Zufrieden sah Lea sich um. Schloss kurz die Augen, um sich die Luft, die Geräusche und überhaupt die ganze Atmosphäre genau einprägen zu können, und ohne sich darum zu kümmern, dass sie mitten auf der von Menschen überfluteten Piazza Cappuccini stand.
Leicht widerwillig, doch auch von unglaublicher Neugierde getrieben, öffnete sie die Augen schlieÃlich wieder und lächelte jedes Mal, wenn Wortfetzen dieser wundervollen Sprache, von der sie kein Wort verstand, an ihr Ohr drangen. Denn schlieÃlich war dies vermutlich die einzige Woche in ihrem Leben, die sie in Italien verbringen konnte, genauer gesagt auf Sizilien. Ãber ein Jahr lang hatte sie gespart, hatte ungefähr hundert verschiedene Jobs angenommen, um nach ihrem Abitur hierher reisen zu können.
Sie mochte es hier. Die Wärme, die erfrischende Lebhaftigkeit der Menschen, und besonders die alten Teile der Stadt Palermo. Sie liebte alte Gebäude, denn sie bargen immer irgendwelche unentdeckten Geheimnisse, und ihre Mauern wussten Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende alte Geschichten zu erzählen.
Und endlich stand sie vor ihrem Ziel. Der Kapuzinergruft.
Beinahe ehrfürchtig glitt ihr Blick über das Kloster, dessen Existenz bis in das 16. Jahrhundert zurückreichte.
Plötzlich, ohne jegliche Warnung, wurde es dunkel um sie herum, und geschockt spürte sie, wie sich zwei warme Hände auf ihre Augen legten.
âChi io sono, principessa?â, fragte eine dunkle Männerstimme neckisch, und zu Tode erschrocken schrie Lea auf, riss die fremden Hände von ihrem Gesicht und wirbelte herum.
Vor ihr stand ein dunkelhaariger junger Mann, braungebrannt und mindestens genauso verwirrt aussehend wie sie. Er hatte haselnussbraune Augen und sah, wie Lea zugeben musste, auf eine gewisse Art und Weise verdammt gut aus...
âAh, scusiâ, sagte der offensichtlich italienische Mann und hob die Hände, als habe er das Gefühl, sich vor diesem schreienden Geschöpf verteidigen zu müssen. âScusi, Signorina, scusi!â
Und wie der fremde junge Mann so da stand, völlig perplex und mit einem â seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen â furchtbar schlechtem Gewissen, da konnte Lea nicht anders, als diese ganze Situation lustig zu finden. Ihr Mundwinkel zuckte bereits verräterisch, und sie musste sich in der Tat sehr stark zurückhalten, um nicht loszulachen...nur für den Fall, dass der Mann dann erschreckt davonlief...
Allmählich wurde Lea auch klar, was für ein Missverständnis das alles hier war; offensichtlich hatte der Mann sie von hinten mit seiner Freundin verwechselt, die er hatte überraschen wollen, und war wohl noch erschrockener als Lea selbst gewesen, als sich plötzlich eine fremde Frau umdrehte, die sich die Seele aus dem Leib schrie...
âIo volevo...â begann der Fremde gerade vor sich hin zu murmeln, als Lea ebenfalls die Hände hob, doch im Gegensatz zu ihrer ersten Urlaubsbekanntschaft nicht zur Verteidigung, sondern um vollkommene Hilflosigkeit zu demonstrieren...denn sie hatte ja nun nicht wissen können, dass man in einem Land wie Italien italienisch sprechen musste...
Düster erinnerte sie sich daran, ihr Taschenwörterbuch auf dem Bett ihres Hotelzimmers liegengelassen zu haben, und schlug dafür auch sofort im Geiste den Kopf gegen die Wand des uralten Kapuzinerklosters, wegen welchem sie ja eigentlich hierher gekommen war...
âScusi?â Der Italiener runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, was diese anscheinend leicht verwirrte â aber dafür wunderhübsche â Frau von ihm wollte.
