Teil 12
Der Bus hatte sein Ziel erreicht, erleichtert bezogen die Gilmores ihr neues Zimmer.
âWir hätten ein Hotel nehmen sollen,â schnaufte Lorelai, als sie sich in den Zimmer der griechischen Jugendherberge umsah. An der Decke hingen Spinnenweben, am Schrank klebten harte Kaugummis, durch die Fenster konnte man nicht durchsehen, nicht mal die Sonne konnte durchs die Scheiben scheinen und auf dem Boden wurde bestimmt seit Tagen nicht mehr gewischt, gefegt oder gesaugt. âSo habe ich es mir nicht vorgestellt,â erwiderte Rory enttäuscht. Ihre Blicke wanderten immer wieder hin und her. âEine Zumutung. Zum Glück nur für zwei Nächte.â
In dem kleinen Raum stand ein altes Hochbett, ein kleiner Schrank und eine Sitzgruppe, vollkommen mit Staub überzogen. Genervt lieà sich Lorelai auf einen der Stühle fallen. Der Staub wirbelte leicht durch die Luft. âLass uns erst mal den Strand ansehen und etwas essen gehen,â schlug Rory vor und zog ihre Mutter vom Stuhl hoch. Ohne zu zögern willigte Lorelai ein. Sie schlossen das Zimmer hinter sich ab und machten sich auf den Weg.
Zum Strand war es kein langer Weg. Doch die Hitze und die brennende Sonne machten ihn doch ziemlich erschwerlich. Der Schweià lief den Gilmores über die Stirn. Es war kurz nach eins am Mittag, viele Touristen waren unterwegs. Eine riesiges Gedränge vor den Imbissen und Ständen an der Promenade. Erschöpft von dem kurzen Weg setzten sich Lorelai genervt auf eine Bank. âIch habe durst,â sagte Rory und legte ihren Kopf auf die Schulter ihrer Mutter. âIch auch,â erwiderte Lorelai. Sie stand auf und ging zu einem der Stände.
Rory lieà sich zurück fallen und schloss die Augen. Ein leiser Wind pustete ihr am Nacken entlang. Sie wünschte sich, dass er kühler wäre, damit sich ihr Körper vielleicht abkühlen würde. Das Wetter schlug ihr auf den Magen, der Hunger war verschwunden, das Verlangen nach Flüssigkeit noch Stärker. âEin riesen Ice Tea bei Luke,â flüsterte sie leise vor sich hin. âWas darf ich dir denn bringen, Rory?â Die Stimme kam ihr bekannt vor, aber kam unerwartet. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Niemand zu sehen. Lukes Stimme, es war als hätte sie seine Stimme gehört.
Die Hitze, es ist die Hitze, dachte Rory und wischte sich den Schweià von der Stirn.
âHier Soda mit Eis. Lass uns in den Schatten gehen. Dort hinten sind noch ein paar Plätze frei!â Lorelai hielt zwei groÃe Pappbecher in der Hand, die bis zum Rand gefüllt waren. Es war eine gute Idee den Platz zu wechseln, in der Sonne war es nicht auszuhalten. So schleppten sich die Beiden rüber unter einen groÃen Baum, der ein wenig Schatten bot, und nahmen unter ihm Platz.
