Riska
23.10.2005, 16:38
Ouvertüre
Alles beginnt. Irgendwie. Alles endet. Irgendwann.
Das Haus wurde 1907 erbaut, ein stattliches Gemäuer ist es. Groà und beeindruckend, wie der Name der Familie in dessen Besitz es ist. Die Gilmores. Zu wahrer GröÃe hätten sie es bringen können. Wahre GröÃen waren sie fürwahr. Zumindest bis Abbott Gilmore Mitte des 18. Jahrhunderts auf die glorreiche Idee kam die familieneigenen Textilfabriken zugunsten des Bank- genauer gesagt des Aktiengewerbes aufzugeben. Zugegeben, zu Anfang war es brillant. Man nannte Abbott ein wahres Genie. Er war ein wahres Genie, denn das Geld mehrte sich rasant. Leider verschwand es auch ebenso rasant. Es verschwand sogar mit exorbitanter Lichtgeschwindigkeit, manche Freitage sind nun Mal besonders schwarz. Und der 9. Mai 1873 nahm den Gilmores Prestige und Vermögen. Dank Abbotts angeheirateter Verwandtschaft blieb man zwar vor dem ganz tiefen Fall bewahrt, aber in den Olymp der amerikanischen Gesellschaft reichte es nie wieder. Egal wie sehr man sich anstrengt, gleich wie lange man schrubbt, Pech hat die dumme Eigenschaft über Jahrzehnte kleben zu bleiben. Aber es heiÃt auch Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Zweifelhaft. Leider. Meistens zumindest. Im Fall von Charles und Lorelai Gilmore sicherlich. Cousin und Cousine, ehelich vereint am 1. September 1939, der Tag an dem im fernen Europa die Deutschen in Polen einmarschierten. Sie war ihm zu starrsinnig, er war ihr zu weichlich, man war sich selten einig. Sehr einig war man sich allerdings über Talent und Intelligenz des einzigen gemeinsamen Sohnes Richard, dem Retter des Gilmorschen Geschlechts, sonst nur Töchter allerortens. Das er zudem am 23. Januar 1943, dem Tag an dem die Britischen Truppen Tripolis einnahmen, geboren wurde â ein himmlisches Zeichen. Dachte man. Denn wie gesagt, Pech ist eine äuÃerst hartnäckige Substanz. Und je stattlicher ein Gemäuer ist, umso leerer ist es, wenn man alleine darin sitzt. Sitzt und wartet. Auf die Ehefrau und auf das Ende von etwas, das niemals hätte anfangen sollen.
Sie schlieÃt die Tür hinter sich, ein Zug kühler Luft, der ihr das durchdringende Aroma von Zigarren und Parfum in die Nase treibt welches sich in ihrem Haar festgesetzt hat. Ein bleiernes Etwas in den Knochen, sie kann nicht sagen was es ist, jedenfalls hat sie das Gefühl sich langsamer als sonst zu bewegen. Und so bewegt sie sich, sei es langsam oder nicht, folgt den leisen Klängen des Plattenspielers. Macht auf ihrem Weg an der Bar halt, spült den süÃlich-bitteren Spermageschmack auf ihrem Gaumen mit einer groÃzügigen Dosis Scotch hinunter. Dann füllt sie ihr Glas erneut, folgt der Musik ins Arbeitszimmer ihres Mannes. Er sitzt auf der Couch, die Hemdsärmel aufgeschlagen, der aufgeknöpfte Kragen gibt den Blick auf seine behaarte Brust frei. Er blickt nicht auf, als die das Zimmer betritt, sondern starrt weiter in sein Glas, das mit Whiskey gefüllt ist. Sie schlüpft aus ihrem Nerz, legt ihn auf den Schreibtisch. AnschlieÃend öffnet sie ihre Handtasche und reicht ihm wortlos ein sorgsam gefaltetes Bündel aus Papieren.
Er studiert es aufmerksam und sie zündet sich eine Zigarette an, setzt sich neben ihn. Er erkennt die Handschrift, während sie ihre Schuhe abstreift, die Beine auf das Sofa zieht. Sie wartet geduldig bis er seine Lektüre beendet hat, nippt lediglich hin und wieder an ihrem Scotch und bläst den Rauch ihrer Zigarette in den Raum. Dabei erlaubt sie sich sogar die Spielerei blaue Kreise zu formen, die geräuschlos durch die Luft wabern bis sie in sich zusammenfallen.
âLass dasâ, murmelt er nach einer Weile unwirsch und blickt doch auf, beobachtet wie ihre Lippen provokativ einen weiteren Rauchkreis formen und ihn auf die Reise schicken, er in seinem Gesicht zerplatzt.
âIch habe Hungerâ, erklärt sie im selben Augenblick mit leichtem Trotz. âLass uns etwas Essen gehen.â
âLass uns etwas Essen gehen?â, wiederholt er ihre Worte verblüfft und steht auf, macht sich daran die Papiere sorgsam in einem der zahlreichen Aktenordner zu verstauen. âIst das alles, was du zu sagen hast?â, erkundigt er sich.