Währenddessen versuchte Lea verzweifelt, zu improvisieren, und hoffte, dass der Italienischkurs den sie genau dreimal besucht hatte, ihr nun weiterhelfen konnte.
âIo...â stammelte sie und rang nach den richtigen Worten, âio non...ahm....â Verdammt, was hieà âsprechenâ auf Italienisch? Es war irgendetwas mit âpar...â gewesen...aber so viele italienische Wörter, die mit dieser Silbe anfingen, konnte es ja nun auch nicht geben...ach, sie würde einfach etwas erfinden...es würde schon richtig sein...
âIo non parricida italiano (Ich [bin] kein italienischer Vatermörder)â, brachte sie schlieÃlich hervor und sah den Italiener stolz an. Ha, sie wusste doch, dass sie es konnte. Wer brauchte denn schon einen Italienischkurs?
Nun schien der Italiener jedoch vollends verwirrt, doch er sah allmählich ein, dass diese Frau wohl kein Italienisch konnte...oder zumindest nicht so gut wie sie vielleicht dachte...
âTu parle pasticcio (Du redest wirres Zeug)â, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Lea blinzelte ihn verwirrt an. Was hatte er da gerade gesagt?
âEh...Graciasâ, beschloss sie schlieÃlich einfach anzunehmen, dass er gerade ihre Sprachkenntnisse gelobt hatte, und erwiderte sein Lächeln strahlend.
âPer favore (Bitte)â, erwiderte der Italiener elegant.
âEh...Siâ, riet Lea aufs Neue drauflos.
Eine Weile standen sich die zwei schweigend gegenüber, bis der Italiener schlieÃlich erneut zu sprechen begann.
Er zeigte auf sich selbst. âIo...italiano.â
Dann deutete er auf Lea und schaute sie fragend an. âTu...?â
âDeutschâ, antwortete Lea prompt, froh, dass sie das zumindest verstanden hatte...bis ihr aufging, dass die Italiener für âDeutschâ ein anderes Wort benutzen...nur welches?
âAhâ, wissend nickte der Mann und war zugleich erleichtert, da er Deutsch zwei, drei Jahre lang in der Schule gehabt hatte...zu seinem Glück, wie er nun feststellte...
âDu bist Tourist?â, brachte er schlieÃlich mit einem sehr starken Akzent hervor.
âWas? Oh! Oh, ja, ich bin Tourist.â Lea lächelte wieder. Wenigstens konnte er ein bisschen Deutsch.
âWas machst du hier?â
âIch wollte mir die Kapuzinergruft anschauen.â
âRealmente? Sie ist sehr gruselig für kleine Frauen.â
âAh, wirklich?â Lea legte den Kopf schief und lachte ihren deutschsprachigen Italiener an. âDas ist nicht schlimm. Ich interessiere mich für Mumien.â
âWenn du willstâ, entgegnete der Italiener, und es war nun deutlich abzusehen was er vorhatte, âkann ich dir begleiten in die Catacombe dei Cappuccini.â
Und ein paar sprachliche Missverständnisse (âDie Busen in Italia sind sehr langsam, Signorina!â, âHier der Verkehr ist voll von junge Hühner!â), drei Annäherungsversuchen in Form des Händchenhaltens und eine geschlagene Viertelstunde später machten sich der Italiener mit dem süÃen Akzent und die wunderhübsche deutsche Touristin auf den Weg in die Kapuzinergruft...
âWowâ, staunte selbige Touristin nur wenige Minuten später, als sie und ihr italienischer Begleiter schlieÃlich die Katakomben betraten.
Dies war sie also, die berühmte Kapuzinergruft, in der Tausende von Mumien waren, an den Wänden entlang aufgestellt, in einem unterirdischen Labyrinth.