âIch habe Lukes Stimme gehört,â begann Rory zu erzählen. âEs hörte ich so real an. Als hätte er hinter mir gestanden.â Sie zog kräftig an ihrem Strohalm. âUnmöglich Rory,â erwiderte Lorelai und lehnte sich an den Baum. Ein leichter Wind kam auf und ihre braunen Haare wehten im Wind. âMehr,â bat Rory und streckte dem Wind die Arme entgegen. âEs war seine Stimme. Vielleicht wollte er mir damit was sagen. Vielleicht ist was mit Jess,â überlegte sie. Lachend schüttelte Lorelai den Kopf. âIn Rekordzeit einen Sonnenstich. Du musst immer alles und jeden übertreffen.â
Rory dreht beleidigt ihren Kopf zur Seite. âDu bist gemein. Wieso erzähle ich es dir überhaupt. Wie konnte ich nur glauben, dass du mich ernst nimmst?â Sie streckte ihre Beine aus und zog noch einmal an ihrem Strohalm. âSei doch nicht so ernst,â grinste Lorelai. âEs war nicht böse gemeint. Sei nicht sauer. Bitte.â
Doch Rory sagte kein Wort mehr. Immer noch beleidigt kaute sie auf ihrem Strohalm herum. âRory, bitte! Was wollen wir jetzt tun? Ich bin immer noch müde. Als hätte ich seit Tagen kein Auge zu gemacht,â plauderte Lorelai weiter, um die leicht gereizte Stimmung wenigstens ein bisschen zu legen. âWollen wir uns ein wenig aus Ruhen, entspannen in unserer Absteige, und später was zu essen besorgen. Alles was du willst?â
Rory zog ein Taschenbuch aus ihrer hinteren Hosentasche. âLeg dich doch ein wenig hin. Ich bleibe noch ein wenig hier und lese. Wenn sich die Hitze und die Menschenmassen gelegt haben, dann gehen wir essen,â schlug sie vor und schlug die erste Seite des Buches auf. âOkay,â willigte Lorelai ein. Sie stand auf, holte ein wenig Geld aus dem Geldbeutel und drückte es ihrer Tochter in die Hand. âFalls du durst bekommst,â lächelte Lorelai und verschwand hinter den Bäumen.
Nach wenigen Minuten war Rory schon in dem Buch versunken. Die Stimmen um sie herum verstummten und sie war wieder in ihre Welt der Bücher abgetaucht. Der Wind nahm zu und sie konnte sich ein bisschen entspannter zurück lehnen. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Lächeln breit.
âSo habe ich es mir vorgestellt.â Wieder eine bekannte Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss. Diesmal klang sie noch realer. Die Stimme lieà ihr Herz rasen. Verwirrt schaute sie sich um. Niemand war zu sehen. Rory schloss die Augen und atmete tief durch. âLangsam wird es unheimlich.â Sie kratze sich am Kopf und starrte wieder auf das Buch in ihrer Hand. Vielleicht hatte ihre Mutter mit dem Sonnenstich doch Recht.
Plötzliche spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ein Schreck durchfuhr sie. Entsetzt drehte sie sich um. âHi!â Rory blickte direkt in die vertrauten Augen von ihrem Freund. âJetzt sehe ich schon die Stimmen,â stammelte Rory leise. âÃberraschung,â flüsterte Jess ihr ins Ohr und küsste seine Freundin zärtlich auf die Wange. âJess,â kreischte Rory. Vor Schreck lieà sie das Buch fallen und sprang auf. Ãberglücklich schlossen sich die Zwei in die Arme.
Da stand er einfach vor ihr. Sie konnte es nicht glauben. Jess grinste. âJa, ich bin es.â Ihre Augen fingen an zu leuchten. Sein Grinsen hatte wie immer dieses zauberhafte. Sein Lächeln gefiel ihr. Das hatte es immer. Doch in diesem Moment gefiel es ihr noch viel mehr. âBitte kneif mich.â Ein zittern lag in ihrer Stimme. So aufgeregt war sie. Doch Jess schüttelte den Kopf, legte liebevoll seine Arme um Rory, zog sie an sich heran und gab ihr einen langen Kuss.
Da war es wieder. Das unbeschreibliche Kribbeln im Bauch. Sie spürte seine Lippen. Zart und Weich. In ihrer Erinnerung hatte es sich anders angefühlt. Jetzt konnte sie es wirklichen spüren. So zärtlich hatte sie es nicht in im Kopf behalten. âKüss mich noch mal.â
Das lieà sich Jess nicht zwei mal sagen. Sie küssten sich immer wieder ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Auf einmal war es so, als wären sie getrennt gewesen. Die schlaflosen Nächte vergessen. Weder Rory noch Jess konnten sich vorstellen, dass es sie jemals gegeben hatte.
