Die Arme fest um ihren Körper geschlungen starrt sie aus dem Rückspiegel, beobachtet wie ihr Elternhaus im Seitenspiegel des Wagens immer kleiner und kleiner wird, es schlieÃlich gänzlich verschwindet. Es verschwindet und sie unwillkürlich leise aufschluchzt, sich auf die Zunge beiÃt, um sich abzulenken, der metallische Geschmack von Blut ihren Mund erfüllt, die Tränen dennoch ihre Wangen hinunterflieÃen. Sie dreht ihren Kopf noch weiter zur Seite, presst die Lippen fest aufeinander, Salz und Blut, Richards Hand der die ihre drückt, es so nur noch schlimmer macht.
âHalt an, halt bitte anâ, würgt sie hervor und er kommt ihrer Aufforderung nach, verlangsamt den Wagen und noch ehe er zum Stehen gekommen ist, zerrt sie an ihrem Gurt, öffnet ihn und springt hinaus. Sie rennt ein paar Schritte in die Dunkelheit, ignoriert die Stimme ihres Mannes, die halb wütend, halb besorgt ihren Namen ruft, sie aufzuhalten versucht, spürt das hohe, feuchte Gras an ihren Knöcheln, ein Ast der ihr ins Gesicht peitscht. Sie greift nach ihm, zerrt an dem biegsamen Stück Holz, den Blättern, bis es schlieÃlich mit einem leisen Knirschen nachgibt, sie blind auf den Stamm des Baumes einschlägt, bis sich eine feste Hand um ihr Handgelenk schlieÃt.
âEs ist nicht fairâ, keucht sie, ihr Atem geht schwer, der Kraftaufwand hat sie erschöpft. âEs ist nicht fairâ, wiederholt sie dennoch, schluchzt auf, tut es dieses Mal laut, ringt mit Tränen in der Lunge nach Luft, ein Hustenanfall, während Richard sie festhält, verhindert, dass sie auf den feuchten und kalten Boden sinkt. âEs ist nicht fairâ, murmelt sie an seinen Kragen und lässt sich widerstandslos von ihm zum Wagen zurückführen. Er drückt sie auf den Beifahrersitz, schlieÃt den Gurt um sie.
âEmilyâ, sagt er, geht dabei in die Knie, drückt das ihre. âBitte, Emilyâ, und sie versteht, holt tief Luft und nickt.
âLass uns fahrenâ, erklärt sie, versucht ihre Stimme dabei so gefasst wie möglich klingen zu lassen und Richard richtet sich wieder auf, schlieÃt vorsichtig die Tür, geht um den Wagen herum.
Lorelai, die die Szene stumm beobachtet hat, wartet bis ihr Vater sie passiert hat, ehe auch sie wieder einsteigt, auch den Rest der Fahrt schweigend da sitzt, in Gedanken leise vor sich hinsummt, um das Weinen ihrer Mutter nicht hören zu müssen.
Sobald sie im Hotel sind, sobald Richard Emily wie ein kleines Kind ins Bett gebracht hat, wartete bis sie irgendwann einschlief, weià er, dass er das Schweigen nicht länger aufrecht erhalten kann. Er geht zur Mini-Bar, schenkt zwei Whiskey ein, reicht einen davon seiner Tochter, deutet ihr mit dem Kinn, ihm auf den Balkon zu folgen. Sie kommt der Aufforderung nach, leert ihr groÃzügig gefülltes Glas auf dem Weg nach drauÃen schon zur Hälfte.
Richard schlieÃt die Balkontür hinter ihnen und setzt sich auf einen der nackten Gartenstühle.
âIch wusste das nichtâ, erklärt er und sie glaubt ihm.
âIch weiÃ, Dadâ, sagt sie also, kann sich nicht anders helfen, ein Lächeln umspielt dabei ihre Lippen.
âSie hat mir nie davon erzähltâ, fährt er fort, sieht seine Tochter hilfesuchend an. âWarum hat sie mir nie davon erzählt, Lorelai? Wie konnte sie das all die Jahre nur für sich behalten?â
Seine Tochter setzt sich ihm gegenüber, schüttelt sanft den Kopf. âWeiÃt du Dadâ, sie schluckt, ein weiterer Schluck Whiskey, um ihren trockenen Gaumen zu befeuchten. âWenn, Momâ¦â, ein Räuspern. âWenn meine Mutter so etwas getan hätte, ich hätte mit niemandem darüber sprechen können. Niemals.â
âNicht einmal mit deinem Ehemann?â
âGerade nicht mit ihm. Er würde nur, es würde alles nur noch schlimmer machen. Ich, ich würde es vergessen. Ich hätte alles daran gesetzt es zu vergessen. So wie man schlechte Filme besser vergisst. Man streicht sie aus seinem Gedächtnis und dann, ganz plötzlich, beim Zappen stolpert man über einen Wiederholung von ihnen. Und obwohl man genau weiÃ, dass es furchtbar sein wird, sieht man ihn sich an.â Sie weià selbst nicht genau, was damit eigentlich sagen will, aber auf eine seltsame Art und Weise zeigen ihre Worte Wirkung bei Richard und er gewinnt innerlich und äuÃerlich an Haltung.
