Lament
Träume sind etwas Seltsames. Sie lassen Dinge geschehen, von denen wir wissen, dass sie nicht möglich sind, entführen uns in fremde Welten und machen uns zu Helden, Monstern oder anderen fabelhaften Gestalten. Es gibt Tagträume, die häufiger vorkommen als man denken mag, meist wird man aus ihnen geweckt, die Folgen können fatal sein. Wesentlich harmloser hingegen sind die Träume in der Nacht, obwohl diese auch unangenehme Erinnerungen oder Ãngste hervorrufen können. Man kann sie nicht kontrollieren, wenn man es sich manchmal auch mehr als alles andere wünscht. Wenn die Personen schlieÃlich aus ihrem Schlaf erwachen, können sie sich meist nicht an ihre Träume erinnern, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen.
Manch einer behauptet, in Träumen die Zukunft sehen zu können, oft wird diesen Menschen allerdings kein Glauben geschenkt. Doch hier und da geschieht es, dass jemand tatsächlich diese Gabe besitzt, meist sind diese wenigen, auserwählten Leute so eingeschüchtert, beeindruckt von diesen Fähigkeiten, dass sie sie vor den anderen verschweigen.
In der Tat war Emily Gilmore einer dieser Menschen, die die Gabe der Vorhersehung besaÃen, und auch sie hatte niemandem je davon erzählt. Bis sie in ihren Träumen von einer Vision heimgesucht wurde, die ihr Leben für immer verändern würde…
„Sie wird gehen, Richard.“, zitternd lieà Emily ihre Tasse Kaffee sinken. Ihr Ehemann schien wenig interessiert an dieser Aussage zu sein, lieà jedoch trotz allem die Zeitung sinken und blickte ihr tief in die Augen. „Wie bitte?“
Emily nickte kaum merklich. „Lorelai…“, flüsterte sie. „Sie wird gehen… Ich… ich spüre es…“
„Was spürst du?“, kam es plötzlich von hinten. Erschrocken fuhr sie herum. Ihre Tochter stand vor ihr, sah sie fragend an. „Hattest du eine Vision von der Apokalypse, Kassandra, oder ist dein Kaffee zu heiÃ?“
Emily seufzte. „Lorelai…“, entgegnete sie. „Mit so etwas ist nicht zu spaÃen… Was machst du überhaupt noch hier, solltest du nicht längst in der Schule sein?“
Lorelai rollte mit den Augen. „Mom, heute ist Samstag… Und bekanntlich sind die von der Regierung in Connecticut inzwischen so menschenfreundlich, dass sie den Samstagsunterricht abgeschafft haben. Ist noch Kaffee da?“
Richard schüttelte den Kopf. „Du weiÃt genau, dass du keinen trinken darfst, Lorelai…“, murmelte er, doch seine Tochter zuckte nur mit den Schultern. „Na und? Ich wette, Mom hat sich in ihrer Schwangerschaft genau so wenig an Kaffeeverbote gehalten.“
Richard musste schmunzeln. „Und genau deswegen bist du in dieser Hinsicht genau so verdorben wie sie.“
„Nein…“, schweiÃgebadet schreckte Emily aus dem Schlaf hoch. Ihr Atem ging schnell und unregelmäÃig, schwach sank sie zurück in die Kissen. Sie hatte wieder geträumt. Es war genau wie damals… Sie wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Lorelai für immer gehen würde. Wie lange schon träumte sie immer nur denselben Traum... Am Anfang hatte sie alles nur verschwommen mitbekommen, wirre Bilder waren in ihrem Kopf aufgetaucht und so schnell wieder verschwunden, dass sie keine Chance hatte, sie einzuordnen. Doch von Nacht zu Nacht wurden sie klarer, fügten sich langsam zu einem Ganzen zusammen. Emily wusste, dass es keine Träume waren, nein, es waren Visionen, die eines Tages in Erfüllung gehen würden, auch wenn man noch so sehr versuchte, es zu verhindern. Es kam nicht oft vor, dass Emily im Schlaf etwas über ihre Zukunft erfuhr, ihr wurden lediglich Dinge gezeigt, die ihr Leben grundlegend verändern würden. Das letzte Mal hatte sie ihre Hochzeit mit Richard gesehen, davor den Tod ihrer Mutter. Sie hatte Angst zu träumen, gar zu schlafen, ihre Fähigkeiten waren ihr unheimlich. Niemand wusste von ihrer Gabe, - nein, ihrem Fluch - Emily hatte zu groÃe Furcht davor gehabt, jemandem jemals davon zu erzählen. Nicht einmal Richard ahnte, wie Recht sie mit ihrer Voraussage behalten würde. Ihre Tochter würde sie verlassen, früher als sie beide jemals gedacht hätten. Denn je deutlicher die Bilder wurden, desto näher rückte das Ereignis.
„Emily!“ Richards Stimme lieà sie mit einem Schlag hellwach werden. „Emily, komm schnell!“
Augenblicklich sprang Emily auf, ging schnellen Schrittes in Richtung von Lorelais Zimmer. Dort fand sie ihren Ehemann, auf dem Boden kauernd, mit tränenüberströmtem Gesicht. Er hielt Lorelais leblosen Körper fest im Arm, umklammerte zitternd ihr Handgelenk, um den schwächsten Ansatz ihres Pulses zu fühlen. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen kniete sich Emily zu ihm. „Was… was ist passiert?“, fragte sie kaum hörbar. Richard strich seiner Tochter zärtlich über die Stirn. „Sie ist tot, Emily…“