âWie bist du hier her kommen?â fragte Rory nach einer Weile. âMit Luke,â grinste Jess und strich sich durch sein dunkles Haar. âLuke?â Suchen blickte Rory sich um. âDu bist doch nicht allein hier! Luke ist hier, das ist... das ist...das ist gut.â Sie lehnte sich an Jess Schulter. âEr ist auf der Suche nach einem Zimmer.â erklärte Jess. âIch sollte dich im Auge behalten, damit wir euch nicht verlieren.â Verliebt strich er über Rorys weiche Hand und drückte sie an seine Wange.
âDu glaubst nicht, wie sehr du mir gefehlt hast.â Rorys Stimme klang glücklich. âDoch, du hast mir genau so gefehlt,â gab Jess eben so glücklich zurück. âSchön das du da bist. Wie lange bist du hier?â fragte Rory. âIn zwei Tagen geht es nach Deutschland. Mit dem Flieger. Fliegen ist wirklich nicht toll,â erklärte sie dann. âMorgen Abend geht unser Flieger schon zurück nach New York. Luke wollte...â Jess stockte. Er wollte nicht weiter sprechen. Es schien ihm nicht richtig. SchlieÃlich ging es um Luke und Lorelai, weniger um Rory und ihn. Er wollte damit nichts zutun haben. Seine Zeit mit Rory sollte sich auch nur sie und ihn drehen.
âNicole,â fragend sah Rory zu ihrem Freund herüber. âRory, bitte. Ich zitiere nur Luke und dann vergessen wir das, ja?â Stellte Jess klar. Sie nickte. âNicole ist Gesichte.â Vorsichtig zog er dann Rory wieder an sich. âWir haben jetzt noch fast 32 Stunden, lass uns ein Eis holen und an den Strand setzten. In zwei Stunden treffe ich mich dann mit Luke dort drüben an der Baumgruppe. Bis dahin gibt es nur uns beide.â Sie willigte lächelnd ein und die Beiden spazierten verliebt die Promenade herunter.
Die zwei Stunden vergingen wie im Flug
âMeinst du, er findet nicht zurück?â Luke hatte sich schon eine viertel Stunde verspätet. Die Hitze hatte nachgelassen und der Wind leicht zugenommen. Nervös schaute Rory immer wieder auf die Uhr. Ihre Mutter machte sich vielleicht schon Sorgen. âIch gehe und schau mal lieber nach meiner Mom.â Sie gab Jess noch einen innigen Kuss. âIch gehe ungern. Was denkst du, wollen wir zusammen was Essen gehen?â Fragend sah sie Jess an. âDie Frage war überflüssig. Ich warte auf Luke. Er kommt sicherlich gleich, dann geh ich duschen. Den Geruch will ich dir später nicht noch mal antun. In einer Stunde wieder hier?â Rory lächelte. â Gibst du mir auch dreiÃig Minuten mehr?â Wiederholt küsste sie Jess. âUm sieben dann.â
Ein letzter Kuss und dann machte sich Rory auf den Weg zur Jugendherberge. Immer wieder schaute sie sich um. Sie wollte Jess nicht aus den Augen lassen. Er sah so süà aus, wie er so unter den vielen Bäumen stand. Vor Aufregung hatte sie leichte Probleme die FüÃe richtig voreinander zu setzten. Es war für ihre Verhältnisse eher in Sprint als alles andere. Völlig auÃer Atem stoppte sie vor ihrer Zimmertür. Leise klopfte sie an die Tür. âRory!â Die Stimme von Lorelai drang durch die Wände. Hastig öffnete Rory die Tür.