Es war totenstill hier unten. Anscheinend waren Lea und der Italiener die einzigen Menschen, die sich an diesem sonnigen Frühlingstag in die kühlen Kellergewölbe herabbegaben, um sich eine Reihe von gut erhaltenen, wenn auch gruseligen, Mumien anzuschauen. Die Räume waren sehr hoch, und durch einige Fenster ganz oben fiel sogar Sonnenlicht hinein, sodass die Gewölbe einen groÃen Teil ihres Schreckens verloren. Hier und da zierten schlichte Bemalungen die Ecken, und es kam nicht selten vor, dass die beiden Besucher an kleinen Nischen vorbeikamen, in denen bestimmte Menschen sorgfältig platziert waren, ob nun sitzend, liegend oder an der Wand lehnend.
Lea versuchte, so viel wie möglich von diesen Eindrücken zu behalten. Schon als kleines Kind hatte sie Mumien furchtbar faszinierend gefunden, hatte in jedem Museum, in das sie mit ihren Eltern gegangen war, nach Mumien gesucht.
Und nun stand sie vor tausenden von Mumien, konnte sie sogar beinahe berühren. Keine kalte Glaswand, keine differenzierte, typische Museumsatmosphäre trennte sie nun von den leblosen Körpern, von denen auch nach Hunderten von Jahren noch Haut, Knochen, Zähne, Haare und sogar Kleidung erhalten waren.
âMagst du es hier, mia principessa?â Emilio war lächelnd neben die Touristin getreten und legte nun lachend den Arm um sie. âViele Mädchen schreien, wenn sie sind hier.â
âIch bin aber kein Mädchen mehrâ, grinste Lea und wendete ihren Kopf ein wenig, um Emilio anschauen zu können.
âNein, das bist du nichtâ, gab er schlieÃlich zu. Dann nahm er ihre Hand und zog sie weiter.
âDa sind die Mönche. Du solltest schauen sie, carina.â
Interessiert stellte Lea sich auf die Zehenspitzen, um die mit Mönchskutten vermummten Toten besser betrachten zu können. Der Katakombenführer, den sie sich am Eingang gekauft hatte, verriet ihr, dass dies die ältesten Mumien der Gruft waren...
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie eine der Gestalten, welche mit gebeugtem Kopf und vor dem Bauch gefalteten Händen an der Wand hingen. Auf einmal bemerkte sie etwas; einer der Mönche schien einen kleinen, vergilbten Zettel in der Hand zu halten, ja, regelrecht zu umklammern.
âEmilioâ, sagte sie spontan, ohne weiter nachzudenken, âheb mich hoch.â
âWas?â, fragte Emilio, der davon überzeugt war sich verhört zu haben.
âKannst du mich hochheben? Bitte.â
Emilio seufzte. âDu bist eine fremdartige Frauâ, sagte er leise lachend, trat jedoch schlieÃlich hinter sie, legte seine Arme um ihre Hüfte und hob sie hoch, sodass sie die Hände des Mönchs erreichen konnte.
Einen winzigen Moment lang schloss Lea die Augen. Einerseits fand sie es beinahe unwürdig, einen Toten anzufassen, und es gehörte auch bestimmt nicht zu den Dingen die sie schon immer einmal tun wollte, doch andererseits war sie auch unglaublich neugierig...und schlieÃlich überwand sie sich nach einem weiteren tiefen Durchatmen dazu, vorsichtig die gelbliche Papierrolle aus der Faust des Mönchs hervorzuziehen.
âLass mich runterâ, sagte sie leise, mit heiserer Stimme, und Emilio tat sofort wie ihm geheiÃen, obwohl er noch immer mehr als erstaunt war über die merkwürdigen Gebärden der Deutschen.
Kaum hatte Lea wieder festen Boden unter den FüÃen, schaute sie sich das Papier näher an. Es schien unter ihren Händen vor Altersschwäche beinahe schon zu Staub zu zerfallen und war aus einem dicken, rauen Material hergestellt.
Behutsam, immer darauf bedacht, nichts von dem Papier â oder womöglich auch Pergament â abzubrechen, entrollte sie die Papierrolle.
In der Mitte des Papiers stand lediglich ein vierzeiliger Spruch, oder womöglich auch ein Gedicht. Vielleicht auch ein Gebet, dachte sich Lea, da es schlieÃlich ein Mönch gewesen war, der diese Papierrolle gehalten hatte.
