Lindes Rauschen in den Wipfeln,
Vöglein, die ihr fernab fliegt,
Bronnen von den stillen Gipfeln,
Sagt, wo meine Heimat liegt?
Heut im Traum sah ich sie wieder,
Und von allen Bergen ging Solches
GrüÃen zu mir nieder,
Daà ich an zu weinen fing.
Ach, hier auf den fremden Gipfeln:
Menschen, Quellen, Fels und Baum,
Wirres Rauschen in den Wipfeln
Alles ist mir wie ein Traum.
Die fernen Heimathöhen,
Das stille, hohe Haus,
Der Berg, von dem ich gesehen
Jeden Frühling ins Land hinaus,
Mutter, Freunde und Brüder,
An die ich so oft gedacht,
Es grüÃt mich alles wieder
In stiller Mondesnacht.
Josef von Eichendorff
Zehn
Ein imposantes Gemäuer, mehr ein Schloss denn eine Villa, die GröÃe eines halben FuÃballfeldes hat sie, die Seite die sich vor ihnen erstreckt. Dicke, rote Ziegel, hohe, weiÃgetünchte Fensterläden und Rahmen, wilder Wein bedeckt die Mauern, sorgfältig gestutzt in seinem Wuchs, hat die kräftigen Farben des Herbstes angenommen.
Er übernimmt das Anklopfen, lässt den gusseisernen Türring energisch gegen die hölzerne Tür fallen, einmal, zweimal, dreimal. Dann herrscht Stille, sie unterdrückt den Impuls, ein Zucken in ihrer behandschuhten Hand, als sie sie zurückzieht, in ihre Manteltasche schiebt, anstatt sie in die seine zu legen. Sie öffnet den Mund, will etwas sagen, irgendetwas um diese grauenvolle Stille zu vertreiben, ihre Lippen formen schon den ersten Laut als die Tür sich öffnet, ihr Herzschlag für einen Augenblick aussetzt, ein kurzer Moment der Erleichterung als sie in das Gesicht eines Hausmädchens blickt.
"Ja bitte, sie wünschen?", erkundigt sie sich höflich, lang geübte Nonchalance.
"Mein Name ist Emily", sie stockt. Wer, fragt sie sich, wer bin ich hier? Bilder, viele von Ihnen, sie schlieÃt die Augen, für den Bruchteil einer Sekunde nur, ein feiner WindstoÃ, flatternde Mäntel. "Gilmore", sagt sie schlieÃlich in einem seltsam sanften Tonfall. "Ich, wir sind wegen des Familienfeierlichkeiten angereist."
"Natürlich, Mrs. Gilmore kommen sie herein", das Mädchen nickt eifrig, tritt einen Schritt zur Seite und deutet in das groÃe Entree. "Haben sie Gepäck?"
"Hauptsächlich meine Frau", sagt er schnell, will ihre Nervosität lockern, stellt fest, dass er eine wichtige Silbe unterschlagen hat. Es ist ein Spiel, dessen Regeln er schon lange nicht mehr versteht.
"Richard", antwortet sie scharf, maÃregelt ihn für die Unterschlagung zweier einfacher Buchstaben, hat keinen Sinn für Humor, nicht jetzt.
"Was denn, meine Liebe?", erwidert er bemüht entspannt. "Du hast genügend eingepackt, um hier zu überwintern."
"Ich bin eben gerne für alle Eventualitäten gerüstet", wenigstens, denkt sie, wenigstens werden uns so alle glauben, dass wir geschieden sind. Zumindest Lorelai und Rory, alles andere ist egal. Sie spürt ein leises Pochen hinter der Schädeldecke und fasst sich an die Schläfen, kühles Ziegenleder auf ihrer Haut. "Was ist?", ein Fauchen beinahe, ungeduldig und gereizt sieht sie ihre Tochter an, ihre Enkelin. "Wartet ihr auf eine Extra-Einladung?"
Lorelai hat Mühe nichts zu erwidern, packt Rory stattdessen Ãrmel und zieht sie in das Haus. Richard folgt den beiden, prallt beinahe mit Emily zusammen, ihre Mäntel streifen sich und hinterher kann er nicht mehr sagen, ob es tatsächlich so war oder ob er sich eingebildet hat, dass sich ihre Hand während dieses kurzen Moments um seinen kleinen Finger schloss.
