Kapitel 2
Detroit - You've got to work for it, honey, don't you?
Es war nur ein kleiner Laden, fast wie der in New York, in dem er immer Zigaretten gekauft hatte als er noch jünger war, ein gutes Stück jünger.
âFür meine Ma!â Mehr musste er nie sagen.
Er ging durch den schmalen, vollgestellten Gang.
Links von ihm Auslagen mit Zeitschriften und billigen vergilbten Taschenbüchern, rechts Regale zum erbrechen gefüllt mit Konservendosen.
Ohne das er es merkte schweifte sein Blick über die Einbände der Taschenbücher, bevor er sich den Konserven zuwandte.
Ravioli mit TomatensoÃe, Spaghetti, FleischklöÃe in dunkler SoÃe und eine Dose mit eingelegten Birnen.
Er packte alles in den Metallkorb, den er sich am Eingang gegriffen hatte.
Im vorbei gehen zog er noch eine Flasche Coke aus dem Kühlfach, das sie anhörte als würde es jeden Moment in die Luft gehen und ging zur Kasse.
Die Kassiererin , eine runzlige, vom Leben gezeichnete Frau, lächelte ihn freundlich an.
Ãber die Ränder ihrer dicken Nickelbrille studierte sie die Preise der Dosen.
âDas wären... Sechs Dollar und... dreiundvierzig Cent.â
Während er das Geld passend aus seinen Geldbeutel fischte, konnte er nicht anders als sich immer wieder in dem Tante Emma Laden umzusehen.
Zögernd legte er das Geld auf den Tisch, der als Kassentresen erhalten musste.
Nach diesem Einkauf blieben ihm weniger als vier Dollar und arbeit war nicht in Sicht.
Aber schlecht geschätzt hatte er nicht. Eine Woche hatte es gereicht, wenn er sein Restgeld dazu nahm sogar länger.
Vielleicht...
Er erwiderte das Lächeln der Alten Dame âBrauchen sie vielleicht Hilfe?â
Sein Gegenüber zog misstrauisch die Augenbraun zusammen âWieso?â Ihre Stimme zitterte leicht.
Sie hatte Angst. Er konnte es ihr ansehen und eigentlich war es auch kein Wunder. Hier in dieser Gegend, waren Ãberfällen keine Seltenheit.
Er hätte zu gern gewusst wie vielen sie schon zum Opfer geworden ist.
âKeine Angstâ, antwortete er mit seinem typisch schiefen Grinsen âIch will mir nur ein paar Dollar verdienen, wobei die Betonung auf verdienen liegt. Fegen, Dosen sortieren... was sie wollen...â
âWie heiÃt du, Junge?â Die Alte hatte sich wieder beruhigt.
Er überlegte Kurz â Sal oder Jess, das war hier die Frage.
âJess, also...?â Er schaute sie fragend an.
âAlso, mein Name ist Dotty. Deine Einkäufe stellen wir hier unter den Tisch und die kannst gleich anfangen die Dosen dahinten nach ihrem Verfallsdatum zu ordnen. Die, die am ehesten ablaufen nach vorne!â
Jess nickte, drehte sich um, ging zu den Regalen, aus denen er eben die Konserven genommen hatte und fing mit seiner Arbeit an.
Dotty, die alte Lady beobachtete ihn kurze Zeit, bevor sie , wie ein kleines Schulmädchen, zu kichern Anfing âDu bist so wild aufâs Arbeiten, das es dich gar nicht zu jucken scheint was du dafür kriegst!â
Für Mitch Goldblum war es ein Tag wie jeder andere.
Um sieben Uhr Morgens war er aufgestanden, hatte geduscht und danach mit seiner Freu und seinen zwei Kindern gefrühstückt.
Danach hatte er mit dem drei Jahre alten Goldenredriever der Familie eine kleine Runde um den Block gedreht.
Um acht hatte er Sahra und Marty zur Schule gefahren und hatte sich, wie jeden Morgen, beeilen müssen um nicht zu spät zur Arbeit zukommen.
Jetzt, nach acht Stunden, in seinem kleinen stickigen Büro war er wieder zu Hause.
Er stieg wie jeden Abend aus seinem Wagen, ging zum Briefkasten, nahm die Post, die vermutlich wie immer gröÃtenteils aus Rechnungen und Werbung bestand, heraus und machte sich auf den Weg zur Haustür.
