5

Sein Leben hatte an einem kühlen Frühlingsabend geendet. Der Himmel war kurz davor gewesen in ein sanftes blau zu tauchen, ein frischer Wind hatte durch die Straßen gefegt. Das war die Kulisse gewesen. Der erste Akt hatte mit einem Flüstern begonnen, welches zu einem Ohrenbetäubenden Lärm heranwuchs. Der starke Regen des zweiten Akts hatte in einer tödlichen Flut geendet. Sirenen waren ertönt. Sein Begleiter hatte den dritten Akt schließlich mit einer einzigen Bewegung beendet und es ihm überlassen, wie das Stück enden würde. Schmerz, Wut und Hass waren der Verzweiflung gewichen, diese schließlich einer Mauer aus
Kälte. In diesem Moment hatte Àlvaros Leben begonnen.

Àlvaro startete den Motor, wie er es auch damals gemacht hatte. Nur diesmal war er nicht alleine. Sophia war bei ihm, spielte dieses kranke Spiel mit, von dem sie beide wussten, dass es früher oder später würde enden müssen. Àlvaro würde sie entweder beide retten oder beide ins Verderben ziehen. Und dann würde es keine weiteren Akte mehr geben.

Sophias Leben hatte aufgrund mehrer Ereignisse eine dramatische Wende genommen, die ihren Ursprung womöglich bereits in Sophias Kindheit hatte. Die Wellen waren immer höher geworden, ehe sie die junge Frau gnadenlos erfasst und in eine scheinbar unendliche Tiefe gerissen hatten. Das ohnehin stets nur zaghaft pochende Herz zerschmettert am Meeresgrund.

Sophia würde später versuchen herauszufinden, wie es zu der Wende kam. Womöglich waren es die wenigen Sätze im Diner gewesen. Die Erkenntnis nicht ganz alleine vor einem tiefen, ungewissen Abgrund zu stehen. Womöglich war es aber auch die immer größer werdende geografische Entfernung von dem alten Leben gewesen.

Der neue Akt begann langsam und lautlos. Vor der Kulisse eines beinahe kitschigen Sommertags mit wolkenlosen Himmel und brennender Sonne regte sich etwas in den beiden Menschen. War es bei Sophia der lang gehegte Wunsch zumindest für eine kurze Zeit zu vergessen, war es bei Àlvaro wohl mehr das plötzliche Verlangen die letzten Tage vor dem Unvermeidlichen zu leben. Denn während Sophia nicht wusste, was am Ende der Straße auf sie warten würde, schien Àlvaro es plötzlich vor seinem inneren Auge zu sehen.

Irgendwann unter der sommerlichen Glut begannen die beiden tatsächlich Sophia und Àlvaro zu werden.