"Ich werde ihnen ihre Zimmer zeigen", erklärt das Hausmädchen höflich und sie folgen ihr die breite Treppe nach oben, ein kunstvoll geschnitztes Geländer, Blüten und Elfen aus Holz, unglaublich weicher Samt auf schwarzem Ebenholz, ein Stoff der jedes Geräusche verschluckt.
Sie versucht ihren Atem flach zuhalten, die Düfte nicht zu tief in ihre Lunge kommen zu lassen, doch es gelingt ihr nur schwerlich. Nichts, denkt sie, nichts hat sich verändert, nichts, ein Blick auf das groÃe Portrait im Treppenaufgang des ersten Stocks. Fünf Gesichter, eines davon das ihre. Nun, nicht mehr ganz, es ist das eines jungen Mädchens, keine Sechzehn, ein höfliches Lächeln auf den Lippen, weil sie es damals noch nicht anders wusste.
Auch er erkennt sie sofort, der Maler hat sie gut getroffen, dennoch, er wirft ihr einen kurzen Seitenblick zu, dennoch hat er sie in gewisser Weise um ihre Schönheit betrogen. So viel Mühe er sich auch gegeben haben mag, er hat es nicht geschafft die Essenz einzufangen, ihr Sein. (Zumindest nicht das, was er in ihr sieht.)
Die seltsame Kolonne setzt ihren Weg fort, erreicht den Flur des zweiten Stockwerkes, der sich kaum vom ersten unterscheidet. Eine scheinbar endlose Anreihung von Zimmertüren nach beiden Seiten hin, Kommoden, geziert von Vasen mit schweren Blumenbouquets darin, Blütenblätter, deren tiefes Rot perfekt mit dem des Teppichs harmoniert, dunkles Holz, das exakt dieselbe Nuance wie der FuÃboden zu haben scheint.
Lorelai dreht sich noch einmal um, ehe sie in den rechten Flügel einbiegen, erhascht einen letzten Blick auf das Portrait im Stockwerk unter ihnen. Ein weiteres Lächeln, welches sie nicht unterdrücken kann. Perfekt, es ist das perfekte Portrait, vermutlich genau das, welches sich ihre Mutter immer von ihr selbst gewünscht hat. Vermutlich war sie es auch, die perfekte Tochter. Andererseits ist es eben das, was sie verwundert. Wie passt diese seltsame Zusammenkunft in das Bild, dass sie sich von ihrer Mutter, der perfekten Tochter, gemalt hat?
"Emily", eine unbekannte Stimme reiÃt sie aus ihren Gedanken, ein eigentlich angenehmer Alt, den die Kühle und Beherrschung darin zerstümmelt. Köpfe drehen sich herum, drei davon tun es mit Neugier, der eine mit täglicher Routine, ein weiterer voll ängstlichen Unbehagens. "Wie schön dich zu sehen", fährt die alte Dame fort, ihr Tonfall straft ihre Worte Lügen. "Du bist alt geworden."
"Die Zeit geht an keinem spurlos vorüber, Mutter."
Die Zeit geht an keinem spurlos vorüber, Mutter?, schieÃt es Lorelai durch den Kopf. Wo sind wir? In einem Roman? Vom Winde verweht für Fortgeschrittene, Mom? Dennoch musterte sie ihr Gegenüber, die GroÃmutter die sie zum ersten Mal sieht, mit gründlicher Neugier. Wenn man überhaupt in Würde altern kann, so hat Louise Johnson es getan. Ihr weiÃes Haar ist in perfekten Windungen aufgesteckt, klare Augen in einem faltigen Gesicht, Falten die obskurer Weise nicht alt, sondern gediegen wirken. Die perfekte Lady. Perfekt. Lorelai verdreht innerlich die Augen. Fantastisch, du bist am richtigen Platz, meine Liebe. Der richtige Platz. Er wäre zuhause. Bei Luke und Ruth. Ist er das?