âDu solltest nach Hause fahren, Lorelai. Du und Rory, fahrt nach Hause.â
âUnd was ist mit Mom? Was ist mit dir?â, wendet sie ein.
âIch werde mir frei nehmen, bis es ihr wieder besser gehtâ, er ahnt, dass sie gleich noch etwas einwenden wird und beeilt sich ihr zuvorzukommen. âLorelai, ich weiÃ, dass dich diese Sache ebenso betrifft. Aber ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn du meiner Bitte nachkommst. Ich würde gerne allein mit ihr sein. Bitte.â
Sie leert ihr Glas und lehnt sich zurück, hängt ihren Gedanken nach, steht schlieÃlich abrupt auf. âAber du rufst an, ja?â, fordert sie ihn auf, ringt sich ein wie sie hofft ermunterndes Lächeln ab.
âDas werde ich tunâ, bestätigt er und steht ebenfalls auf. Für einen Moment fühlt er sich versucht seine Tochter zu umarmen, vielleicht denkt sie auch dasselbe, denn keiner rührt sich, Stillstand bis Lorelai ihm schlieÃlich auf die Schulter klopft.
âHaltung, Gilmoreâ, sagt sie, ein letztes Lächeln, dann verschwindet sie im Hotelzimmer. Er, er wartet einen Moment, steht etwas verloren da, bewegungslos bis ihm auffällt wie kalt es doch hier drauÃen ist.
***
Sie haben nicht darüber gesprochen, werden es im Moment auch nicht tun, ein stilles Abkommen zu warten. Zu warten bis Emily wieder wohlauf ist. Denn obwohl sie es vermutlich nie zugeben würde â und das obwohl ihr Verhalten sie ohnehin Lügen gestraft hätte - hat der Streit mit ihrer Mutter sie tiefer getroffen als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Nicht nur seelisch hat er sie angegriffen, sondern auch körperlich, das Fieber stieg in derselben Nacht wieder, die Hustenkrämpfe mehrten sich, vermengten sich mit den hilflosen Weinkrämpfen, welche sie, so sehr sie sie auch verabscheute, nicht abstellen konnte. Im Bett lag, den Kopf auf Richards Brust, seine Hand beschwichtigend auf ihrem Rücken, nach Atem rang, einfach nur wollte, dass es aufhört. Das es niemals geschehen wäre. Ein Zufall, dass sie es damals überhaupt herausfand, herausfand, dass die frühzeitig einsetzenden Wehen, ihre Heftigkeit, keineswegs eine Laune der Natur gewesen waren, sondern forciert durch menschliche Hand. Sorgsam dosierte Mengen von Oxytozin in ihrem Tee, eine sorgsam geplante Abtreibung der anderen Art. Dennoch hatte sie die Zusammenhänge erst drei Jahre nach Lorelais Geburt erkannt, sie verknüpft, verwebt zu einem klaren Bild. Ein dummer Zufall, sonst hätte sie es vermutlich niemals bemerkt, William Farnsworths Vorliebe für chemische Spielereien, das Labor, das er immer voller Stolz präsentiert hatte, es vermutlich noch immer tat. Den Geruch der klaren Flüssigkeit in der Nase, musste sie nicht einmal Williams Erläuterungen lauschen, um zu wissen, was sie bewirkte. Schlug es dennoch in der Bibliothek nach und fand sich bestätigt. Es dauerte eine Weile bis sie Clara ausfindig machen konnte, kostete sie einiges an Worten und Dollarnoten das Mädchen zum Reden zu bringen. Kostete sie letztendlich die letzte Ãberwindung William Farnsworths Heiratsantrag anzunehmen. Das bisschen Freiheit und Richard für die Sicherheit einer Familie aufzugeben, es aus einer entsetzlichen Angst vor ihrer eigenen Familie heraus tut. Nicht das sie glaubte etwas Derartiges würde sich wiederholen, nein, die Gelegenheit war verschenkt worden, ein unendliches Glück. Glück, das sie dennoch nie wieder und für nichts strapazieren wollte. Ohnehin kam es ihr in den nächsten Monaten, späteren Jahren ihres Lebens oft so vor als hätte sie in der Nacht von Lorelais Geburt ihr gesamtes Glück auf einmal verschenkt.
Vielleicht nicht mehr, erinnert sie sich in diesen Tagen. Eine Welle der Sicherheit und Geborgenheit, beinahe des Glücks, wann immer sie aus ihren Träumen aufschreckt und Richard da ist, ihr durchs Haar fährt, über die Wange. Nicht einmal etwas sagen muss, um sie zu trösten, seine Präsenz genügt ihr vollauf, Sonnenlicht und Photosynthese.