Obwohl die Schrift sehr verblasst und kaum leserlich war, schaffte Lea es gerade noch, festzustellen, dass es Latein sein musste...und verzweifelt kramte sie in den unteren Schubladen ihres Gehirns, in denen sie die sechs Jahre Lateinunterricht verstaut hatte...doch sie hatte keine Chance...
Oh, sie wusste schon warum sie Latein immer gehasst hatte.
Urbi Sancti Volo Videre
Animus, Ade Me
Petere Atlanti Et Transire
Pater,, Duce Me
âAtlantiâ stand dort...Lea zog die Stirn in Falten. Konnte der Verfasser ernsthaft...konnte er die sagenumwogene Stadt Atlantis damit meinen?
âLea?â Sie zuckte zusammen, als die dunkle Stimme von Emilio direkt neben ihr ertönte. âWas ist das?â
âDas ist...ich weià es nichtâ, murmelte Lea irritiert und starrte nachdenklich auf den Vierzeiler. Dann hatte sie eine Idee, einen Hoffnungsschimmer, der vielleicht Licht ins Dunkel bringen konnte.
âEmilio, kannst du Lateinisch sprechen?â
âEin bisschenâ, gab er zu, âich lerne es für die Studieren.â
âGut, sehr gut.â Lea schaute ihn an. âDu musst etwas für mich übersetzen, okay? Also, hör zu. Urbi Sancti Volo Videre Animus Ade Me Petere Atlanti Et Transire Deus Duce Me.â
Emilio öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Lea war unfähig ihn zu hören...Kaum hatte sie die Worte laut ausgesprochen, verspürte sie ein unglaublich beunruhigendes Gefühl in der Magengegend...was war hier los?
Und nur den Bruchteil einer Sekunde später wurde sie fortgerissen. In ihrem Bauch war auf einmal ein furchtbares Ziehen, und Emilio wurde unscharf, die Wände, die Mumien verschwammen vor ihren Augen, alles drehte sich...und dann war es vorbei.
Keuchend rappelte sich Lea auf, ohne sich überhaupt zu fragen, wie sie auf den Boden gekommen war.
âOh mein Gott, was war-â
Und dann stockte sie.
Das hier waren nicht die Katakomben. Und hier war auch kein Emilio.
Vor ihr befand sich lediglich eine dunkle Felswand. Die Luft war feucht und mit einer unangenehmen Kühle getränkt.
âWo zur Hölle bin ich?â, fragte Lea laut, noch vollkommen geschockt über das, was ihr gerade widerfahren war. Das war doch alles nicht möglich...sie musste träumen...wie kam sie plötzlich hierher?
Sie drehte sich um.
Und alles wurde ihr klar. Sie brauchte nur Sekunden, um festzustellen, wo sie sich befand, als sie die riesige Höhle, in der sie sich befand, genauer sah. Als sie, lediglich ungefähr zwanzig Meter entfernt und viel, viel tiefer gelegen, eine gigantische Stadt erblickte.
Mit offenem Mund starrte sie die Stadt an. Das musste Atlantis sein. Atlantis, der sagenhafte Mythos.
Doch wo war der Glanz, das Glorreiche? Wo waren die Menschen, das Licht?
Denn das, was sich vor ihr auftat, waren lediglich riesige, uralte Bauten, kleinere Häuser, verwahrloste Gärten, und inmitten all der Einsamkeit und Menschenleere, auf einem Hügel, ein gigantischer Palast, der einst prächtig ausgesehen haben musste.
Aber jetzt...jetzt war alles finster dort unten. Kein Leben schien mehr zu existieren, keine Hoffnung.
Atlantis war tot, schoss es ihr durch den Kopf, von der glorreichen Existenz dieser Metropole war nichts mehr übrig geblieben.
Doch warum?
Von Neugierde getrieben, begann Lea vorsichtig, an den Felsen herunterzuklettern, die sie von der Stadt trennten. Als sie es schlieÃlich nach einigen Schwierigkeiten geschafft hatte, trat sie vorsichtig und mit leiser Furcht durch die Tore der Stadt.
