Die schlichte BegrüÃungszeremonie im groÃen Salon war schnell vorbei gewesen, Gesichter, bekannt und unbekannt, angestaute Wichtigkeit, behagliche Selbstgefälligkeit. Danach hatte man sie alle auf die Zimmer geschickt. Natürlich nicht wie man kleine Kinder wegzuschicken pflegt, nein, eine höfliche Aufforderung die Strapazen der Reise abzustreifen, ein wenig zu ruhen ehe die Feierlichkeiten ihren Lauf vernehmen.
Die Hände sittsam gefaltet sitzt sie auf dem Bett, starrt auf die Wand ohne sie zu sehen, sieht sie genau. Das gelbe Zimmer. Seltsam, dass es immer noch diesen Namen trägt, obwohl die Wände mittlerweile in zartem Rosé erstrahlen. Eine Nachlässigkeit ihrer Mutter? Schlichte Nostalgie? Sie weià es nicht, eigentlich ist es nicht von belang. Aber besser sich mit dieser Frage zu beschäftigen, denn mit einer anderen. Du bist zuhause, wieder, nach all den Jahren, schieÃt es ihr durch den Kopf. Dabei war es nie dein Zuhause. Nicht das was du als Zuhause empfunden hast. Zuhause ist in Richards Armen, zuhause ist Lorelai auf deinem SchoÃ. Sie lacht leise in das leere Zimmer hinein. Lorelai auf ihrem SchoÃ. Es ist Jahre her, seit Lorelai das letzte Mal auf ihrem Schoà saÃ. DreiÃig müssen es mindestens sein, sie weià es nicht genau, kann nicht mehr genau sagen, wann es anfing, wann wirklich alles was sie tat oder sagte ihrer Tochter als unzulänglich und falsch erschien. Aber es fing an, irgendwann zwischen gestern und heute war es passiert, sie war plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt in Lorelais Leben gewesen, plötzlich war sie ihrer Tochter nicht mehr als perfekt erschienen. Es passiert nun Mal, sie ist erwachsen geworden. Aber muss sie dich deswegen hassen? Muss sie dich dafür hassen, dass du nicht perfekt bist?
Abrupt steht sie auf, beginnt durch das Zimmer zu wandern, erheischt hin und wieder einen Blick auf die laut tickende Uhr an der Wand. Wieso tickt sie, macht sie Geräusche, wenn die Zeit doch nicht, oder wenn dann langsamer als üblich vergeht? Sie passt ihre Schritte dem gleichmäÃigen Geräusch an, lässt ihre Absätze im Takt des monotonen Tickens auf das Parkett treffen, ein albernes Spiel, das die Zeit auch nicht zu verkürzen weiÃ. Ein simpler Gedanke, der ihr nach endlosen Minuten durch den Kopf schieÃt. Die Erkenntnis, dass niemand sie zwingt bis zum Dinner alleine in diesem Zimmer zu bleiben.
Sie stürmt nahezu hinaus, passiert die blank polierten Türen des Flurs, widersteht der Versuchung an ihrem Kinderzimmer halt zu machen, zu sehen wie es wohl aussieht, es hieÃe Lorelai und Rory zu stören. Sie würde vermutlich tatsächlich stören, wäre vermutlich tatsächlich ein Störenfried in dem Raum, in dem sie Jahre ihres Lebens verbracht hat.
Dieser Gedanke lässt sie ihren Schritt verschnellern, sie gleitet die Treppe hinab, das kühle Holz des Geländers unter ihrer Hand, dasselbe Gefühl wie vor vierzig Jahren. Ebenso wie der Weg den sie geht, unbewusst steuert sie ihn an, durchquert die scheinbar endlose Aneinanderreihung verschiedener Türen mit wissender Präzision, ehe sie sich für eine von ihnen entscheidet. Sie öffnet sie, schlieÃt sie hinter sich, lehnt sich mit geschlossenen Augen gegen sie. Das einzige Zimmer, dessen Geruch sie mit einem Gefühl der Wärme umspielt. Papier und Staub, Wörter und Buchstaben. Sie öffnet die Augen wieder und ein unwillkürliches Lächeln umspielt ihre Mundwinkel als sie die unfassbar groÃe Masse an Büchern vor sich sieht. Regale voll von ihnen, dicht an dicht stehen sie dort, Werke voller Geschichten und Geschichte. Die meisten kennt sie, sie hat früher viel Zeit hier verbracht, sich heimlich auf einen der wertvollen Stühle gestellt, die âverbotenenâ Bücher aus den obersten Regalreihen geangelt, dort auÃerhalb der Reichweite von Kindern platziert. Steinbeck und Miller, der Wendekreis des Krebse, Sexus und Plexus. Sie hat sie alle gelesen, die Buchstaben in sich aufgesaugt, war gebannt von den Welten, die sich ihr offenbarten, aufregend und verrucht. Eine Flucht war es, damals war es ihr vielleicht nicht bewusst, aber es war eine Flucht vor diesem Ort, diesem Leben. (Sie flüchtete sich in die Arme eines Arthur Miller, ihre Tochter in die Christophers.)
