„Deine Enkeltochter hat deine Augen.“ Bemerkte er.„Nicht nur sie. Meine Töchter, meine Enkeln und ich haben alle Mums Augen. Sie hat starke Gene.“
Er nickte. „Deine Augen haben mich schon damals fasziniert. Es heiÃt doch, Augen wären der Spiegel zur Seele. Ich kenne keinen anderen Menschen, bei welchem das so zutrifft, wie bei dir. Deine Augen erzählten mehr über dich als alles andere.“
Ich blieb vor einem Gebäude stehen. „Was erzählen sie dir nun?“
Er musterte mich nachdenklich. SchlieÃlich antwortete er. „Dass du weder ein noch aus kannst. Verzweiflung, Trauer. Das sagen sie mir.“ Er hielt inne, als ich mich von ihm abwandte. „Rory, es tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich wollte nur ehrlich zu dir sein. Rory?“ Er berührte sanft meinen Arm.
Es war nicht sein Gesagtes, was mich in einen regelrechten Schockzustand versetzt hatte. „Jess. Das hier…dieses Pub…“ William’s Hardware, die Letter waren kaum noch zu entziffern. Darunter hing ein groÃes Schild. Pete’s Irish Pub. „Wer ist dieser Pete? Keiner kennt Pete! Das ist Luke’s!“ Ich sah ihm in die Augen. Er musste mich in diesem Moment für verrückt halten. Es war schlieÃlich klar, dass Luke angesichts der Umstände sein Cafe irgendwann aufgegeben hatte. Vielleicht war es, weil ich einen Moment wieder da gewesen war. In dem Stars Hollow Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In einer Zeit, welche rückblickend so vollkommen schien. Es hatte sich nur wenig verändert. Die Menschen waren gekommen und gegangen. Aber es war immer Stars Hollow geblieben, die kleine etwas verrückte Stadt in Connecticut. Doch war es noch Stars Hollow, ohne die Menschen, die es zu meinem Stars Hollow gemacht hatten? Was war mit dem Dragonfly? Was war mit Luke’s Diner? Ich war nicht nachhause gekommen. Niemals. Denn das zuhause, dass ich gekannt hatte, existierte nicht mehr. Es war zu spät für das Diner, es war zu spät für alle Menschen, welche diese Stadt ausgemacht hatten. Es war wahrscheinlich auch zu spät für Mum und mich. Es waren zwanzig Jahre vergangen. Vor zwanzig Jahren war ich zuletzt hier gewesen. Und es schien, als wären es Jahrhunderte gewesen.
Jess drückte meine Hand. „Rory…“ Begann er mit sanfter Stimme. „Das ist ein Pub, nur ein Pub. Luke musste sein Cafe’ verkaufen. Es ging nicht anders…“
„Jess.“ Ich blickte ihn Kopf schüttelnd an. „Das ist nicht nur ein Pub, Jess. Es ist das vollkommen umgestellte Lebenswerk Lukes Vaters. Sieh doch. Ich hätte es nicht erkannt, wäre der Schriftzug dort oben bereits vollkommen verblasst. Das ist nicht mehr das Diner. Nichts erinnert mehr an das Diner, auÃer diesem beinahe verblassten Schriftzug. Und dieser ist auch das einzige, was noch an mich erinnert. An das einzige Leben, welches ich jemals geführt habe…“
„Rory!“ Unterbrach er mich aufgebracht und umfasste meine beiden Arme. „Hör auf!“ Er zog mich weiter.
„Wohin willst du, Jess? Das Dragonfly, auch diese Leidenschaft meiner Mutter ist verbrannt.“
Jess umfasste meinen Arm fester und zog mich in den alten Pavillon. „Rory, sieh dich um. Das ist Stars Hollow. Stars Hollow, wie es immer war. Der Zauber, wie du es genannt hättest, ist derselbe!“
Ich wandte mich von ihm ab. „Sie uns doch an Jess! Wir, wir sind nicht mehr dieselben!“
„Rory, Menschen entwickeln sich nun mal weiter! Das ist auch gut so.“
Ich drehte mich langsam um, sah ihm jedoch nicht in die Augen. „Ich habe mich nicht weiterentwickelt. Ich bin nur noch eine leblose Hülle. Du verstehst das nicht Jess. Du warst schon lange weg, als alles begonnen hatte. Ich hatte einen Mann kennen gelernt, wurde schwanger.“ Eine einzelne Träne lief über meine Wange. „Mum und ich…wir hatten uns entfernt. Ich hörte auf die anderen…und…heiratete ihn. Ich konnte meine Tochter lange nicht wirklich annehmen…kannst du dir das vorstellen, Jess? Ich war auf meine eigene Tochter wütend, weil sie es gewagt hatte, auf die Welt zu kommen? Siehst du es jetzt ein, was für ein Mensch aus mir geworden war?“ Ich sah ihm direkt in die Augen. Er reagierte nicht, musterte mich nur, die Hände in seinen Jackentaschen vergraben.