Er betrachtete die Hinweisschilder auf dem Freeway. Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. Er warf Sophia einen Seiteblick zu. Diese hatte den Blick scheinbar starr auf das Auto vor ihnen, einem alten dunkelblauen Volvo, gerichtet.
„Wir nähern uns einer Stadt.“, sagte er zögernd.
Sie betrachtete ihn mit gekräuselter Stirn. „Großartig. Du weißt schon, dass wir bereits an mehreren Städten vorbeikamen?“
„Ja, aber nun werden wir auch halten.“ Àlvaro beachtete die anderen Autofahrer kaum, als er die Spur wechselte, worauf mit einer lauten Hupe reagiert wurde.
„Warum gerade hier?“, fragte Sophia.
Àlvaro zog eine Augenbraue hoch. „Hier ist es genauso gut wie überall anders.“ Er fuhr die Abfahrt hinunter und folgte dem Wegweiser zu einer Pension. „Ich mache dir einen Vorschlag.“, sagte er langsam, als er das Auto wenige Meter vor dem gesuchten Gebäude parkte. Àlvaro musterte Sophias irritierte Miene einen Moment, ehe er schließlich fort fuhr: „Du hattest Recht, wir benötigen einen Waschsalon, Kleidung und womöglich noch anderes. Zudem denke ich, dass du einiges nachzuholen hast.“
„Wie bitte?“ Sophia verschränkte die Arme vor der Brust.
Àlvaro schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Wir gehen einkaufen, abends in ein Restaurant und amüsieren uns danach ein wenig.“
„Genialer Plan.“ Ihr sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. „Und wo?“ Sie strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Sara verbrachte hier kurz nach Weihnachten ein Wochenende.“ Àlvaro wich Sophias Blick aus. „Bei einer Freundin vom College. Sara erzählte mir von einer Salsa Bar, die hier angeblich jeder kennt. Candela. Wir fragen einfach danach.“
Sophia seufzte. „Ich bin komplett erschöpft von der Hitze. Das ist ein freies Land“, sie hielt einen Moment inne. „zumindest mehr oder weniger, bedenke man die Kontrolle der Regierung über die Menschen. Du kannst nach dem Einkauf machen, was immer du möchtest.“ Sie biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. „Zudem interessiert es in dieser Bar wohl kaum jemanden, wer wir sind. Du darfst dich also ohne jegliche Einschränkungen amüsieren.“ Das Ende des Satzes war von einem bissigen Unterton begleitet. Sophia gurtete sich ab und stieg aus dem Auto.
Nachdem er es ihr gleichgemacht und danach die Autotür geschlossen hatte, sah er sich nachdenklich um, als suche er ein Zeichen aus naher Vergangenheit. Doch da waren nur der kleine Parkplatz mit drei weiteren Autos, einige Bäume, eine leere Straße sowie die pastellgelbe Pension mit den weißen Lettern. Àlvaro seufzte kaum hörbar, und zündete sich eine Zigarette an, worauf Sophia mit einem Augenrollen reagierte.
„Du weißt, dass uns das noch beide umbringen wird?“
„Ich dachte, dir sei alles egal?“
Sophia stieg nachdenklich von einem Fuß auf den anderen. „Ich möchte auf würdigere Weise sterben.“
Àlvaro betrachtete sie belustigt. „Als trampendes Oper eines Serienmörders?“
Das brachte sie schließlich zum Schweigen.

Er blickte sich noch einmal in der unheimlich ruhigen Gegend um, ehe er schließlich seine Sporttasche von der Rückbank holte. Sophia griff nach ihrem Rucksack, ohne Àlvaro eines Blickes zu würdigen. Die beiden kamen zugleich bei der Eingangstür der Pension an. Àlvaro öffnete die helle Holztür und machte eine einladende Geste. „Nach dir.“
Sophia ignorierte den undefinierbaren Unterton und trat durch die Tür. Ihre Augen wanderten über die drei dunkelgelben Sofas vor den pastellgelb bestrichenen Wänden, welche durch schreiend bunte Bilder - mit jeweils dunkelgelben Rahmen - geziert wurden. Sophias Augen weiteten sich, als sie die Frau in gelbem Trägerkleid an der Rezeptionstheke entdeckte. Diese war vermutlich Mitte oder vielleicht Ende fünfzig. Ihr pastellblondes Haar war zu einem lockeren Knoten gebunden. „Wohl die Chefin persönlich oder eine Mitarbeiterin in Ganzkörperuniform.“, zischte Sophia Àlvaro leise zu, was diesen ein kurzes Schmunzeln abrang.