"Natürlich nicht", erwidert Louise Johnson mit einem müden Lächeln, das jede Ehrlichkeit zu entbehren scheint, während Emily verzweifelt versucht das ihre aufrecht zu erhalten. "Serafina", wendet sie sich an das Hausmädchen. "Zeigen sie doch bitte meiner Tochter und ihrer", eine kurze Pause, keiner nimmt sie wahr. Keiner denn Emily, ein kurzer Stich in ihrer Brust, das erneute Verlangen seine Hand zu ergreifen. "Familie ihre Zimmer. Emily, ich dachte mir das gelbe Zimmer wird dir sicherlich gefallen. Deine Tochter und deine Enkeltochter werden dein altes Mädchenzimmer zugewiesen bekommen", erklärt sie. "Es tut mir leid, Lorelai", wieder eine kurze Pause, dieses Mal registriert sie jeder, sie scheint zu sagen, wie einfallslos, wie unglaublich unpassend, Lorelai und "Lorelai", ein leises Lachen. "Eine interessante Idee, nicht die übliche Generation zu überspringen."
"Ich habe so meine Momente", entgegnet Lorelai, spürt im selben Moment den bohrenden Blick ihrer Mutter.
"Jedenfalls", fährt Louise Johnson unbeirrt fort. "Erwarten wir viele Gäste. Wir haben eine groÃe Familie", wieder ein kurzes Auflachen. "Siebzehn Enkelkinder alleine", führt sie aus, lässt ihre mittlere Tochter mit diesen Worten zusammenzucken. "Deshalb werdet ihr beiden euch leider einen Raum teilen müssen", sie wendet sich an Richard. "Und deswegen habe ich mich auch leider gezwungen gesehen, sie in einem Hotel in der nächsten Ortschaft unterzubringen, Mr. Gilmore", flötet sie, ein erneutes Zusammenzucken Emilys, nur das sie diesmal sagt, was sie denkt.
"Richard kann doch ebenso gut hier bleiben, das Haus ist doch wirklich groà genug", sie versucht sich zwar wieder zu fangen, doch der Anflug von Panik in ihrer Stimme entgeht selbst Lorelai und Rory nicht. "Ich meine", führt sie aus. "Hedelfield ist dreizehn Meilen entfernt und ich, wir, du - man kann es Richard wohl kaum zumuten, jeden Abend -", sie verheddert sich in ihren eigenen Worten, ihr Kopf scheint zu zerbersten. "Das gelbe Zimmer ist groà genug, wir können es uns ebenso gut teilen", sie sagt es ohne zu denken, wünscht sich im selben Augenblick es nicht gesagt zu haben, verbessert sich, versucht sich zu korrigieren. "Immerhin waren wir vierzig Jahre lang verheiratet, es wäre also -"
"Emily!", unterbricht ihre Mutter sie mit einer Stimme, die ihren üblichen Tonfall um mindestens zwei Oktaven zu übersteigen scheint. "Ich darf dich doch sehr bitten. Ich werde dich und deinen
geschiedenen Ehemann bestimmt nicht im selben Raum unterbringen, das gehört sich einfach nicht, das solltest selbst du wissen."
Es ist nicht die Spitze, die sie verletzt, nicht der Tonfall, es ist die Verleumdung. Sie wissen es, denkt sie, IHR wisst es, wisst genau, dass wir es nicht mehr sind, geschieden. Tut so als wüsstet ihr es nicht, versetzt mich in diese Lage, setzt mich zurück, ein kleines Kind, dass nicht weià wie es sich noch verhalten, herausreden soll, dass die Lüge nicht mehr von Wahrheit zu unterscheiden weiÃ. Die Unverfrorenheit, niemals, dieses Haus fasst viele Personen, mehr als vermutlich anreisen werden. Was soll es also? Was bezweckst du damit? Warum nimmst du ihn mir weg?
Der letzte Gedanke erschrickt sie selbst, woher dieses "wieder"? Woher überhaupt all diese Nervosität, diese Gefühle? Verflucht, du warst seit Jahren nicht mehr hier, alles, es sollte dir alles egal sein. Weswegen bist du also hergekommen? Was bezweckst
du? Was nur, Emily, weswegen tust du dir das an? Bist du eigentlich nicht zu alt dafür, zu alt um in der Gunst deiner Eltern stehen zu wollen? Denn ist es das nicht? Gunst. Gunst und Stolz. Keine Liebe. Die erwartest du seltsamer Weise nicht. Ein flüchtiger Blick, das Streifen eines Augenpaares. Wenigstens dort, denkt sie, bei ihm. Und sie schicken ihn nach Hedelfield. Dreizehn Meilen. Eine Ewigkeit. Breiter als der Ozean.
To be continued.