Kapitel IX
Don't leave me here with these tears
Lorelai hielt den letzten Karton in ihren Händen und schlug mit ihrem rechten Fuà die Haustür zu, während sie versuchte mit dem linken Bein die Balance zu halten. Erschöpft lieà Lore die Kiste auf den Boden sinken und sich selbst gleich hinterher.
âWie viele Umzugskisten waren das jetzt? Hundert?â Amy begann zu lachen.
âIch glaube es waren 12 Kartons, natürlich die vier Taschen nicht mitgerechnetâ, spottete sie über die erledigte Lorelai, die sich schlieÃlich wieder aufrappelte und ihre Kleidung gerade rückte.
âWo soll dieser hin?â Lore deutete auf den letzten Karton.
âLass nur, ich trag ihn selber in die Küche. Ich will ja nicht, dass du deine restlichen Reserven dafür ausgibst. Ich meine, es war bis jetzt eine ganz schöne Anstrengung...â Lore stieà der lachenden Amy ihren Ellbogen in die Seite, diese versuchte ihr Lachen zu unterdrücken worauf sie jedoch stärker losprustete.
âDu hast heute Morgen wohl einen Clown gefrühstücktâ, stellte die ältere Gilmore eingeschnappt fest und griff nach dem Karton. Mit einem Schmollmund im Gesicht, bewegte sie sich in Richtung Küche.
âKomm schon Lorâ, rief Amy ihr nach doch als sie keine Antwort bekam folgte sie ihrer beleidigten Freundin. Lorelai stellte die Kiste auf dem Küchentisch ab und lieà sich auf einen Stuhl nieder. Die rothaarige Frau griff nach einer Thermoskanne und holte zwei Plastikbecher aus einem Karton, einen davon stellte sie vor Lore auf den Tisch. Auf deren Lippen erschien ein Lächeln, sie bereitete sich auf den Genuss von frischem Kaffee vor. Amy schenkte der, gierig dreinblickenden, schwarzhaarigen Frau etwas von der heiÃen Flüssigkeit in den Becher. Lorelai inhalierte den Dampf worauf sich ihre Augen vor Empörung weiteten.
âErst reist du deine Witze über mich und nun willst du mir Tee unterjubelnâ, meinte Lore mit deutlicher Erschütterung in der Stimme, âwann ist es passiert? Seit wann trinkst du Tee, anstatt das überlebenswichtige, schwarze Elixier?â
âIch musste manchmal während unserer Reise auf Tee umsteigen, da der Kaffee in manchen Staaten und Ländern wirklich widerlich schmeckt. Nehmen wir zum Beispiel Las Vegas, mag ja sein, dass es dort die besten Casinos gibt aber mit Abstand den ekelhaftesten Kaffeeâ, verteidigte sich Amy worauf Lorelai grinsen musste. Auf diese Frau konnte sie einfach nicht lange sauer sein.
âWillst du den Tee nicht einmal kosten?â
âNatürlich, wenn du Kaffee hineinschüttest.â
âVerdammter Mist.â Ein lautes Fluchen kam aus dem Wohnzimmer. David saà vor seinem Laptop und stützte seinen Kopf in seine Hände. Einen kurzen Augenblick später schlug er mit geballter Faust auf den Wohnzimmertisch.
âEr ist wohl sehr ehrgeizig. Kaum eine Stunde hier, schon arbeitet erâ, witzelte Lore doch als sie Amys ernsten Gesichtsausdruck wahrnahm, wurde sie besorgt.
âWas ist los?â Lorelai stand auf und ging auf ihre rothaarige Freundin zu. Diese seufzte und schüttelte traurig den Kopf.
âDavid steht momentan unter groÃem Druck. Er muss ein Bewerbungsschreiben für die Hartford News erstellen.â
âEin Bewerbungsschreiben?â, fragte Lore nach um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verhört hatte. Amy antwortete mit einem stummen Kopfnicken.