Die Frau sah lächelnd von ihrem Zettelstoß, auf dessen obersten Blatt sie etwas notiert hatte, hoch, als sich die beiden näherten. Die rot geschminkten Lippen bildeten ein strahlendes Lächeln. „Willkommen im Sunshine. Nennen Sie mich Susan.“
Àlvaro erwiderte ihr Lächeln. „Meine Verlobte“, er warf Sophia, welche angesichts des Meeres an gelb fassungslos den Blick schweifen ließ, einen kurzen, strengen Blick zu. „und ich würden heute gerne in ihrer“, er suchte nach dem richtigen Adjektiv und verzichtete schließlich darauf. „Pension nächtigen.“ Er schenkte Susan einen perfekten hilflosen Blick. „Ein Teil unserer Wertsachen, Kreditkarten und leider auch Sophias“, er schenkte dieser einen kurzen Blick. „Verlobungsring wurden uns letzte Nacht in einem düsteren Motel gestohlen. Zum Glück haben wir noch Bargeld und meinen Führerschein.“
Susan griff sich auf die Brust und schenkte den beiden einen mitleidigen Blick. „Das ist ja furchtbar. Nein, so etwas wird Ihnen hier sicherlich nicht passieren. Wir sind eine rechtschaffene Stadt.“ Sie nickte überzeugt und schenkte Àlvaro ein weiteres Lächeln. „Sie können natürlich bar bezahlen. Normalerweise verlangen wir pro Nacht achtzig Dollar, doch bei so einem netten jungen Paar scheinen mir sechzig ausreichend.“
„Das ist sehr nett von Ihnen.“, sagte Sophia und mühte sich um einen möglichst unschuldigen Gesichtsaudruck.
Susan bedachte sie mit einem warmherzigen Blick, ehe sie sich wieder an Àlvaro wandte. „Könnten Sie mir lediglich ihren Führerschein zeigen. Aus rein formalen Gründen versteht sich.“
„Aber selbstverständlich.“ Àlvaro zog ohne zu Zögern eine Karte aus der Hosentasche und reichte sie seinem Gegenüber. Sophia beobachtete dies mit einem irritierten Blick.
Susan besah den Führerschein kurz und tippte etwas in ihren Computer. „Würden Sie mir noch Ihren Namen nennen?“ Sie schenkte Sophia einen kurzen Blick, widmete sich schließlich wieder der Tastatur.
„Sophia Miller.“ Sophia räusperte sich leise.
Susan nickte leicht, tippte weitere Buchstaben auf der Tastatur und meinte schließlich mit einem breiten Lächeln: „Danke, das genügt. Wir vertrauen hier noch auf die Menschen und spielen das alberne Kontrollspiel anderer Pensionen und Hotels nicht mit.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was ist das nur für eine Welt? Sie nennen uns naiv, aber wir wurden von unseren Gästen noch niemals betrogen. Alles sehr anständige Menschen.“ Ihre Lippen bildeten ein erneutes Lächeln, als sie Àlvaro und Sophia betrachtete. „Sie sind ein sehr schönes Paar.“ Susan griff nach einem Schlüssel mit goldenem Sonnenanhänger und der Zahl „17“, welchen sie Àlvaro reichte. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.“