Ein Leben, das von dem Tag ihrer Geburt an vorbestimmt war, einem Mann zur Heirat versprochen vom ersten Atemzug an. Eine Erziehung darauf ausgerichtet diese Ehefrau zu sein. (Sie hat es nicht getan, hat ihrer Tochter nicht dasselbe angetan. Hat sie es?) Erzogen nur für diese Welt, eine Welt, die eigentlich schon lange keine Daseinsberechtigung mehr hat und dennoch wie durch Zauberhand existiert.
Von der Minute an, in der sie wieder den ersten Fuà über die Schwelle ihres Elternhauses gesetzt hatte, waren sie wieder hier, unsichtbaren Fesseln der Konvention, die sich um sie gelegt haben, ihr die Luft, die Individualität abschnüren.
Sie weiÃ, dass sie sie nie gänzlich abgeschnitten hat, sie lediglich für kurze Zeit wirklich abstreifte, freiwillig stets eine lockere Bindung zu ihnen aufrechterhielt.
Es erschreckt sie, ihre ältere Schwester zu sehen, ein Ebenbilde ihrer Mutter in Haltung und Geist. Es überrascht sie, dass sie dabei nicht einmal unglücklich wirkt. Im Gegenteil, zufrieden sieht sie aus, zufrieden und satt.
Sie fragt sich, ob Martha nicht auch heimlich von mehr geträumt hat. Fragen kann sie sie nicht. Es ziemt sich nicht, es würde bedeuten, dass sie ihre eigene Entscheidung in Frage stellt. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie eines der letzten Male hier war. Wie ihr Vater sie in sein Arbeitszimmer rief, hinter seinem Schreibtisch thronte, einer der letzten wahren Patriarchen.
âEmilyâ, leitete er das Gespräch ein. âDu bist langsam in einem Alter, in dem wir ernsthaft über deine Zukunft sprechen müssen. Ich hatte ein langes Gespräch mit Jonathan Brown und wir sind übereingekommen, dass eine Verbindung zwischen dir und seinem ältesten Sohn mehr als wünschenswert erscheintâ, er erwähnte nicht, dass sie Jahre zurückliegt, ihre erste Unterhaltung bezüglich dieses Entschlusses, des Beschlusses ihre Kinder miteinander zu vermählen. Zwar war nicht Emily die ursprünglich gewählte Braut, aber sie war momentan nun einmal die einzig verbleibende seiner Töchter im heiratsfähigen Alter â und ihre glücklicherweise ausgeprägten optischen Reize würden James Browning sicherlich darüber hinweghelfen, ihre charakterlichen Schwächen, allen voran diese vermaledeite Weichheit hinzunehmen. âAuch James ist nicht abgeneigtâ, fuhr er fort. âKein Wunder, schlieÃlich bist du eine recht ansehnliche junge Dame mit den besten Referenzenâ, er beugte sich nach vorne, faltete die Hände und lächelte ihr Wohlwollend zu. âDaher freut es mich dir mitteilen zu können, dass James beim nächsten Schwarz-WeiÃ-Ball um deine Hand anhalten wirdâ, das Lächeln hatte sich beinahe zu einem Lachen verbreitet. âHerzlichen Glückwunsch, Emily.â
Herzlichen Glückwunsch. Sie weià nicht mehr, ob sie es zu diesem Zeitpunkt auch schon als eine Farce empfand. Nein, erinnert sie sich, das hast du nicht, du hast gelächelt und die Glückwünsche dankend angenommen. Erst am Abend des Balles, der Augenblick in dem deine Lippen ein Ja hätten formen sollen, dieser Moment war es, dieser furchtbare Augenblick, in dem du alles zerstört hast. In dem du beinahe dein eigenes Leben zerstört hast.