Während sie die vereinsamten StraÃen durchquerte, schaute sie fassungslos nach rechts und links. Was war hier bloà passiert?
Sie musste eine halbe Stunde laufen, ehe sie ihr Ziel, den Palast, erreicht hatte. Vielleicht würde sie hier Antworten finden...
Und dann stand sie vor dem mächtigen Portal. Sie bemerkte in der Mitte der beiden hohen Flügeltüren dasselbe Symbol, welches sie schon am Tor entdeckt hatte: Ein silbernes âAâ, von goldenen Linien umschwungen.
Zögernd zog sie an dem KopfgroÃen Türgriff und war erleichtert, als sie feststellte, dass die wuchtige Tür sich ohne Probleme aufziehen lieÃ...es war, als warte man nur auf sie...
Nun befand Lea sich in einem groÃen Garten, der sich lang erstreckte bis hin zum eigentlichen Palast, und sie durchquerte den Garten schnell. Sie wollte nicht die verwelkten Blumen, die abgestorbenen Bäume, die ihren Weg säumten, sehen.
Sie gelangte zu dem eigentlichen Eingang des Palasts, welcher nicht so hoch war wie der zum Schlossgarten, doch dennoch recht imposant und respekteinflöÃend. Vorsichtig zog Lea auch diese Tür auf und betrat einen riesigen Saal, mit marmornen Böden und Wänden. Direkt durch die Mitte des Saales zog sich Spalier aus Kerzen, die brannten, als hätte sie gerade erst jemand angezündet.
Sie schaute sich ehrfürchtig um und erstarrte, als ihr Blick auf die Decke des Saales fiel; noch nie hatte sie so kunstvolle Malereien gesehen. Gestalten, geschwungene Linien, Körper von wundersamen Wesen und geheimnisvolle Zeichen, die Lea an Runen erinnerten, nahmen die gesamte Decke ein, flossen förmlich bis in jede Ecke des Raumes und schienen lebendig zu werden durch das flackernde Kerzenlicht.
Langsam schritt Lea durch den breiten, von Kerzen gesäumten Gang. Allmählich konnte sie erkennen, dass sich etwas am Ende des Raumes befand. Es schien ein hoher Thron zu sein, aus Silber, wie es aussah.
Und Lea blieb förmlich die Luft weg, als sie schlieÃlich vor dem Thron stand und voller Schrecken die Gestalt anstarrte, die ihr ruhig entgegenblickte und nicht das kleinste Anzeichen von Lebendigkeit zeigte.
Denn dort saà ihr zwölf Jahre altes Ich, würdevoll und ruhig, gehüllt in ein strahlend weiÃes Gewand, welches einer Toga ähnlich war. Ihren Hals schmückte ein Amulett, auf welchem Lea abermals das Symbol erkennen konnte, und auch Arme und FuÃgelenke waren verziert mit goldenen Bändern, an welchen silberne, geheimnisvoll aussehende Accessoires hingen. Ihre hüftlangen, dunkelbraunen Haare fielen offen über ihre schmalen Schultern, und den schmalen, leicht ovalförmigen Kopf schmückte ein schimmerndes Diadem.
Ein Aufschrei entfuhr Lea, und sie taumelte mit einer Hand vor dem Hund einige Schritte zurück. Das konnte einfach nicht sein. Sie musste halluzinieren. Womöglich war das alles hier ja nur ein Fiebertraum...vielleicht war sie umgekippt, weil sie die Luft in der Kapuzinergruft nicht vertragen hatte...Egal, was mit ihr passiert war: Das hier konnte nicht real sein, nie im Leben!
Sie versuchte, etwas zu sagen, doch die pure Angst schnürte ihr die Kehle zu, und ihr entfuhr lediglich ein heiserer Laut.
Sie spürte, wie Panik in ihr hoch kroch. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, und kalte Schauer durchliefen ihren gesamten Körper, machten sie unfähig, sich zu bewegen.
Und auf einmal öffnete das junge Mädchen den Mund und begann mit zwar kindlicher, doch auch sanfter und sehr gesetzter Stimme zu sprechen.