Er ist einfach nur froh, froh darüber, dass sie bei ihm ist, es beinahe alles so wie früher scheint, auch wenn er sich damals nur selten die Zeit nehmen konnte tatsächlich Tag und Nacht bei ihr zu sein, wenn sie krank war. Es nicht einmal bei ihrem Zusammenbruch nach Lorelais Verschwinden tun konnte. Aber jetzt tut er es und er genieÃt es, genieÃt es mit jedem Tag an dem es ihr besser geht mehr. Stellt erleichtert fest, dass die Küsse wieder länger werden, ebenso wie ihr Lächeln immer länger auf ihrem Gesicht verweilt. Auch kehrt die Sturheit zurück, immer öfter muss er sie förmlich zurück in die Laken drücken, ihr die Idee eines Spaziergangs und sei er auch noch so kurz ausreden, bis er es schlieÃlich aufgibt, nachgibt. Sie jetzt hin und wieder aufmerksam betrachtet, während sie schweigend neben ihm hergeht, ihren Arm in den seinen gehakt, die frische Herbstluft nahezu gierig einsaugt.
âIch denke wir sollten langsam zurückâ, mahnt er sie irgendwann sanft.
âNur noch fünf Minutenâ, erwidert sie mit einem Lächeln, deutet gleichzeitig mit dem Kinn auf eine Bank. âLass uns noch fünf Minuten hier drauÃen sitzen, bitte.â
Er wägt seine Optionen kurz ab, entscheidet sich schlieÃlich für diejenige, die nicht in einer Diskussion enden wird und nickt zustimmend. âAber keine Minute längerâ, fügt er brummend hinzu, setzt sich neben sie, stellt mit Verwunderung fest, dass sie ihren Kopf auf seine Schulter legt, eine Geste der Vertrautheit, die sie sich normalerweise niemals in der Ãffentlichkeit gestatten würde. Aber vielleicht denkt er, vielleicht haben die letzten Tage einen nachhaltigeren Einfluss auf uns alle, als wir ihnen zumuten würden. Auf Lorelai hatten sie ihn sicherlich, er konnte es in ihren Augen sehen, eine Wut und Entschlossenheit, die er seit Jahren nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Sie nicht gesehen hatte, wenn sie nicht gegen ihn und seine Frau gerichtet gewesen waren. Doch die Energie hatte Louise Johnson gehört, dem Bestreben Emily aus diesem Haus zu schaffen, ihre GroÃmutter aus ihrer Leben zu verscheuchen auch wenn sie darin kaum zwei Tage Platz gefunden hatte.
âRichard?â, schrickt sie ihn aus seinen Gedanken. âIch befürchte, wenn ich hier noch länger sitze, dann werde ich einschlafen. Der Spaziergang hat mich doch mehr angestrengt als ich dachte.â
âDas wüsste ich zu verhindern, Emâ, entgegnet er, streicht ihr über die Wange und küsst sie zärtlich ehe er ihr aufhilft, sie sich durch das bunte Herbstlaub ihren Weg zurück in das Hotel bahnen.
Angekommen macht sie sich nicht einmal die Mühe ihrem Mantel auszuziehen, lässt sich sofort auf das Bett fallen, wirft Richard einen liebevollen Blick zu.
âSoll ich dir einen Tee bestellen?â, erkundigt er sich und sie schüttelt den Kopf, richtet sich unter leichter Anstrengung wieder auf, schlüpft aus dem Mantel. âNein, dankeâ, erklärt sie, legt den Mantel in seine ausgestreckte Hand und er verstaut ihn im Schrank, spürt dabei die ganze Zeit ihren Blick auf seinem Rücken.
âDankeâ, sagt sie noch einmal, auch wenn es dieses Mal nicht dem ausgeschlagenen Angebot einer Tasse Tee gilt.
âDu hättest dasselbe getanâ, antwortet er mit einem Schulterzucken, setzt sich auf den Bettrand. Sie erwidert nichts, bedenkt ihn mit einem eindringlichen Blick, legt sich dann hin, zieht die Decke von seiner Bettseite recht schlampig über ihren bekleideten Körper, ein Manko, dass er mit beinahe väterlicher Gewissenhaftigkeit ausgleicht und die Decke ordentlich um sie herum feststeckt, sich nach getaner Arbeit zu ihr hinabbeugt, ihr einen Kuss auf die Stirn drückt.
âSchlaf gut, Lieblingâ, sagt er. âSchlieÃlich wird es langsam an der Zeit, dass du wieder gesund wirst, wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr auf diese unglaublich unanständige anzügliche Art und Weise geküsstâ, ein Zwinkern, ein leises Lachen Emilys.
âIch kann mich nicht daran erinnern, dass du mich jemals auf anzügliche Weise geküsst hättest, Richardâ, murmelt sie.
âAch Nein?â
âMmmhâ, verneint sie mit funkelnden Augen.
âVermutlich gibt es dann doch noch etwas, woran ich arbeiten muss.â
âIch will nicht, dass du daran arbeitestâ, widerspricht sie ihm sanft. âIch mag es wie du mich küsst.â
âIn Ordnungâ, streicht er ihr eine Strähne aus der Stirn, räuspert sich kurz darauf mit gespielter Grüblerei. âIn all den Jahren, Em, all diese tausende und abertausende Küsse und es gab wirklich keinen einzigen, der dir auch nur annährend anzüglich erschien?â
âIch liebe dich, Richardâ, entgegnet sie mit einem Murmeln, schläft ein, warm und sicher.
To be continued.