Sophia beobachtete Àlvaro als er die hellbraune Pensionszimmertür schloss und ließ sich nachdenklich auf das weiche Doppelbett sinken. „Was, wenn wir einmal nicht an nette ältere Männer und Frauen auf Pott geraten? Dieses unheimliche Glück wird nicht ewig andauern.“
Àlvaro ließ seine Sporttasche achtlos auf den Boden fallen und setzte sich neben Sophia, den gewohnten Köperabstand zwischen ihnen einhaltend. „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist.“ Er schenkte Sophia einen belustigten Blick. „Pott?“
Diese zuckte mit den Achseln. „Niemand kann ohne Drogeneinfluss so viel lächeln und diese Masse an gelb verkraften.“
„Bezüglich letzteren stimme ich dir zu.“ Er dankte innerlich für das spärliche Gelb in dem Pensionszimmer, welches lediglich auf drei Bildern an den Wänden sowie den Gästehandtüchern zu finden war. „Was aber ersteres betrifft, scheint es wohl eher ein Problem deinerseits zu geben. Lächeln gehört eindeutig nicht zu deinen Stärken.“
„Ach, zu deinen wohl schon, Sonnenschein?“ Sophia musterte Àlvaro spöttisch.
„Ich konnte es zumindest einmal“, er hielt inne. „Sagen wir hin und wieder. Aber ich bezweifle, dass du jemals viel zum Lächeln hattest, wenn du dein gesamtes Leben hinter Büchern verbracht hast.“
Sophias Stirn kräuselte sich. „Nur weil ich andere Prioritäten hatte, bedeutet das nicht, dass ich niemals Freude an Dingen hatte!“
Àlvaro musterte sie provozierend. „Den Minuten mit Tolstoi zwischen den Lernpausen?“
„Ich habe, unter anderem, „Krieg und Frieden“ tatsächlich mehrmals gelesen. Aber ich saß nicht durchgehend hinter Büchern. Ich gönnte mir zwischendurch etwa auch mal einen guten Film.“
Er nickte. „Etwas schwer Verdauliches und Hochphilosophisches vermutlich, das normale Menschen nicht verstehen können.
„Schließe nicht von dir auf andere.“ Sie funkelte ihn wütend an. „Es ist nichts Falsches daran sich nicht ständig niedrigen Bedürfnissen hinzugeben und kostbare Zeit zu verschwenden.“ Sophia atmete tief durch, sie zitterte vor Wut, zugleich ärgerte sie sich aber, dass sie sich von Àlvaro so leicht provozieren ließ. Es konnte ihr doch egal sein, was er von ihr dachte. „Immerhin bin ich nicht zu einer Kleinkriminellen geworden. Das war doch wohl kaum dein Führerschein, den du Susan zeigtest...“
Ein schiefes Grinsen spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Würde ich besser aussehen, hätte ich sie vielleicht auf andere Art überzeugen können.“
Sophia rollte mit den Augen. „Nicht jede Frau lässt sich von einem attraktiven Mann beeindrucken.“
Àlvaro zog eine Augenbraue hoch. „Du findest mich also attraktiv.“
„Das habe ich nicht gesagt!“ Sie bettete ihren Kopf mit einem genervten Seufzen auf dem weichen Kissen. „Was, wenn der Besitzer bereits eine Anzeige aufgegeben hat?“
„Hat er nicht.“
„Woher willst du das wissen?“
Àlvaro wich ihrem Blick aus. „Ich weiß es eben.“
Sophias Stirn kräuselte sich, sie stellte jedoch keine weiteren Fragen. Die Gedanken einige Momente schweifend entfuhr ihr plötzlich: „Und ich habe mich durchaus schon ein paar Mal amüsiert. Ich hatte drei“, sie hielt inne. „zwei Beziehungen“, korrigierte sie, den Stich in ihrem Herzen ignorierend. „und war einmal auf Springbreak.“
Àlvaros Kopf fuhr augenblicklich zu ihr herum. Er musterte sie belustigt und rückte näher. „DU warst auf Springbreak?“
Sie nickte triumphierend. „In Flordia. Wir waren zu viert. Eine Freundin und ich knutschten abends in einer Bar.“
Àlvaros Augen weiteten sich überrascht. Er ließ sich in das weiche Kissen sinken und betrachtete Sophia genauer. Diese fühlte sich unter seinem Blick zunehmend unwohler. Sie legte die Arme schützend um ihren Körper.
„Wie sah sie aus?“, fragte er plötzlich.
Sophia fuhr wütend hoch. „Ich bin nicht für die Befriedigung deiner kranken Phantasien zuständig!“
Er musterte sie belustigt. „Ich habe dich in einer dunklen, verregneten Nacht auf einer einsamen Straße aufgelesen und mitgenommen. Du hast dich bisher nicht einmal am Sprit beteiligt. Denkst du nicht, ich hätte ein kleines Zeichen der Dankbarkeit verdient?“
Sophia erhob sich wütend und fischte ihre Geldbörse aus dem Rucksack. Sie warf ihm achtlos zehn Dollar auf seine Bettseite. „Und nachts ist es immer dunkel!“
Àlvaro setzte sich auf. „Na, komm schon, Sophia“, er steckte den Geldschein in die Gesäßtasche seiner Jeans. „blieb es bei Küssen?“ Er grinste und blickte sie herausfordernd an.
Sophia stemmte die Arme in die Hüften. „Es blieb sogar bei nur einem einzigen Kuss!“
„Ist wohl mit Männern doch ein wenig besser, was?“
„Sag’s du mir.“ Sie schenkte ihm einen letzten, vernichtenden, Blick, ehe sie nach ihrem Rucksack griff und im Badezimmer verschwand. Kurz darauf war das Drehen eines Schlüssels zu vernehmen.
Àlvaro grinste. „Hattest du Angst ich würde dir nachkommen?“, rief er ihr nach.