âAber wieso? Ich dachte David hat einen so gut bezahlten Job.â
âVor gut sechs Monaten hat er seine Arbeitsstelle verloren. Von einem Tag auf den anderen haben sie ihn entlassen. Seitdem klappert er eine Redaktion nach der anderen ab. Hier in Hartford hat endlich eine Zeitung wieder Interesse an ihm gezeigt. Sie wollen ihn aufgrund seiner Erfahrung als Kolumnistenschreiber haben doch zuvor muss er einen Artikel abgeben, zur Bestätigung seines Talents.â
âDeshalb habt ihr euch also niedergelassen.â Nun wurde Lorelai einiges klar. Der abrupte Beschluss sich niederzulassen wurde durch Davids Arbeitslosigkeit und sein plötzliches Jobangebot in Hartford ausgelöst. Vielleicht zog sich Colin deshalb zurück. Vielleicht hatte er von der Pendlerei noch nicht genug?
Colin stand oben vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete sich. Um genau zu sein, er begutachtete die blauen Abdrücke auf seinem Oberarm. Wenn man alle fünf Flecken zusammenzählte, ergab sich ein Handabdruck. Erneut spürte er wie sich seine Hand um den Oberarm zog und immer stärker zudrückte. Er sah seine Augen, die ihn voller Zorn und Wut anfunkelten. Das Gefühl der Hilflosigkeit und der Angst stieg erneut in ihm empor. Warum richtete er seinen Hass nur gegen Colin?
âUnd das ist mein Zimmerâ, erklärte Rory und deutete auf ihre geschlossene Zimmertüre. âKaffee?â
âGerneâ, murmelte Jan und öffnete die Tür. Etwas zaghaft trat sie ein und schaute sich im Zimmer um, sie begutachtete die Poster der vielen Städte und Staaten an Rorys Wänden. Erinnerung kochten in ihr auf, Erinnerungen an ihr nun vergangenes Leben. Plötzlich schossen die Bilder aller Freunde und Bekannten durch ihre Gedanken, die sie verlassen musste. Gebäude, Pflanzen, Bäume und das Meer, schlagartig roch sie den Duft verschiedener Blüten und schmeckte das Meersalz auf ihrer Zunge. Mikes Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, er lächelte und seine Augen strahlten sie an. Sie spürte seine Haut auf ihrer, wie er ihr durch das Haar und über die Wangen strich, stets seine Zärtlichkeit beibehaltend. Jan atmete Mikes Duft ein, den Geruch seiner Haare, seiner Haut. Seine Liebkosungen lösten ein wohlig warmes Gefühl in ihr aus. Schlagartig schlug sie ihre Lider auf, ihr wurde bewusst, was sie gerade im Begriff war zu tun. Konnte man jemanden auf diese Art und Weise vergessen? Doch zwischen können und wollen, lag ein groÃer Unterschied.
âJan?â, holte Rory ihre Freundin aus den Gedanken. Diese wischte sich schnell die kleinen Tränen weg, bevor sie sich an die Yalestudentin wandte.
âJa?â
âDer Kaffee ist fertigâ, informierte sie Janine. Da bemerkte Rory, dass etwas nicht stimmte. Jans Gesichtsausdruck wirkte traurig, fast schon schmerzhaft berührt. Die jüngere Gilmore kannte diese Art mit dem Gesicht eine Geschichte zu erzählen. Sie selbst hatte lange Zeit diesen Ausdruck in ihrem Gesicht durch die Stadt getragen. Jan ging hastig an Rory vorbei und in die Küche. Dort lieà sie sich auf einen Stuhl sinken und holte eine Tasse zu sich. Sie umklammerte diese mit ihren Händen.
âWillst du es mir erzählen?â Das Mädchen mit den blauen Augen schenkte ihrer Freundin das schwarze Gebräu in die Tasse und blickte sie durchdringend an. Janine starrte stumm in den Becher und inhalierte den Duft der Flüssigkeit. Rory setzte sich auf einen Stuhl an der anderen Seite des Tischs. Sie goss sich selbst etwas Kaffee in ihre Tasse und erwärmte sich an einem Schluck.