„Dabei war ich doch nur wütend auf mich selbst. Sie hat mich nie geliebt und ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Ich war keine gute Mutter. Genauso wenig war ich eine gute Tochter. Wahrscheinlich bin ich Schuld an Mums Krankheit. Der Kummer meinetwegen hat sie krank gemacht…“
„Rory! Das ist Unsinn, und das weiÃt du auch! Hör auf so etwas zu sagen!“ Unterbrach er mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Die Familie meines Exmannes und er selbst hatten nur Teilschuld an unserem immer schlechteren Verhältnis. Ich war es. Es war alles meine Schuld. Auch der Tod meiner Halbschwester. Doch sie beschuldigt mich nicht. Sie empfindet keine Wut mir gegenüber! Warum ist sie nicht wütend auf mich, Jess? Warum ist sie es nicht?“
„Rory! Corinne ist aufgrund einer Infektion gestorben!“
„Warum hasst die mich nicht? Warum?“ Ich begann am ganzen Körper zu zittern.
Jess zog mich Kopf schüttelnd in seine Arme. „Warum sollte sie dich hassen, Rory? Weil du dich hasst? Damit du dich bestätigt fühlst? Rory, ich weià wahrscheinlich kaum etwas über die Dinge, welche vorgefallen sind. Aber eines weià ich: Lorelai liebt dich. Und ob du es wahrhaben willst oder nicht, sie hat dir verziehen. Auch wenn ihre Erinnerung Lücken aufweist, weià sie, dass ihr beide Fehler gemacht habt. Das wichtigste ist, dass sie weiÃ, dass sie dich immer geliebt hat und immer lieben wird.“
Ich löste mich von ihm und senkte meinen Blick.
„Rory! Sieh mich an!“ Er hob mein Kinn und zwang mich so ihn anzusehen. „Es mag viel Ungeklärtes in deinem Leben geben. Aber es gibt eine Sache, deren du dir stets sicher sein kannst: Die Liebe deiner Mutter. Ich war hier, weiÃt du? Wir haben nie den Kontakt verloren. Deine Mutter hat zwar, wahrscheinlich aus Selbstschutz, selten über dich gesprochen, aber wenn konnte man ihre Gefühle genau deuten. Sie hat deine Augen, vergiss das nicht…“
Ich spürte wie mir der Druck auf meinem Herzen die Luft zu Atmen nahm. Ich glaubte zu ersticken. „Ich habe es versaut. Ich habe alles zerstört. Nicht nur mich, sondern das Verhältnis zu allen Menschen, welche mir wichtig sind. Und wie alleine ich wirklich bin, dass ist mir erst nach der Scheidung richtig bewusst geworden. Trotz Jenny, welche bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag bei mir wohnte. Jess, ich leide seit vielen Jahren an Depressionen…“ Ich senkte den Blick. „Es hat Tage gegeben, an denen wollte ich einfach nur noch sterben. Weg von diesem Leben, welches ich mir selbst zerstört habe. Vierzig Jahre kann man nicht einfach rückgängig machen, Jess. Sie sind mir alle vollkommen entglitten und ich habe das zugelassen! Selbst Matt, zu welchem ich wohl immer das innigste Verhältnis hatte. Leben bedeutet für mich nichts Schönes mehr, Jess. Ich habe mich schon oft gefragt, warum Mum es ist, die gehen muss. Warum kann ich es nicht sein?“
„Rory, hör auf so zu sprechen. Du hast Fehler gemacht. Das haben wir doch alle. Jeder von uns.“
Ich blickte auf das Pub. Tränen rannen über meine Wangen. „Ich hätte es dir sagen müssen, Jess.“ Ihr Herzschlag wurde schneller. „Ich wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten, um mit dir darüber zu reden. Doch den gibt es nicht. Jess, ich war schwanger. Unsere Nacht…ich konnte dich nicht einfach anrufen…Matt, ich habe ihn belogen, sein Leben lang…Jess, er ist dein Sohn…“ Ich drehte mich langsam zu ihm und sah ihm in die Augen.