Nachdem sie ihre Kleidung gewaschen und in die Pension zurückgebracht hatten, gingen Sophia und Àlvaro durch die belebte Einkaufsstraße. „Nur das Nötigste.“, erinnerte er sie nochmals, als sie ein günstiges Modegeschäft beraten.
Sophia rollte mit den Augen. „So eine bin ich nicht!“ Sie beobachtete drei jugendliche Mädchen, welche begeistert quietschend und mit einem Berg voller Kleidung bepackt zu den Umkleidekabinen rannten. Sophia zog eine Augenbraue hoch. „Da läuft unsere Zukunft. Sollen wir uns sicherheitshalber gleich von der nächsten Brücke stürzen?“
„Lass sie doch jung sein.“ Àlvaro musterte sie belustigt. „Vielleicht solltest du das auch mal probieren?“
„Dümmlich in der Öffentlichkeit quietschen?“
„Vielleicht auch das. Nein, such dir ein paar Sachen, die dir gefallen und sei es nur, um sie im Kabinenspiegel an dir zu betrachten.“
Eine Falte bildete sich auf Sophias Stirn. „War’s das schon oder gibt es noch eine Pointe?“
Àlvaro erwiderte ihren Blick. „Hast du schon wieder Angst Zeit zu verschwenden?“
Sie rollte mit den Augen. „Okay, ich werde es versuchen, Wenn du danach aufhörst über meine frühere Lebensweise zu spotten.“
„Und du musst heute mit mir essen und danach in diese Bar gehen.“
Sophia seufzte. „Einverstanden.“
Àlvaro nickte triumphierend. „Was hältst davon, wenn wir uns in einer Stunde in dem Cafe gegenüber treffen?“ Er wies mit der Hand Richtung Ausgang. „Ich werde mich etwas in der Straße umsehen.“
„Du gehst?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Von mir aus.“, fügte sie in möglichst desinteressiertem Tonfall hinzu.
Er trat näher. „Was denn, möchtest du, dass ich dir Gesellschaft leiste und dich in der Umkleidekabine bewundere?“ Seine Augen funkelten amüsiert.
Sophia blickte ihn wütend an. „Nein! Wir sehen uns dann in einer Stunde.“ Sie ging zu den ersten Kleiderständern ohne Àlvaro eines letzten Blickes zu würdigen.

Sophia hatte sich zögernd für zwei schwarze Shirts entschieden. Sie blickte sich unsicher um und fühlte sich zunehmend unwohler. Neben all den gestylten jungen Frauen musste sie wie eine verwelkte Blume, die jedoch niemals geblüht hatte, wirken. Wie eine zum frühen Sterben verurteilte Raupe. Sophia kräuselte die Stirn als sie das Lächeln einer auf sie zukommenden jungen Verkäuferin bemerkte. Sie verspürte den Wunsch wegzulaufen, ehe die Frau noch versuchen würde, ihr die gesamte Ware aufzuschwatzen. Doch diese war schneller. „Hallo, ich bin Anjali. Du siehst aus als könntest du Hilfe benötigen.“
Sophia musterte ihr Gegenüber misstrauisch. Anjalis Mandelaugen waren von einer silbernen Brille umrahmt, ihr langes Haar war zu einem künstlerischen Zopf geflochten. Der rote Lippenstift und dazu passende Nagellack bildete einen hübschen Kontrast zur hellbraunen Haut. Ihr Lächeln schien herzlich und ehrlich, dennoch war sie vermutlich nur eine manipulative Verkäuferin. „Nein, danke.“
Anjali musterte Sophia. „Mir geht es nicht darum, um jeden Preis etwas zu verkaufen. Ich arbeite neben dem Studium und eigne mich vermutlich aufgrund meiner Ehrlichkeit nicht als Verkäuferin. Mein Ziel ist es meine Kundinnen glücklich zu sehen.“ Ihr Blick blieb an Sophias weitem Shirt hängen. „Weißt du, dass du eine tolle Figur hast?“
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Über solche Dinge denke ich nicht nach. Es gibt Wichtigeres. Aber dem gängigen medialen Ideal entspreche ich wohl nicht.“
Anjali runzelte die Stirn. „Zum Glück.“ Sie lächelte. „Natürlich gibt es Wichtigeres. So ziemlich alles ist wichtiger. Aber denkst du nicht, dass es dir ein besseres Gefühl geben würde, Kleidung zu tragen, die dein Aussehen etwas mehr zur Geltung bringt? Einfach nur für dich selbst. Veränderungen tun manchmal sehr gut. Außer natürlich du fühlst dich wirklich wohl so wie du gekleidet bist.“
„Und was würdest du mir empfehlen?“, fragte Sophia und bereute es sogleich.
Anjali nahm ihr entschieden die Shirts aus der Hand. „Die vergessen wir mal.“ Sie legte sie zurück an ihren Platz und betrachtete Sophia nachdenklich. „Machen wir es so. Wir schauen gemeinsam durch das Geschäft. Ich mache dir ein paar Vorschläge und du nimmst sie an, wenn sie dir gefallen?“
Sophia seufzte genervt, nickte aber schließlich.
„Was sagst du dazu?“ Anjali hielt ein rotes Spaghettiträgertop hoch.
Sophias Augen weiteten sich. „Das sieht an mir sicherlich unmöglich aus.“
Anjali lächelte. „Probier es doch, ehe du urteilst.“ Sie griff nach weiteren in den Farben blau, violett und schwarz. Der kleine Stoß wurde rasch höher, als Anjali noch drei figurbetonte Shirts, zwei Röcke und eine Cargohose mit teilweise abzippbaren Hosenbeinen entdeckte. Ihr Tempo war rasch, ihre Laune stieg von Kleidungsstück zu Kleidungsstück. Sophia ging unschlüssig hinter ihr her, als Anjali plötzlich begeistert aufjuchzte. „DAS ist es! Das ist wie für dich gemacht!“
Sophia trat unsicher neben sie und starrte auf das beerenfarbene ärmellose Kleid. „Darin sehe ich gewiss aus wie ein Würstchen.“
Anjali machte eine abweisende Handbewegung. „Du wirst hinreißend aussehen! Es betont alles, was betont werden muss. Ein toller Schnitt!“
„Warum kaufst du es dann nicht selbst?“
„Ich habe schon zwei davon zuhause.“ Anjali lachte.
Sophia seufzte. „Das Kleid hat weder Ärmel noch Träger. Wird es nicht ständig hinunter rutschen? Was trägt man darunter?“
Ein vergnügtes Grinsen spielte sich auf Anjalis Gesicht. „Dafür hast du mich. Komm mit. Und ja, es hält.“ Anjali führte Sophia zu einem Ständer mit BHs. Sie reichte ihr zwei. „Bei denen kann man die Träger abnehmen.“
„Ich werde halbnackt sein!“, protestierte Sophia.
„Das Kleid reicht dir doch mindestens bis knapp über die Knie.“ Anjali lachte. Sie zog Sophia weiter zu einem Ständer mit roter Spitzenunterwäsche. „Toll, nicht?“
„Ich weiß nicht recht...“
Anjali zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Deinem Freund würdest du darin sicherlich gefallen.“
Sophia musterte sie irritiert. „Wem?“
Ihr Gegenüber schmunzelte. „Ich sah dich vorhin mit ihm. Wow.“ Sie legte ihre Hand sanft auf Sophias Arm. „Du hast wirklich Glück. Den würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.“
Vor Sophias innerem Auge erschien plötzlich die Erinnerung an den peinlichen Vorfall im Motelzimmer. Àlvaros Blick auf ihren nur durch das Handtuch bedeckten Körper. Sie fragte sich einen Moment, wie er wohl beim Anblick dieser Spitzenwäsche reagieren würde, schalt sich jedoch zugleich für diesen Gedanken. Was war nur in sie gefahren? „Nein, das wäre ganz und gar unpassend.“
Anjali zuckte mit den Schultern und führte sie zu einer Umkleidekabine.