âIch habe lange gewartet.â
Stumm schaute Lea ihr junges Ich an.
Das Kind erwiderte den Blick aus groÃen, braunen Augen mit einer beinahe schon unheimlichen Ernsthaftigkeit.
âIch wusste, du würdest eines Tages kommen, würdest uns alle erlösen und Atlantis mit neuem Leben erfüllen, doch ich wusste nicht, wann dieser Tag sein würde. Ich harrte Jahrtausende aus, Lea. Kannst du dir das vorstellen?
Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Oft fragte ich mich, ob mein Zauber fehlgeschlagen war.â
âWer...wer bist du?â, brachte Lea schlieÃlich zitternd hervor.
Für einen kurzen Augenblick schien ein mattes Lächeln den Mundwinkel des Mädchens zu umspielen. âKannst du es dir nicht denken, Lea?â
âIch...ich weià nichtâ, antwortete Lea langsam, immer darauf bedacht, sich jedem ihrer Worte bewusst zu werden, bevor sie es aussprach. âBist du...die Prinzessin? Von Atlantis?â
âJaâ, sagte das Kind schlicht und betrachtete Lea ruhig, als würde es darauf warten, dass Lea weitersprach.
Zögernd setzte Lea zu einem neuen Gedanken an. âUnd du siehst aus wie ich, als ich noch ein Kind war. Das heiÃt, ich bin wahrscheinlich Teil irgendeines Zaubers, den du über diese Stadt gelegt hast. Und anscheinend spiele ich eine wichtige Rolle. SchlieÃlich hast du so lange auf mich gewartet.â Zu fragen, warum sich dieses Kind innerhalb von über Tausend Jahren nicht verändert hatte, erschien Lea beinahe lächerlich, und sie hielt diese Frage zurück. Sie hatte auÃerdem das Gefühl, dass sie sowieso keine Antwort erhalten würde...
âDu bist klug, Lea.â
âÃh...dankeâ, entgegnete die junge Frau mit einem schiefen Lächeln und lachte nervös. âBin ich vielleicht so was wie eine Reinkarnation von dir?â
âIn deiner Seele steckt ein Teil von mir. Ich habe mich geopfert, um mein Volk erretten zu können. Du bist ich.â
âIch bin du?â, wiederholte Lea ungläubig. âAber...aber das kann nicht sein! Ich meine, du sitzt doch vor mir!â
âIch bin lediglich ein Schatten meiner selbst. Eine Illusion, wenn du so willst.
Aber wir haben genug geredet. Es ist Zeit, zu handeln.â
Das Kind erhob sich langsam, ohne jegliche Eile, und unwillkürlich wich Lea einen weiteren Schritt zurück.
SchlieÃlich trat das kleine Mädchen neben die junge Frau, und einen Moment lang blickten sich die beiden stumm in die Augen. Dann machten sie sich auf den Weg und durchquerten die gigantische Stadt.
âWas...was ist hier passiert?â, wagte Lea schlieÃlich eine Frage zu stellen, die ihr schon seit ihrer Ankunft auf der Seele gebrannt hatte.
Ãber das Gesicht des Kindes zog sich ein Schatten. âEs gab ein furchtbares Erdbeben. Es war, als hätten sich sämtliche Naturgewalten gegen uns verschworen. Atlantis drohte, in den Flut zu versinken, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur eines: Ich war für mein Volk verantwortlich: Ich musste jeden einzelnen retten. Und ich beschloss, jene Magie zu verwenden, die in jedem einzelnen Mitglied des königlichen Geschlechtes ruht. Ich ahnte damals nicht, was durch das Freisetzen dieser Urmächte passieren würde.
Ich stand auf dem groÃen Felsen, beobachtete, wie die Insel allmählich im Meer versank, wie die Fluten begannen, über die Stadt hereinzubrechen. Durch den Zauber, die Freisetzung der Mächte in meinem Innern, versiegelte ich jegliches Leben von Atlantis.
