In jedem von uns ist etwas,
was uns daran hindert,
dort zu sein, wo zu sein
wir uns erträumen.
Lily Brett
Ich habe festgestellt,
dass sich ganz in der Nähe des Lebens,
in dem man zufällig gelandet ist,
ein anderes befindet,
das man seelenruhig
genauso gut hätte führen können.
Margriet de Moor
Sechs
Mit einem Anflug des Schauers tritt er einen Schritt zurück, sieht sich suchend um, ruft ihren Namen, reiÃt die Tür zu den anderen Zimmern auf, eine nach der anderen, doch er findet nichts als Leere vor. Die Treppen nimmt er im Eilschritt, stolpert in den Salon, läuft weiter ins Wohnzimmer, die Tür zur Terrasse steht einen Spalt offen. Leise tritt er nach drauÃen, stellt mit einer Mischung aus Erleichterung und Schreck fest, dass sie hier ist, auf der Terrasse steht. Das Haar sorgfältig gekämmt, in Hose und Bluse. Eine viel zu dünne Bluse für dieses Wetter, für den beiÃenden Wind, sie muss frieren, wird sich noch erkälten.
Er geht ein paar Schritte auf sie zu und zieht ein wenig unbeholfen sein Jackett aus, legt es ihr über die Schulter, murmelt dabei leise ihren Namen. Sie entgegnet nichts, zieht lediglich die Jacke enger um sich, starrt weiter auf den Garten, in dem sich die ersten Spuren des Frühlings bemerkbar machen, vereinzelte Krokusse, die ihre Köpfe durch die immer dünner werdende Schneedecke stecken.
Er ist froh, sie zu sehen, hier, auÃerhalb des Schlafzimmers, des Bettes, in das sie sich seit Wochen vergraben hatte, kaum ein Wort sprach, regelrecht zum Essen gezwungen werden musste. Sie ist schrecklich dünn geworden, blass, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber sie hier zu sehen, zu sehen, dass sie selbst die Kraft aufgebracht hat aufzustehen, beschlossen hat weiterzumachen, beruhigt ihn, mehr als das, er kommt sich beinahe glücklich vor.
Sie räuspert sich, fängt mit heiserer Stimme zu sprechen an. âErinnerst du dich noch daran, wie wir das erste Mal hier waren? Lorelai wollte unbedingt auf die alte Eiche klettern, aber ich habe es ihr nicht erlaubtâ, sie schüttelt den Kopf, senkt ihn, starrt zu Boden. âIch hatte Angst, sie könnte herunterfallen und sich weh tunâ, sie schluckt, doch der Kloà in ihrem Hals verschwindet nicht. âGott, sie war so wütend auf mich, hat sich auf den Rasen gesetzt, die Arme verschränkt und vor sich hingeschmollt. Sie hat über eine Stunde lang nicht mit mir geredet und am Ende hätte ich beinahe nachgegeben.â
âWarum hast du es nicht getan?â, fragt er leise, er erinnert sich nicht, erinnert sich überhaupt nur an weniges aus jener Zeit, als würde ein Schleier darauf liegen. Ein Schleier, den er selbst darauf gelegt hat, den sie gelüftet hat.
âSie war schnellerâ, sie blinzelt, sieht alles noch genau vor sich. Wie Lorelai schlieÃlich aufstand, widerwillig, den Mund verzog und zu ihr kam, schmollend auf ihren Schoà kletterte und sich an sie kuschelte. Sie fragt sich, wer jetzt auf Lorelai aufpassen wird. Wer verhindern wird, dass sie auf Bäume klettert, Risiken eingeht, die viel zu hoch für sie sind. Sie lässt ihren Blick schweifen, versucht an etwa anderes zu denken. âIch fürchte, wir werden einen neuen Gärtner einstellen müssen. Thomas hat die Ãste nicht richtig zurück geschnitten, sie sind viel zu groÃ. Die Nachbarn werden sich noch beschweren.â
âWenn du es sagstâ, er lächelt, nimmt ihre Hand und drückt sie fest. âAlles was du sagst, Emily.â
âUnd das Hausmädchenâ, fährt sie fort, hat ihre Stimme mit jedem Wort besser unter Kontrolle, verbannt jegliches Anzeichen von Schwäche daraus. âWas hat sie gemacht? Die FüÃe auf den Tisch gelegt und deinen Whiskey getrunken? Aus den Spinnweben im Haus könnte ich mir Stoff für ein ganzes Ballkleid weben lassen. Und der Staub. Wir sollten ihn in groÃen Säcken sammeln und der Armee zur Tarnung im Gefecht überlassen. Oder wir schreiben mit den Fingern kleine Botschaften auf unsere Möbel.â
âDas stelle ich mir durchaus romantisch vorâ, er mustert sie eindringlich, stellt entsetzt fest, dass trotz ihres bestimmten Tonfalls auch das bisschen Farbe aus ihrem Gesicht gewichen ist, sie leichenblass ist, ihre Lippen gefährlich beben. Er zieht sie zurück ins Haus, nein, denkt er, nicht hier, hier ist alles zu vertraut, würde sie nur wieder erinnern. Weg, wir müssen weg, sie muss weg von hier und wenn es nur für ein paar Tage ist. Also schiebt er sie in den Hof und fordert sie auf in seinen Wagen zu steigen.
Sie sieht ihn verblüfft an, steigt trotzdem ein, wartet, bis auch er im Wagen ist. âWas soll das, Richard?â
âNichtsâ, sagt er ruhig, ruhig und bestimmt.