Mit zwei Einkaufstaschen des Kleidungsgeschäfts sowie einer kleineren eines Drogeriemarktes in den Händen betrat Sophia eine halbe Stunde später das Cafe. Sie fand Àlvaro im Garten an einem Tisch sitzend und Zeitung lesend vor. Vor ihm stand ein halbausgetrunkenes Glas Cola. „Hey.“ Sophia betrachtete ihn unsicher.
Àlvaro schob seine Sonnenbrille einen Moment hoch und warf einen überraschten Blick auf die Einkaufstaschen. „Ich hoffe, du hast nicht dein gesamtes Bargeld ausgegeben.“
Sophia setzte sich seufzend. „Es ist noch genügend über.“
Er nickte. „Wir können morgen Geld abheben, kurz vor der Abfahrt. In der Nähe ist ein Geldautomat.“
„Hast du auch etwas gekauft?“
Àlvaro nickte und wies auf die Einkaufstasche zu seinen Füßen. „Aber offenbar nicht dieselbe Menge wie du. Bist wohl doch ein typisches Mädchen.“
„Und du wohl keins.“
Àlvaro grinste. „Isst du gerne italienisch?“
Sophia nickte. „Ja.“
„Ich entdeckte ein italienisches Restaurant in der Nähe. Es ist gleich neben der Bar, in der es Sara so gefiel. Ich würde vorschlagen, wir trinken eine Kleinigkeit und ruhen uns dann etwas im Pensionszimmer aus, ehe wir uns amüsieren. Das wird eine lange Nacht.“ Er lehnte sich im Sitz zurück und widmete sich wieder seiner Zeitung.
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