âEs ist so schwerâ, meinte Jan nur ohne ihren starren Blick zu verändern.
âIch weiÃâ, gestand die Yalestudentin nur ungern. Niemandem zuvor hatte sie davon erzählt, nicht einmal Lorelai. Ihre Mom hätte sie nicht verstanden, nicht dieses Mal. Nicht, wenn es um Jess ging. Janine sah nun endlich auf und direkt in Rorys Augen. Sie konnte sich selbst darin erkennen, denselben Schmerz, dieselbe Wut, dieselbe Trauer und dieselbe Hilflosigkeit der Gefühle gegenüber. Das Gefühl, machtlos zu sein und der Liebe zu erliegen.
Don't leave me in all this pain, Don't leave me out in the rain, Come back and bring back my smile, Come and take these tears away, I need your arms to hold me now, The night are so unkind, Bring back those nights when I held you beside me.
âWird es leichter?â Rory atmete tief durch. Sollte sie ihrer Freundin Aufmunterung zusprechen, wenn sie es selbst nicht genau wusste? Ja, es war einfacher geworden. Ihre stillen Tränen in der Nacht hatten nachgelassen und schlieÃlich aufgehört. Nicht jeder Gedankengang hatte mehr zu ihm geführt. Tage waren vergangen ohne, dass sie an ihn gedacht hatte. Manchmal sogar Wochen. Doch jetzt? Sie hatte einen Rückschlag erlitten, nur aufgrund dieser drei Worte. Eine schlaflose Nacht und stets um ihn kreisende Gedanken waren die Folge.
âJa, es wird leichterâ, versicherte sie Jan und nahm einen Schluck der heiÃen Flüssigkeit zu sich. Der Kaffee spendete ihren müden Gliedern Kraft und Leben.
âEs ist doch lächerlich. Ich habe ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen und es fällt mir noch immer schwer an ihn zu denken oder ihn zu vergessen. Noch immer weià ich, wie sich seine Küsse anfühlen, noch immer sehe ich sein Gesicht vor mir, noch immer klingen die Abschiedesworte in meinen Ohrenâ, klagte Janine.
âHier muss ich rausâ... âOkayâ... âAlso, rufst du mich an?â... âJa, ich ruf dich anâ...
Das waren seine groÃen Abschiedsworte gewesen. Nicht einmal eine Andeutung, einen kleinen Hinweis auf sein Verschwinden hatte er ihr gegeben.
âKann sein, dass ich dich mal geliebt hab aber ich sollte dich wohl gehen lassen. Ich hoffe, es geht dir gut. Das wünsch ich dir wirklich sehr... also, Leb wohl. Ja, vielleicht klingt das jetzt für dich vollkommen bescheuert aber so ist es... Leb wohl...â
Das waren ihre Abschiedsworte gewesen doch sie hatte nicht direkt zu ihm gesprochen, sie hatte sie in ihr Handy gesagt. Hatte nicht jeder Mensch Worte des Abschieds verdient? Eine Chance dem Menschen, den man liebt, ein letztes Mal in die Augen zu sehen um sich somit von ihnen und von der geliebten Person zu verabschieden?
Take back that sad word good-bye, Bring back the joy to my life, Don't leave me here with these tears, Come and kiss this pain away, I can't forget the day you left, Time is so unkind, And life is so cruel without you here beside me.
Die beiden Mädchen saÃen stumm am Küchentisch und erlagen ihren Gedanken. Stimmen und Bilder schossen durch ihre Köpfe und ergaben oft keinen Sinn in ihren Augen. Vielleicht, weil sie einfach keinen Sinn in ihrer Liebe zu zwei Menschen sahen, die wahrscheinlich weit entfernt waren und nicht mehr an sie denken mussten.