Kaum im Haus, stürmte Spark, der Hund, auf ihn ein und schmiss ihn fast um.
Als er sich endlich bis zur Küche vorgekämpft hatte, legte er die Briefe auf den groÃen runden Tisch mitten im Raum, um seine Frau umarmen zu können. Für den Moment war die Post vergessen.
âHey Kleiner!â
Jess musste bei diesem Rufnamen grinsen, es war Jahre her seit ihn jemand â Kleiner â genannt hatte.
Langsam richtete er sich auf.
Dotty saà auf dem Klappstuhl direkt hinter dem Tisch, unter dem seit drei Stunden seine Einkäufe standen und darauf warteten mit ihm auf Wanderschaft zu gehen.
âJa?â Jess lächelte Dotty auffordernd an.
âWeiÃt du schon wo du heute Nacht bleibst?â
Jess zuckte mit den Schultern âDie Rückbank in meinem Auto ist ganz bequem.â
Dotty schnaubte verächtlich âVergiss es!â Sie schaute ihm direkt in die Augen âIm Hinterzimmer steht ne Couch, ziemlich durchgelegen aber bequem und Warm.â
Jess zögerte, schlieÃlich nickte er.
Was konnte es schon schaden?
Die letzten sieben Tage hatte er im Auto verbracht. One viele Pausen die länger dauerten als fünfzehn Minuten, um genau zu sein war es nur eine gewesen, etwas auÃerhalb von Des Moines, Iowa, an einer Highway Raststätte.
Er hatte wieder geschrieben, diesmal ging der Brief nach Indianola.
âIch bleibe gernâ, fügte er seinem Nicken nach kurzem hinzu.
Auch Dotty nickte. Ihr Lächeln zog sich von einem Ohr zum andern.
âWillst du dein Geld Morgen oder jetzt?â
Erst jetzt fiel Jess auf das es dunkel geworden war und wie ihm ein Blick auf die, wie alles in diesem Laden, vergilbte Uhr verriet, waren, seit er den Laden betreten hatte über drei Stunden vergangen.
Drei Stunden in denen er sechs Dollar verdient hatte. Mit seinen drei Dollar, die er noch hatte, genug für vielleicht vier Tage.
âEgal, auÃer wenn ihnen heute Nacht in den Sinn kommen würde mich abzuknallen.â
Dotty lachte aus vollem Hals, nicht zum ersten mal an diesem Tag.
Jess hatte noch nie vorher ein solches Lachen gehört.
âDann wärâs genauso egal!â, presste Dotty zwischen zusammengekniffenen Zähnen hervor, bevor ein neuer Lachanfall sie übermannte.
Er hatte die ganze Post durch gesehen, nur ein Brief lag noch geschlossen vor ihm.
Es war, wie er ohne schlechtes Gewissen behaupten konnte, der seltsamste Brief, den er je bekommen hatte.
Er besaà keinen richtigen Absender, nur der Poststempel sagte wirklich etwas.
Er war vor drei Tagen in Des Moines abgestempelt worden, der Absender an sich bestand nur aus fünf Worten, die ihm so viel und so wenig sagten wie ein Roman von Jane Austin.
Vorsichtig schüttelte er den Brief.
Nur ein Brief, ein ganz gewöhnlicher Brief, bis auf den Absender.
Er starrte noch eine Weile abwesend auf den weiÃen Umschlag in seiner Hand bevor er ihn öffnete.
Das Leben geht weiter.
Eine seltsame BegrüÃung, wenn man so will.
Aber es ist die Wahrheit, eine der wenigen ultimativen Wahrheiten.
Ich, für meinen Teil, sitze hier in meinem Wagen.
Die Neonreklame einer Highway Raststätte im Nacken und weià nur das eine â Das Leben geht weiter!
Warum ich ihnen das erzähle?
Verdammt, ich weià es selbst nicht.
Vielleicht, weil ich in der Hoffnung Lebe das es in diesem Gott verlassenen Land noch irgendwen gibt der sich für mich interessiert.
Wenn auch nur in den fünf Minuten in denen er diesen Brief liest.
Wer ich bin? Sal Paradise, zumindest in diesem Brief.
Männlich, 19 Jahre, geboren und aufgewachsen in New York City.