Sie zuckt mit den Schultern und lehnt sich nach vorne, um ihre Zigarette auszudrücken. âWas willst du denn hören?â, antwortet sie mit einer Gegenfrage, sieht ihm fest in die Augen und ein warmes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. âDu bist besserâ, sagt sie aus einer alten Manier heraus und er starrt sie mit offenem Mund an, Wut und Schmerz verzerren sein sonst so gelassenes, gutmütiges Gesicht. Sie steht auf und geht zu ihm, legt ihre Arme um seine Hüften. âDenk einfach nicht daranâ, fordert sie ihn mit leiser Stimme auf. Er lehnt sich vor um sie zu Küssen, sie wendet abwehrend ihren Kopf zur Seite. âIch werde mich umziehen gehen, du kannst uns solange einen Tisch bestellenâ, fordert sie ihn auf und löst sich.
âIch kann das nicht, Emilyâ, flüstert er und schüttelt den Kopf. Aschfahle Haut, die in letzter Zeit viel zu selten die Sonne gesehen hat.
âDas fällt dir jetzt ein? Dass du das nicht kannst?â, ein leises Lachen entschlüpft ihr und er zieht eine gekränkte Miene.
âIch bin nicht so wie du, Emily, das weiÃt du ganz genauâ, ruft er unwirsch aus, ist sichtlich unzufrieden mit sich, mit ihr.
Sie tritt wieder einen Schritt auf ihn zu, ihr Gesicht wirkt seltsam leer. âWie bin ich denn?â
âDu bistâ, setzt er an, obwohl er nicht weiÃ, was er sagen soll, besser gesagt nicht weiÃ, ob er es ihr sagen soll. âMacht es dir überhaupt nichts aus?â
âWürde das etwas ändern?â, wieder eine Gegenfrage, sie drehen sich im Kreis, wissen es beide.
âIch habe dich etwas gefragt!â, schreit er jetzt. Völlig unerwartet kommt es, beide zucken zusammen. Er fährt sich durchs Gesicht, Tränen glitzern in seinen müden, blutunterlaufenen Augen.
âWir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffenâ, entgegnet sie wütend. âAlso hör auf mich anzusehen wie ein geprügelter Hund seinen Herrn. Dafür ist es jetzt nämlich endgültig zu spät. Es ist vorbei!â
âDas war erst der Anfang. Es ist immer der Anfang.â
âGewiss nichtâ, schnaubt sie. âIch liebe dich zwar, aber auch diese Liebe hat ihre Grenzen.â
Liebe. Unerwartet kommt sie oft. Kommt, wo man sie gar nicht sucht oder vermutet. Manchmal findet man sie im Nachbarhaus, manchmal in dunklen Gassen. Hin und wieder auch in weiter Ferne. Denn obwohl zu Weihnachten 1944 in Europa noch der zweite Weltkrieg tobte, wurde in dem kleinen Ort Verville-Sur-Mer so manches zarte Band geknüpft. Vielleicht nicht so, wie die Mütter der Soldaten des V. Amerikanischen Corps es gerne gesehen hätten, aber nach all dem Gefetzte und Getümmel, nach Tod und Verrecken hatten sie sich ein paar geruhsame Feiertage verdient. Sie hatten sich einen Braten verdient und Wein, Musik und Gesang. Tanz und, natürlich, hübsche Frauen. Marie Lepin war eine dieser Frauen, Jonathan Miller einer dieser Soldaten. Ein Ehrenmann wie er war und ist, ehelichte Jonathan die durchaus ansehnliche Marie am 24. Februar 1945 und verfrachtete sie umgehend an Bord der USS Minnesota und somit in das sichere Amerika. Ihre erste Tochter Emily wurde am 17. September 1945 im Coney Island Hospital in Brooklyn geboren. Offiziell zu früh, inoffiziell ziemlich genau die vorgeschriebenen 40. Wochen nach der nicht ganz so unbefleckten, weihnachtlichen Empfängnis. So schnell die erste Schwangerschaft gekommen war, solange lies die Zweite auf sich warten. Erst sechs Jahre später, genauer gesagt am 22. Mai 1951 erblickte das zweite Kind der Millers das Licht der Welt. Obwohl nicht der lang erhoffte Sohn, wurde das bildhübsche Mädchen mit dem Namen Hope bedacht. Und siehe da, Nomen est tatsächlich Omen, nur 12 Monate später erfüllte sich die Hoffnung der Millers. Am 28. Mai 1952 wurde Jonathan jr. geboren. Ihm folgte 12 Jahre später, ein weiteres weihnachtliches Wunder, am 24. Dezember 1964 das Nesthäkchen Elaine. Aber noch spricht man nicht von ihr, schlieÃlich schreiben wir erst den 14. November 1963. Elaine wird sich also noch etwas gedulden müssen, ehe sie in einem Anfall lang vergessener ehelicher Leidenschaft gezeugt wird. Zudem ist es ohnehin nicht ihre Geschichte, sondern die ihrer ältesten Schwester und ihres Mannes. Der Frage wie sie ein Paar wurden. Und vor allem weshalb. Oder ob sie es vielleicht besser gelassen hätten. Schwenken wir also von Brooklyn auf den weitaus attraktiveren und populäreren Stadtteil New Yorks. Schwenken wir nach Manhattan.