Lorelai saà auf einem der Stühle. Erleichtert sprang sie auf und drückte Rory an sich. âWo warst du? Wärst du zehn Minuten später gekommen, hätte ich die Polizei gerufen oder die Amerikanische Botschaft angerufen. Dein Taschenbuch...â Lorelai hielt es Rory vor die Nase. âEs lag neben dem Baum. Von dir keine Spur. Mach das nie wieder mit deiner alten Mom. Versprich es mir.â Das Gesicht von Lorelai entspannte sich. Sie lieà ihre Tochter los und lieà sich erleichtert zurück auf den alten Stuhl fallen. âIch habe mich umgesehen,â log Rory. âIch dachte du würdest schlafen.â Sie zog den anderen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich ebenfalls. âDas nächste mal sagst du mir bescheid, bitte. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Hast du nicht das Buch vermisst? Du hast noch nie ein Buch so mies behandelt. Du solltest dich entschuldigen. Aber an seiner Stelle würde ich jetzt sowieso nicht mehr mit dir reden.â
Es herrschte eine Weile Funkstille. âIch muss duschen. Mich umziehen.â Rory drehte sich um. Die Rucksäcke waren verschwunden. âWir wurden beklaut,â rief Rory. âNein,â beruhigte Lorelai ihre Tochter. âIch habe uns ein nettes, nicht herunter gekommenes Hotel gesucht. Hier könnte ich keine Nacht drin schlafen.â
Nachdem Lorelai die nervöse Rory beruhigt hatte. Machten sie sich auf den Weg zur neuen Unterkunft. âEs ist nicht weit. Nicht so nah am Strand, aber nicht mehr als zehn Minuten.â
Ein bisschen unwohl fühlte sich Rory schon. Am liebsten würde sie ihrer Mutter sofort erzählen, dass sie Jess getroffen hatte und das auch Luke ihnen gefolgt war. Lorelai würde ausflippen. Dann würde sie endlich wieder das gewohnte Grinsen aus ihren Lippen zurück bekommen. Das Lächeln, dass Rory schon die ganze Zeit gefehlt hatte. Dann dachte sie an Luke. Er wollte sie überraschen. Den ganzen weiten Weg hatte er auf sich genommen, nur um Lorelai zu sehen. Das konnte sie ihm nicht versauen. So behielt sie ihr kleines Geheimnis für sich. Lorelai würde es ja schon bald erfahren, was Luke alles bereit war, für sie zu tun.
Im Hotel angekommen, stieg Rory schnell unter die Dusche. Es vergingen keine fünf Minuten, da stand sie schon wieder vor Lorelai. Um ihren Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt. âBist du auf der Flucht? Hat das Geld nicht gereicht für den Nachmittag? Hast du Passanten ausgeraubt? Sollen wir schnell das Land verlassen?â Rory reagierte nicht auf ihre Mutter. Sie war zu sehr damit beschäftig ein Kleid aus ihrem Rucksack zu finden. âRory?â Mit fragendem Blick beobachtete Lorelai ihre Tochter. âEssen, ich habe Hunger. Du musst dich beeilen.â Verdutzt zog Lorelai ihre Schuhe aus. âDas Essen hier soll toll sein. Hausmannkost aus Griechenland,â fing sie an zu schwärmen.
Rory musste lange überlegen, bis sie antworten konnte: âIch will dir alles zeigen. Unten am Strand ist ein tolles Restaurante. Abends stellen sie ihre Tische und Stühle fast bis ans Meer. Bitte, lass uns da Essen. Morgen darfst du dann entscheiden.â Flehend sah Sie zu ihrer Mutter. Einen Moment zögerte Lorelai. âGut, ich gebe nach.â Rory zog sich das Kleid über. âWir haben noch 45 Minuten...â flüsterte sie. â45 Minuten?â Jetzt musste schnell eine neue Ausrede her. âReservierung, die Plätze sind immer schnell weg. Ich habe reserviert,â gab sie hastig zurück. Schweigen verschwand Lorelai im Bad.