Das muss ihnen als Antwort reichen.
Vor drei Tagen bin ich in Boulder, Wyoming aufgebrochen ohne zuwissen wohin die Reise geht. Zur Zeit bewege ich mich nach Osten, wie lange noch weià ich nicht.
Und sie geht es mit Sicherheit nichts an und ob sie es überhaupt wissen wollen ist eine andre Sache.
Aber glauben sie mir was ich zu Anfang geschrieben habe â Das Leben geht weiter!
Wem sollten sie es glauben wenn nicht mir?
Jeder Mensch auf diesem verdammten Planeten ist so glaubwürdig oder unglaubwürdig wie ich.
Selbst ihre Familie und ihre Freunde, nicht zu vergessen sie selbst.
Das soll jetzt nicht demotivieren, eher das Gegenteil ist der Fall.
Alles was ich ihnen sagen will ist â Leben sie ihr Leben. Jeden Tag so als wäre es ihr erster, nicht letzter.
Rate sie mal was ich tue?
Haha, richtig ich machâs genau so., zumindest meistens.
Alles andere funktioniert bei mir eh nicht.
Wenn ich Pläne hatte wurden sie oft mit nur einem Wort zerstört, das letzte Mal durch ein einfaches â Nein-
Können sie sich das vorstellen? Ein â Nein- und das wars... aber genug davon, das ist eine andere Geschichte, die sie nicht betrifft.
Sal Paradise
Mitch zwinkerte ein paar mal. Ihm kam es vor als hätte er ein Tagtraum gehabt.
Aber es war kein Traum. Er saà auf der Couch im Wohnzimmer, neben ihm lag seine Frau, ihre FüÃe ruhten auf seinem Schoà und in der Hand hielt er einen Brief geschrieben, von einem Jungen nicht mal halb so alt wie er, der ihm sagte dass das Leben immer weiter geht.
âSally?â Vorsichtig tupste Mitch seine Frau an. âWas denn Schatz?â Sally hatte ihren Blick vom Fernsehgerät gelöst und schaute ihn auffordernd an. âSie mal hier der Brief!â
Jess lag schon seit einer Stunde wach auf der Couch, obwohl es Mitten in der Nacht war, das dünne Leintuch bis zur Brust hochgezogen.
Dotty hatte recht gehabt das Sofa war wirklich bequem, zumindest bequemer als der Rücksitz seines Wagens. Vor allem konnte er die Beine ausstrecken, ohne irgendwo anzustoÃen.
Allein dafür verdiente Dotty ein gewaltiges Dankeschön.
Hätte ihn jemand noch vor vier Wochen gefragt, ob es jemals einen Menschen über sechzig geben würden, den er leiden kann, hätte er nur gelacht.
Aber jetzt...
Dotty war der Hammer. Er konnte sich nicht erinnern jemals einer solchen Frau begegnet zu sein.
Die Couch knarrte leise als Jess sich auf die Seite drehte und die Augen schloss.
Er hatte Zeit, viel Zeit und das Beste was er damit anfangen konnte war zu schlafen, einmal seit Ewigkeiten, richtig auszuschlafen.
âKleiner, aufwachen!â Jess blinzelte ein paar mal bevor er Dottys zerfurchtes Gesicht erkannte âNa los steh auf, zieh dich an und dann komm nach oben. Ich hab Eier und Speck gemacht. Toast gibtâs auch wenn du magst!â
Jess schaute erst verwirrt, dann mit einem einfachen Lächeln zu Dotty auf âWie spät?â
âEs ist zehn. Ich hab den Laden schon vor zwei Stunden aufgemacht. Du hast einen Schlaf wie ein Bär im Winter, ein Wunder das du nicht aufgewacht bist. Aber los doch, sonst ist das Essen kalt!â
Bevor Jess auch nur die Gelegenheit hatte etwas zu sagen, war Dotty schon durch die schmale Tür verschwunden.
âNa endlich!â Dotty hob erleichtert die Arme.
Mit schnellen, schlurfenden Schritten ging sie zur Ladentür und drehte das Schild, das ihren Kunden verriet ob sie offen hatte oder nicht auf âClosedâ. âNa, was stehst du da so rum? Komm schon!â Dotty ging Jess voraus zu einer zweiten Tür, links von der zum Hinterzimmer.