Heute weià sie, dass sie Glück hatte. Unendlich viel Glück, eine Spur von Skrupellosigkeit darin. Hätte sie Martha nicht dazu gebracht ihr unter die Arme zu greifen, sie weià nicht wie sie es geschafft hätte. Du hättest das tun können, womit du gedroht hast. Du hättest auch schlichtweg das tun können, was andere tun. Du hättest arbeiten können. Doch dafür warst du zu Stolz. Zu Stolz und dennoch hast du nichts daraus gelernt.
Vorsichtig fährt sie mit dem Finger die ledernen Buchreihen entlang, die Kerben der aufgedruckten Buchstaben kitzeln auf ihren Fingerkuppen. Der Geruch von Papier und Leder, dieses spezielle Aroma das Bücher verströmen, intensiviert sich, erfüllt ihre Lungen. Sie hält inne, zieht eine schmale Ausgabe eines alten Gedichtbandes hervor und schlägt sie lächelnd auf, findet sofort die Seite, die sie vor Jahren mit einem schwachen Knick gekennzeichnet hat.
Far I dipt into the Future
Far as human eye could see
Saw the vision of the world
And all the wonder that would be
Alfred Lord Tennyon, sie klappt das Buch zu, stellt es wieder an seinen angestammten Platz, stellt erstaunt fest, dass sie nicht mehr alleine hier ist.
Einen kurzen Moment stockt ihr der Atem. Es ist zuviel, denkt sie, einfach zuviel. Zu viele Dinge an denen sie nie wieder rühren wollte und jetzt unvermittelt damit konfrontiert wird. Vor allem nicht mit ihm.
Sie versteift sich, geht schnellen Schrittes an ihm vorbei, keine Sekunde, nicht eine halbe will sie länger als notwendig mit ihm verbringen.
âEmilyâ, hält er sie auf, sie weià selbst nicht warum, aber sie bleibt stehen. Bleibt stehen und verschränkt die Arme, starrt auf die Uhr.
âWas?â, erwidert sie ungehalten.
âIch bitte dichâ, setzt er an. Seine Stimme klingt freundlich und sanft. âSei nicht so unvernünftig. Du wirst mich in den nächsten Tagen schlechterdings ignorieren können.â
âUnd ob ich das kann. Und wie ich es tun werde.â
âEs ist Jahre her, Emily. Bitte, lass es uns einfach vergessen. Ich habe es schon lange vergessen, vergeben und vergessen.â
âVergeben?â, ruft sie laut aus. âVergeben?â, wiederholt sie mit schriller Stimme. âWas gibt es denn, was du mir vergeben könntest?â
âAls Mann Gottes steht es mit durchaus zu Vergebung auszusprechen.â
âAls Mann Gottesâ, ein abfälliges Zischen. âAls âMann Gottesâ wäre es deine Aufgabe gewesen, mir zu helfen.â
âIch habe dir angemessene Hilfe angebotenâ, erwidert er sonor, voll Ãberzeugung.
âDu hast mir angeboten alles unter den Teppich zu kehren. Du hast mir angeboten, in einem dieser bescheuerten Häuser für gefallene Mädchen wieder zu mir zu finden und mein Kind heimlich zur Welt zu bringen. Du hast mir angeboten, es in einer ehrbaren Familie unterzubringen. Gott, Elliot, das war bestimmt nicht die Hilfe, die ich gebraucht habe.â
âWas hätte ich denn sonst tun sollen, Emily?â
âMir sagen, dass ich es schaffen werde, dass alles gut wirdâ, sie sieht ihn an, blickt ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. âIrgendwieâ, fügt sie leise hinzu. âIch bin Priester, Emilyâ, erklärt er. âDir hätte doch wohl klar sein müssen, dass ich es â ungeachtet der Tatsache, dass du meine Schwester bist â niemals gutheiÃen werde, dass eine unverheiratete Frau sich dem Laster hingibt, ein Kind in Sünde gezeugt. Wie hätte ich dich da aufnehmen können?â âWie hast du es nicht tun können?â, schleudert sie ihm entgegen. âIch war am Ende.â
âDu warst schwanger!â
âVon meinem Mann.â
âDem Mann, den du erst fünf Jahre später geheiratet hast. Nein, Emily, verdreh hier nicht die Tatsachen. Was glaubst du wohl wie es für Vater und Mutter war, als sie von diesem Fehltritt erfahren haben? Wie es für mich war? Meine Schwester, die ungeniert Promiskuität betreibt!â
âPromiskuität? Promiskui â Oh, du bist wirklich das Letzte!â
âEmily!â, maÃregelt er sie mit sichtlichem Entsetzen, doch sie hat sich schon abgewendet, verlässt die Bibliothek mit wütender Eile, einem lauten Knallen der Tür.
To be continued.