Reichlich angeödet schlendert er durch das prunkvolle Foyer des Konzerthauses. Pause. Gott sei dank, die Hälfte hat er wenigstens hinter sich gebracht. Wie um alles in der Welt kann jemand dieses Gegeige und Gezupfe als wohltuend empfinden, es als die einzig wahre Art von Musik bezeichnen? Die Musik toter Männer, vermutlich schon halb hinüber, als sie diesen Mist verzapften, genauso wie die meisten Zuhörer hier. Er lässt seinen Blick schweifen, Mr. und Mrs. Parker, sehr angenehm sie wiederzusehen, ein Lächeln, ein Nicken. Und dort, der gute alte Jamie Fox, ein guter Kunde, seine Supermarktketten sind ein groÃartiger Abnahmeplatz für seine Produkte. Margrete Howards ist auch hier, die alte Jungfer, rührend wie sie sich an den Gedanken klammert, eines Tages doch noch einen Mann abzubekommen.
Eleonor Richfiled, Stephen Bennings, sein dummer Bruder Earl. Mr. Cleaver mitsamt Gattin und Töchtern, vielleicht sollte man ihnen mitteilen, dass Schönheitsoperationen mittlerweile ein sicherer Weg sind, wenigsten halbwegs ansehnlich zu werden. Und Sport, etwas Sport könnte ihnen auch nicht schaden, als Babyspeck kann das niemand mehr bezeichnen.
Mark Hellström ist hier, grinst zufrieden, kein Wunder, er ist halb taub, muss sich diesen Müll nicht anhören. Karl Gutsman, Helen Roberts, Olivia Graham, Eric Walken, Sophie Rice, er kennt sie alle. Nein, sie nicht, hat dieses Gesicht noch nie gesehen. Kein Wunder, sie ist noch jung, höchstens Fünfzehn, vielleicht schon Sechzehn, noch voller Energie, hat sie sich in der Gesellschaft dieses versnobten Packs bewahrt. Hat sich noch nicht angepaÃt, wehrt sich vermutlich noch dagegen, wird es eines Tages trotzdem tun. Sie sind Blutsauger, saugen einem alles aus, ehe man bis drei zählen kann. Er hat sich nie daran gewöhnt. Natürlich, als er es endlich geschafft hatte, war er noch berauscht gewesen von all den Frauen. Jede erschien ihm damals als etwas besonderes, ihre Körper in teure Stoffe gehüllt und mit teuren Substanzen parfümiert. Die Herren, einer wichtiger als der andere, Macht verströmend mit jeder Pore. Igitt, wie es ihn heute anwidert. Diese Eingenommenheit von der eigenen Wichtigkeit. Langweilig seid ihr, hätte er am liebsten jedesmal geschrien. Habt alles Geld der Welt um zu leben, euch zu amüsieren und dennoch tut ihr es nicht. Die vollen Münder der eleganten Weiber, zum Küssen sollten sie gemacht sein und nicht zum Austausch von Gerüchten, billiger Klatsch wie ihn jede ordinäre Hausfrau von sich gibt.
Die Männer, ständig jonglieren sie mit Zahlen um sich, dabei sind sie nicht mehr als kleine Kinder. Anstelle von Pfeil und Bogen schieÃen sie mit Klagen aufeinander, die Robin-Hood-Spiele der Erwachsenenwelt, sie kotzen ihn an.
Er hält inne, unterbricht seinen Gedankengang, das Blut gefriert in seinen Adern, ein Faustschlag in der Magengegend, er hätte es wissen müssen, hätte doch sehen müssen â sie spricht mit dem Mädchen, redet behende auf sie ein. Er ist zu weit weg, kann nicht hören, was sie sagt, errät, dass sie es mit gedämpfter Stimme tut. Er lässt seinen Blick über sie gleiten, ihr Gesicht, ihr Haar, das Dekoltee, das dezent verrät, was der fliederfarbene Stoff ihres Kleides verbirgt. Ihr Anblick jagt einen Schauer durch ihn hindurch, niemand auÃer ihr hat eine derartige Wirkung auf ihn. Niemand sonst schafft es, so nahe an ihn heranzukommen, eine Welle des Hasses, der Liebe, der Erregung durch ihn schwappen zu lassen, ihn hilflos zu machen und dabei nicht einmal ein Wort sagen zu müssen.
Die Kleine, das Mädchen, ihre Tochter, Lorelai, er mustert sie jetzt genauer, eine Bestandsaufnahme der besonderen Art, er hat sie nicht mehr gesehen seit sie ein kleines Mädchen war. Die Brüste, ein wenig zu flach für seinen Geschmack, aber nicht unansehnlich an ihrem groÃen, schlanken Körper. Die Augen â die ihres Vaters. Zugegeben, in einem weiblichen Gesicht machten sie sich ganz gut. Der Stolz der sich in ihnen spiegelt, ein Erbe beider. Seltsam wie sich Arroganz und Eitelkeit vererben, als wären es physische Merkmale. Sie war schon ein hübsches Kind, jetzt ist klar, dass sie zu einer umwerfenden Frau werden wird, vielleicht ebenso atemberaubend wie ihre Mutter â aber wer könnte Emily schon gerecht werden, wenn nicht die eigene Tochter?