Jess Miene war ausdruckslos.
„Du weiÃt es.“ Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du weiÃt es, aber hast dir nichts anmerken lassen. Weil du ein guter Mensch bist. Du bist für mich da, hast mich in die Arme genommen. Dabei solltest du mich hassen. Hassen, weil ich dir nie sagte, dass du einen Sohn hast. Ich konnte es nicht, Jess. Ich konnte es einfach nicht. Die Jahre vergingen und ich konnte es immer weniger…“ Ich wandte mich von ihm ab und setzte mich auf die kalte Bank.
Es dauerte einige Minuten, bis Jess sich neben mich setzte. „Rory, selbst wenn ich es versuchen würde, könnte ich dich niemals hassen.“
„Ich hätte es dir sagen müssen. Ich hätte es Matt sagen müssen.“ Ich drehte meinen Kopf langsam zu ihm.
„Ja, das hättest du.“
„Logan…ich weià nicht, was er gemacht hätte, hätte ich es gesagt. Ich war abhängig von ihm, so viele Jahre lang. Ich hatte keinen der Jobs bekommen, von denen ich geträumt hatte. Gerade Mal zur Klatschreporterin hatte ich es gebracht. In Seattle durfte ich dann hin und wieder politische Themen aufgreifen.“
„Ich habe deine Artikel gelesen. Jeden einzelnen. Beider Zeitungen. Und du kannst sehr wohl stolz auf dich sein. Du hast dich enorm verbessert. Du magst nie zu CNN gekommen sein, aber du warst von Anfang an mehr als eine Klatschreporterin.“
„Jess?“ Ich musterte ihn Stirn runzelnd. „Es tut mir leid. Es tut mir von ganzem Herzen leid. Kannst du mir jemals verzeihen? Dass ich dich nicht aufgehalten habe, damals in Yale, und dass ich dir unseren Sohn verschwiegen habe?“
„Du hättest mich auch nicht aufhalten sollen. Es war richtig so…wir waren jung. Ich musste erst mal erwachsen werden. Wir haben uns stets zum falschen Zeitpunkt getroffen. Es war uns einfach nicht bestimmt. Und was die Sache mit Matt betrifft, natürlich schmerzt es. Aber die letzten Jahrzehnte haben mich gelehrt, dass Menschen oft scheinbar Unvorstellbares tun, weil sie in ihrer Situation keinen anderen Ausweg finden. Ein Teil meines Herzens ist wütend, der andere empfindet nur Mitgefühl für die junge Frau, welche scheinbar tatsächlich so handeln musste. Es ist nun mal so gekommen, Rory. Momentan gibt es Wichtigeres als die genauen Beweggründe für dein Handeln…“
Meine Stimme bebte als die Worte über meine Lippen kamen. „Ich habe mich oft gefragt, was passiert wäre, wäre ich mit Carol und Matt zu dir gegangen. Was wäre aus Liza geworden? Was wäre aus uns geworden?“
„Rory, diese Gedanken führen zu nichts. Ich will dir nicht wehtun, du weiÃt, dass du meine groÃe Liebe warst, aber Liza und meine Töchter – ich möchte keine von ihnen missen. Auch wenn die Ehe nicht geklappt hat, sie ist meine beste Freundin. Wärst du gegangen, hätte Carol wahrscheinlich niemals nach Puerto Rico gehen können und hätte auch Ramón niemals kennen gelernt. Auch Matt wäre nicht der Mensch, der er heute ist, Jenny gäbe es gar nicht. Es ist merkwürdig, dass gerade ich das sage, aber es gibt wahrscheinlich für alles einen Grund. Es musste genauso so kommen.“
Ich nickte leicht.