âNichts?â, sie hebt die Augenbrauen. âWenn das so ist, dann kann ich auch wieder ins Haus gehenâ, sie will nach dem Türgriff fassen, doch er ist schneller, beugt sich über sie, drückt die Verriegelung nach unten und legt den Gurt um sie. Hält dabei einen Augenblick inne, ein sachtes Prickeln, er fühlt sich versucht sie zu küssen, ruft sich sofort wieder zur Räson.
âKannst du nichtâ, er startet den Wagen und bugsiert ihn aus der Einfahrt, ist froh über ihr erstauntes Gesicht, wenigstens eine Regung, ein Anfang.
âIm Haus sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen und du fährst mich spazierenâ, murmelt sie mit leichter Missbilligung, sieht ihn an, doch er erwidert nichts, konzentriert sich auf die StraÃe.
Sie zieht an dem Jackett, das lose über ihren Schultern hängt, eigentlich zu groà ist, streicht über den Stoff. Es riecht vertraut nach dem Aftershave ihres Mannes, eine Umarmung ohne Berührung. Sie schiebt auch diesen Gedanken zur Seite. âDie Jacke gehört in die Reinigung, man wird dich in diesem schmutzigen Ding noch für einen Landstreicher halten. Und der Wagenâ, sie fährt mit einem Finger über das Armaturenbrett und mustert den Teppich zu ihren FüÃen. âHast du ein Sandwich gegessen und bist dabei durch den Sumpf gefahren?â
âEmily, Liebling. Entweder du hältst den Mund oder ich sehe mich gezwungen dich K.O. zu schlagenâ, entgegnet er sanft.
âDas würdest du nicht wagen.â
Er hebt eine Augenbraue, schmunzelt zweideutig. âWillst du dieses Risiko wirklich eingehen?â
Sie zieht eine Schnute, schweigt eine Weile, beobachtet wie die Häuser und Bäume an ihnen vorbeierrauschen, immer lichter werden, stellt verblüfft fest, dass sie dabei sind Hartford zu verlassen. âWohin fahren wir?â
âWegâ, lautet die knappe Antwort. Eine Antwort, die sie bei weitem nicht zufrieden stellt.
âWeg?â
âWeg!â, wiederholt er mit Nachdruck.
âUnd wo ist dieses ominöse Weg?â, erkundigt sie sich nach einer kurzen Pause, die Stirn in Falten gelegt, trotzig, schmollend, wie ein kleines Kind, den Blick fest nach drauÃen gerichtet.
Er weià es selbst nicht, aber sie werden irgendwann, irgendwo ankommen. âDas wirst du sehen.â Wir werden es sehen.
âIch bin nicht passend gekleidet, um nach Weg zu fahren, Richard.â
âGreif in meine rechte Jacketttascheâ, fordert er sie auf.
Sie kommt der Anweisung nach, zieht ein ledernes Portemonnaie hervor. âUnd?â,
âDu hältst eine Geldbörse in den Händen, man sagt langläufig auch Portemonnaie, Geldbeutel oder Brieftasche dazu. Für gewöhnlich -.â
Ungeduldig fällt sie ihm ins Wort, begreift wirklich nicht, was das alles soll. âDas weià ich selbst, man hat sie schon erfunden, bevor ich ââ, sie bricht ab, zieht erstaunt etwas aus der Börse. âDu schleppst eine Photographie von mir mit dir herum?â
âNatürlich, das ist schlieÃlich einer der Verwendungszwecke dieser Behältnisse. Aber hauptsächlich gebraucht man sie zur Aufbewahrung von Geld und Kreditkarten.â
âRichard!?â
âWas ich damit sagen will, Emily, ist: Selbst wenn du nichts als einen Unterrock am Leib hättest, es wäre vollkommen egal. Mittels der Zahlungsmittel in diesem Portemonnaie kann ich dir die gesamte Kollektion von Chanel kaufen. Es sei denn, du bevorzugst Gucci.â
âMan sollte nie nur die Klamotten einer Firma tragen, das zeugt von Einfallslosigkeit.â
âDann kaufe ich eben die Kollektionen sämtlicher Modemacher auf.â
âUnd was ist mit Schuhen? Strümpfen? Make Up? Schmuck?â, zählt sie auf, wirft einen Blick in den AuÃenspiegel. âAuÃerdem war ich seit Ewigkeiten nicht mehr beim Friseur. Man wird uns beide für Landstreicher halten.â
âNur dich. SchlieÃlich bist du es, die ein verdrecktes Jackett trägt und deren Haare völlig verwahrlost sindâ, erwidert er trocken, genieÃt dieses Gespräch über Belanglosigkeiten. âAber wenn du es möchtest, dann werde ich dir auch einen Besuch beim Friseur spendieren.â
âUnd wann willst du das tun?â
âSobald wir da sind.â
âIn Weg?â
âIn Weg.â
âUnd wo ist dieses Weg nun? Du weiÃt ganz genau, dass ich es nicht mag, wenn ich nicht weià wohin ich gehe.â
âErinnerst du dich an die Sache mit dem K.O.?â
âWas?â, sie sieht ihn an, mit offenem Mund, glitzernden Augen.
âHalt den Mund und genieÃe die Fahrtâ, er dreht das Radio auf, grinst dabei, nimmt ihre Hand, macht ein leises Lächeln auf ihrem Gesicht aus und grinst noch mehr.
To be continued.
ATN: So, der Anfang der Sechs. Sorry, aber ich muste gestern für ne Kollegin einspringen und hab bis anchts um 2 gearbeitet ..... Und Jessy, yupp, du hattest Recht, daher stammen die Narben... Danke für's Feedback, mehr davon will (Wie immer halt *G*) Riska