Mir wurde schwarz vor Augen. Ich wurde ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, saà ich genau dort, wo du mich fandest. Und ich wusste, was geschehen war, und auch, was geschehen würde. Nämlich, dass mein Blut die Stadt erlösen konnte. Doch ich hatte keine feste Gestalt, und so musste ich warten, bis du kamst. Du, von deren Körper ich ein Teil geworden war, von der meine umherirrende Seele letztendlich Besitz ergriffen hatte.â
âUnd was werden wir jetzt tun?â, fragte Lea gespannt und ein wenig ängstlich, als sie schlieÃlich vor den Toren der Stadt standen.
âDein Blut wird die Lebensgeister der Stadt freisetzen. Atlantis wird auferstehen, die Menschen, Tiere und Pflanzen werden zu neuem Leben erwachen.â
âMein Blut?â, keuchte Lea.
Das Kind lächelte. âHab keine Angst. Ein paar Tropfen werden genügen.â Es beugte sich kurz und nahm ein winziges, silbernes Messer von dem Band an ihrem FuÃgelenk. âVertraue mir.â
Und Lea fasste tatsächlich Vertrauen. Sie wusste nicht, ob es an der beruhigenden Ausstrahlung lag, oder an der ganzen, traumähnlichen Situation, doch ihr war auf einmal klar, dass dies der Weg war, den sie gehen musste. Dass sie Atlantis erlösen musste.
âGib mir deine Hand, Lea.â
Die junge Frau streckte, wenn auch noch immer leicht zitternd, ihre linke Hand aus.
Sanft ergriff das Kind die Hand und drehte sie leicht, um dann schlieÃlich in Leas Handinnenfläche mit dem kleinen, silbernen Messer das Symbol von Atlantis zu schneiden.
Lea biss sich auf die Lippen, um nicht loszuschreien. Es tat höllisch weh, ihre gesamte Hand schien zu brennen, es war, als würde das Messer glühend heià sein.
Ein letztes Mal schaute sie in die Augen der Prinzessin.
âDankeâ, flüsterte das Kind, und im nächsten Moment verschwamm die Welt abermals vor Leas Augen....
âPrincipessa? Principessa, tu ascolti me? Condannato...â
Lea schnappte panisch nach Luft, als wäre sie kurz vor dem Ersticken.
âEh, che cos ´hai?â
Abrupt sprang Lea auf, warf dabei beinahe Emilio um und schaute sich in dem Kellergewölbe um, musterte verstört die Mumien an den Wänden. Dann blieb ihr Blick an Emilio hängen.
âEmilio...â sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. âIch war...ich habe....â
âShhh, mia principessa, du hast gehabt einen...ahm...incubo...â
âEinen Albtraum?â Bitter lachend schüttelte Lea den Kopf. âEin Albtraum. Natürlich. Was auch sonst?â
âGeht es dir gut?â Vorsichtig musterte Emilio seine Begleiterin. Sie schien wirklich durch den Wind zu sein. Was war mit ihr passiert? Er wusste nur, dass sie zusammengebrochen war, nachdem sie dieses merkwürdige Gedicht vorgelesen hatte...
Emilio legte den Arm um Lea, um sie zu stützen.
âOh mein Gott, ich...â murmelte Lea erschöpft, âich war ohnmächtig, oder?â
âJa, du warstâ, nickte Emilio, während er sie aus den Katakomben herausführte. âNoi andare, principessa...vieni qui... Was ist dich passiert?â
âIch...ich habe wohl die Luft nicht vertragenâ, stammelte Lea, noch immer vollkommen durch den Wind.
Als sie schlieÃlich in das grelle Sonnenlicht heraustraten, kniff Lea kurz die Augen zusammen. Die Realität hatte sie mittlerweile vollkommen wieder, und sie fragte sich, ob sie je einen so intensiven Traum erlebt hatte.
Geblendet hob sie ihre Hand, um diese vor ihre Augen zu halten.
Doch mitten in der Bewegung erstarrte sie.
Und blickte ungläubig auf die A-förmige Narbe in ihrer Handinnenfläche.