„Auch ich hatte einige Jahre darüber nachgedacht, was passiert wäre, wären wir einfach durchgebrannt. Es wäre wahrscheinlich nicht gut gegangen. Wir hatten unsere eigenen Leben, unsere eigenen Welten. Die Gefühle, welche in jener Nacht entbrannten, waren die Gefühle für ein vergangenes Selbst des anderen. Unsere Vergangenheit, die wenigen Monate, welche wir hatten, diese liebten wir. Und ich liebe sie bis heute. Die Zeit mit der wunderschönen, achtzehnjährigen Rory aus Stars Hollow. Niemals wollte ich diese Momente mit dir missen. Sie haben mich mein Leben lang begleitet. Wie sollte ich dich also hassen, wenn ich doch weiÃ, dass dich irgendetwas zu der Entscheidung zu schweigen getrieben haben muss? Nein, Rory, ich hasse dich nicht. Ich habe Achtung und Respekt vor dir und ich würde dich gerne wieder kennen lernen. Und was Matt betrifft, rede mit ihm. Sowohl er wird dir verzeihen, als auch Carol. Deine Mutter hat es bereits und ich stehe kurz davor. Du bist es, Rory…du bist es, die sich selbst verzeihen muss.“
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und schluchzte leise. Jess zog mich in seine Arme und strich mir beruhigend über den Rücken. „Ich will nicht, dass sie geht.“ Presste ich endlich heraus. „Alls soll wieder gut werden. Sie kann mich nicht verlassen. Nein, nicht jetzt. Niemals. Ich brauche sie doch. Ich habe sie immer gebraucht. In jedem Moment meines Lebens. Besonders aber in jenen Augenblicken, in welchen ich sie am meisten von mir gestoÃen habe. Warum? Warum ist es nur so weit gekommen? Zwei Wochen, zwei Wochen hat der Arzt gesagt…ich kann doch nicht vierzig Jahre innerhalb von zwei Wochen wieder gut machen. Wozu war diese furchtbare Wendung gut? Warum haben wir es in den letzten zwanzig Jahren nicht geschafft einfach miteinander zu reden? Uns auszusprechen? Warum wurde sie auch noch krank? Soll es so zu Ende gehen? Siehst du darin auch einen Sinn?“ Ich schrie beinahe, doch er hielt mich weiter fest. „Lass es raus, Rory. Lass es raus, wenn es dir dann besser geht.“
Ich löste mich von ihm und fuhr in die Höhe. „Warum ist die Medizin nicht weiterentwickelt? Warum konnte man ihr nicht helfen? Warum muss ich hilflos mit ansehen, wie meine Mutter jeden Tag ein wenig mehr stirbt? Warum? Sie hat das nicht verdient! Sie hat ein langes Leben voller Liebe und Freude verdient! Warum war ich nicht da? Wo war ich all die Jahre? Ich hätte hier sein müssen! Hier bei ihr! Sie war es, die mich am meisten gebraucht hatte! Verdammt, wo war ich?!“ Ich trat gegen ein Brett der Bank. „Sie wäre für mich da gewesen. Immer. Aber ich…ich bin einfach gegangen, weil ich nicht verstanden hatte. Mit einem Mann, welcher mich niemals wirklich geliebt hatte. Ich hatte eine Tochter geboren, welche mir immer mehr entglitten ist. Einen Sohn, dem ich nicht einmal sagen konnte, dass sein verhasster Vater gar nicht sein leiblicher ist. Eine Tochter, welche so sehr in Sorge um mich ist, dass sie sich mir schon lange nicht mehr anvertraut hat. Vielleicht verzeihen sie mir wirklich. Vielleicht können wir nochmals von vorne anfangen. Aber Mum und ich können das nicht. Denn sie wird nicht mehr hier sein. Sie wird einfach gegangen sein. Sie wird mich so alleine lassen, wie ich sie alleine gelassen habe. Und alles was mir bleiben wird, ist die Erinnerung an neunzehn glückliche Jahre und ein paar Tage voller Aussprachen. Vierzig Jahre, diese Zeit kann uns keiner zurückgeben. Ich werde nicht eines Tages aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Alptraum war. Nein, ich werde nicht eines Tages aufwachen um festzustellen, dass sie noch da ist…dass sie niemals gegangen ist…das wird nicht passieren…niemals…“ Ich holte tief Luft. „Sie sagte mir vor kurzem, sie würde gerne noch einmal einen Videoabend machen…dazu wird es nicht mehr kommen. Wir werden niemals wieder einen Videoabend machen oder einfach nur Kaffee trinken. Wir werden auch niemals mehr in der Schneelandschaft, welche sie doch so liebte, spazieren gehen können…“ Ich blickte ihn an. „Sie wird sterben, Jess. Und mit ihr auch der letzte Teil meiner Selbst.“ Ich begann erneut zu zittern.
„Rory…“ Er stand auf und nahm mich in die Arme. „Rory…“ Das war alles, was er hervorbrachte. Ich presste meinen Kopf an seine Brust und umklammerte ihn mit den Armen, als wäre er der letzte Rettungsanker, welcher mich vor den Tiefen des Ozeans schützen konnte.