Langsam führte sie ihn die schmale Treppe in den ersten Stock hinauf.
Jess wunderte sich über sich selbst, als ihm auffiel das er von dem vergilbten Anblick tatsächlich überrascht war.
Genau so musste Dottys Wohnung aussehen.
Das Wohnzimmer vollgestellt mit einer groÃen, Blumenbedruckten Couchgarnitur, direkt davor ein Wohnzimmertisch aus dunklem Holz. Die Wände voll gehangen mit Photos und Zeichnungen von Drittklassigenkünstlern und zu guter letzt, direkt hinter ihm der groÃe Wohnzimmer Schrank, gekoppelt mit einem, genau so groÃen, Einbauregal.
âHier!â Dotty trug ein groÃen Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Tisch ab.
âEier, Speck, Toast und Kaffee. Wie versprochen!â Erschöpft lieà sie sich auf den Sessel hinter sich fallen und deutete Jess an sich auch zu setzten.
Die Hände in den Hosentaschen, ging er zum Sofa und setzte sich.
âHast du keinen Hunger oder isst du das Essen Mental?â
Jess schüttelte den Kopf, am liebsten hätte er gesagt âKommt drauf an!â
Aber das war eine andere Sache die hiermit nichts zu tun hatte. Oder doch?
Jess lachte kurz und schaute schlieÃlich zu Dotty âDas hier wär nicht nötig!â
âOh doch das ist es!â Dotty lächelte ihn wissend an.
Jess reagierte nicht darauf, sondern griff die Kaffeetasse und nahm einen groÃen Schluck und fing erst langsam, dann als wäre er kurz vorn verhungern an zu essen.
âWeiÃt du, Jungeâ, fing Dotty nach kurzem Schweigen an âDu erinnerst mich an meinen Mann!â
Jess warf ihr nur einen kurzen fragenden Blick zu, bevor er sich wieder voll und ganz auf sein Frühstück konzentrierte.
âEr war auch viel unterwegs, ist in den Vierzigern durch Land getrampt. Nie mit mehr als zehn Dollar in der Tasche. Wenn ihm das Geld ausging hat er gearbeitet oder darauf gehofft das ihm jemand was gibt. Nicht das er gebettelt hat, oder ich weià es nicht vielleicht hat er mal gebettelt, aber das glaub ich nicht. Das war noch bevor wir geheiratet haben. Er hat immer gesagt â Auf der StraÃe sind alle gleich, also behandle sie wie du dich selbst behandeln würdest.â
Jess hatte sein Frühstück bis auf einen kleinen Rest Toast ganz aufgegessen und hatte sich zurück gelehnt um Dotty besser im Blick zu haben.
âAlso, behandeln sie mich wie sie sich behandeln würden?â Jess zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
Dotty schüttelte lachend den Kopf âNein, ich behandle dich, wie ich mir gewünscht hätte, das mein Mann behandelt wird!â
Langsam rappelte Dotty sich âAch, was sollâs vergangen ist vergangen. Ich muss wieder runter, wenn du dich waschen willst, das Bad ist den Flur runter, die letzte Tür, stell das Geschirr einfach in die Spüle das mach ich heut Abend."
Jess stand, seinen Seesack über die linke Schulter geworfen im Laden und wartete darauf, das Dotty aus dem Hinterzimmer kam.
Er hatte schon fast im seinem Auto gesessen als ihr eingefallen war, sie hätte noch was für ihn.
âHier, ich habâs!â Dotty lächelte ihn an als sie schlurfend auf ihn zu kam.
âDa, für dich!â Sie drückte ihm eine groÃe Plastiktüte in die Hand.
âWas?â Jess schaute sie zweifelnd an. âDu brauchst was zu essen, Kleiner und ich weià das du nicht viel Geld hast, selbst mit dem was du gestern hier verdient hast also... wenn du aufpasst, reicht das locker ne Woche!â
Jess nickte âDanke!â
Es war seltsam wie leicht es ihm fiel das zu sagen.
Er lächelte Dotty aufrichtig an, bevor er sich umdrehte und zu seinem Wagen ging.
Er schmieà seinen Seesack auf die Rückbank und stieg an, ohne zuwissen was die nächsten Tage bringen würden.
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 05.05.2005, 16:28 von
ordinary.)