Ein Klopfen holte die zwei Frauen aus ihren Gedanken. Wortlos hatten sie am Küchentisch gesessen und den Flüchen Davids gelauscht. Stunden waren so vergangen, jede der zwei Freundinnen war in ihrer eigenen Welt gewesen. Amy erhob sich schlieÃlich und machte sich auf zur Tür. Janine hielt sechs Pizzakartons in den Händen und Rory schleppte sechs Becher mit frischem Kaffee mit sich. Die rothaarige Frau tätigte eine einladende Geste und die zwei Mädchen traten ein.
Als Lorelai am Abend die Tür zu ihrem Zuhause öffnete, war Rory schon wieder auf dem Weg nach Yale. Nun musste sie wieder fünf Tage auf den Besuch ihrer Tochter warten, fünf Tage war das Haus nun leer. Lore legte ihren Schlüssel auf dem kleinen Tisch neben der Garderobe ab und erkannte das rote Lämpchen des ABs, das grell aufleuchtete.
Sie haben zwei neue Nachrichten: ~âHey Lorelai, ich binâs Jason. Ich dachte, wir können heute etwas miteinander unternehmen, ruf mich einfach an, wenn du die Nachricht hörst.â
~âHey Lorelai, ich binâs noch mal. Du warst heute wohl den ganzen Tag unterwegs. Na ja, ruf mich heute noch an oder einfach morgen.â Sie haben keine neue Nachricht mehr.
Lorelai wurde von einem schlechten Gewissen geplagt, obwohl es doch eigentlich keinen guten Grund dafür gab. Gut, Jason hatte wahrscheinlich den ganzen Tag auf einen Rückruf von ihr gewartet aber was erwartete er? Dass sie den ganzen Tag Zuhause saà und auf einen Anruf von ihm wartete? Lore fuhr sich durch das Haar, sie wusste, dass ihre Gedanken Jason gegenüber unfair waren. Er hatte vorgehabt mit ihr den Sonntag zu verbringen, das war doch wirklich lieb und schön. Erschöpft hängte sie ihren Mantel an den Garderobenständer und befreite sich aus ihren Schuhen. Mit mühsamen Schritten stieg sie die Stufen in ihr Schlafzimmer empor. Dort angekommen lieà sie sich auf ihr Bett fallen und sofort schlichen sich wieder diese Fragen in ihren Kopf. Colin hatte sich den restlichen Tag von ihr ferngehalten und war sehr distanziert mit ihr umgegangen. Noch immer konnte sie sich auf sein Verhalten keinen Reim machen.
Die Scheinwerfer ihres Wagens erhellten den Campus. Aus den Fenstern der Wohnheime strahlte grelles Licht und lies auf fleiÃiges Treiben schlieÃen. Rory fühlte sich müde und ausgelaugt. Sie sehnte sich nur noch nach ihrem Bett. Gestern Nacht hatte sie kein Auge zugetan und auch am Tag war sie nicht zur Ruhe gekommen, weder körperlich noch gedanklich. Die junge Frau wollte ihren Kopf freibekommen und sich von den lästigen Gedanken befreien. Rory schöpfte Hoffnung ungestört und augenblicklich unter die Dusche und danach ins Bett gehen zu können, als sie kein Licht aus ihrem Zimmer wahrnahm. Erleichtert dachte sie, dass Paris und ihre anderen Mitbewohnerrinnen schon schliefen. Ihre Theorie wurde bestärkt, als sie die Tür öffnete und noch immer keine Lichtquelle entdecken konnte. Rory hörte ein leises Schluchzen und wimmern worauf sie das Licht anschaltete. Lane saà in Mitten unzähliger Taschentücher auf der Couch. Ihre Augen waren gerötet und angeschwollen. Haarsträhnen klebten aufgrund der Tränen an ihrem Gesicht.
âWas ist los?â, fragte Rory besorgt.