Eine Schande ist es, denkt er sich erneut. Da verschwendet man Jahre, um alles für dich zu erreichen und du verschwendest deine Schönheit. Weg ist sie, nichts mehr davon übrig! Wie grausam. Die Falten, sie rühren jedenfalls nicht vom Lachen her. Oh, sieh dich an, alles was dir geblieben ist, ist dein Stolz â und auch er ist wertlos geworden. Verblüht vor deiner Zeit, Emily. Eine Lilie getränkt in Ãther. Du hättest nur ein wenig Geduld haben müssen. Jetzt ist es zu spät, du hast dein Leben verschenkt. Dennoch, je länger er sie betrachtet, desto schöner kommt sie ihm vor, vielleicht ist noch nicht alles verloren. Vielleicht, wer weiÃ, wird sie eines Tages doch noch ihm gehören, wird er endlich das tun können, wovon er schon so lange träumt, auch heute noch, so viele Jahre später, schleicht sie sich in seine Träume, ein verheiÃungsvolles Versprechen ohne Aussicht auf Einlösung, Erlösung.
Fünf Minuten nur, denkt er, gib mir fünf Minuten, nur einen winzigen Augenblick, hier und jetzt, lass mich dich endlich berühren, mich in dich schieben, dich so nehmen, wie du es verdienst, dich in bedingungslose Ekstase versetzen, auch mir Erleichterung verschaffen. Er hält es kaum noch aus, ist endgültig erregt und hart, giert nach ihr und wird sich doch eine andere nehmen müssen, sich lediglich vorstellen können, dass sie es ist, die sich ihm hingibt, der er sich hingibt.
Er schiebt sich in Richtung Ausgang, hält es keine Sekunde mehr aus in diesem Raum, wirft ihr einen letzten Blick zu, spürt einen weiteren Stich in seinem Herz. Wieso tust du das, fragt er sie stumm, kann seinen Blick nicht abwenden, ist erstaunt über das Lächeln, das sie ihrem Mann zuwirft, als käme plötzlich Leben in ihr Gesicht. Richard Gilmores Hand ruht sanft auf ihrem Arm, am liebsten würde er sie weg schlagen, ihm sagen, er solle seine Finger von ihr lassen, warum sagt sie es ihm nicht selbst? Gott, Emily, dieser Kerl hat dich zugrunde gerichtet und trotzdem schürst du für ihn das Feuer in deinen Augen. Warum für ihn und nicht für mich? Es brodelt in ihm, er beschleunigt seinen Schritt, tritt erleichtert an die frische Luft, stolpert beinahe über Lorelai, die auf den steinernen Stufen sitzt, stutzt einen kurzen Augenblick, lächelt schlieÃlich. âEs tut mir wirklich ausgesprochen leidâ, entschuldigt er sich mit einer leichten Verbeugung, überlegt kurz, fährt mit einem Gefühl des Triumphes fort. âAber bei dem Versuch dieser gräÃlichen Veranstaltung zu entrinnen, habe ich sie leider übersehen.â
âOhne tatkräftige Unterstützung meines kleinen Freundes hierâ, sie tätschelt den silbernen Flachmann in ihrer Hand, âWürde ich es vermutlich auch keine Sekunde länger aushalten.â Sie lächelt ihn an, schüttelt den Kopf, sieht ihn beinahe herausfordernd an. Sie gefällt ihm immer mehr, ihr Blick, voller Feuer und Leben, funkelnd wie zwei Sterne. Aber es ist noch etwas in diesen Augen. (Gott sei verflucht, weshalb können es nicht die ihrer Mutter sein? Dieses Blau ist nahezu stechend!) Langeweile liegt darin verborgen. So ist das also, meine Liebe. Sie langweilt sich, hervorragend geeignet für seine Zwecke. Seine Zwecke? Nein, er schmunzelt. Momentan ist er sich noch im Unklaren darüber, was er überhaupt bezwecken will. Rache ist so ein perfides Wort, so kalt und schmutzig. Etwas eleganter soll es sein, so wie sie, wie Emily. Emily. Die Art und Weise in der sie mit Lorelai gesprochen hatte. Die Art und Weise in der sie Richard angesehen hatte. Ja, er weià was er zu tun hat. Und er wird es tun.
âVielen Dankâ, er nimmt den Flachmann, den sie ihm stumm angeboten hat, trinkt einen tiefen Schluck, gibt ihn ihr zurück. Sie scheint ihn zu mögen, natürlich, dass hat sie schon immer, warum sollte es sich also geändert haben? Er muss sich ein Lachen verkneifen, sieht ihr an, wie sie überlegt. Sich fragt, weshalb sie so nett zu diesem Fremden ist, ihn mag, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hat. Aber du hast, kleine Lorelai, du weiÃt es nur nicht mehr, es ist alles schon viel zu lange her, du hast vergessen, ich nicht, könnte es niemals. âDarf ich?â, er deutet auf den freien Platz neben ihr, sie nickt, einladend, fröhlich, völlig unbedarft.
To be continued