20.03.2007, 12:47
Hallo meine SüÃen :knuddel:
Vielen, vielen Dank für eure wunderbaren Worte! Ich liebe eure Feedbacks!
Freut mich, dass euch meine Geschichte so gut gefällt. Ihr motiviert mich total.
@Anne:
War bestimmt lustig. Ich hoffe, du hattest viel SpaÃ!
Ich habe weiter geschrieben und poste gleich die beiden neuen Kapiteln. Ich hoffe, sie gefallen euch.
Hab euch lieb!
Schönen Tag noch!
Bussi Selene
33. Teil
Pasadena
Der orangerote Feuerball schien hinter dem Meer aus Palmen zu versinken. Bald würde der Tag erneut der Nacht weichen. Einer viel zu heiÃen Nacht. Darauf würde ein neuer Tag folgen. Unschuldig und jung. Erneut würde das Leben seinen ganz normalen Lauf nehmen. Ein Leben, welches so glücklich hätte sein können.
Penelope kuschelte sich an die Schulter ihres Mannes. Sie saÃen auf der alten Hollywoodschaukel und blätterten durch Fotoalben. Neben Penelope ruhte die Schuhschachtel, in welcher sie Fotos aufbewahrte, welche niemals ihren Weg in Alben gefunden hatten. Aus welchen Gründen auch immer.
„Die Hochzeit war wunderschön. Ohne dich wäre sie das nie gewesen.“ James strich ihr zärtlich durchs Haar.
Penelope betrachtete das Hochzeitsfoto von Chris und Darlene. Sie so nervös, er einfach nur glücklich. Penelope lächelte, als sie an die gelungene Feier, welche vor allem sie selbst organisiert hatte, dachte. Es war ein voller Erfolg gewesen. Das Brautpaar hatte ihr für ihren schönsten Tag im Leben gedankt. Dabei hatte Penelope ihrer Meinung nach nichts Besonderes gemacht. Sie hatte lediglich die Hochzeit ermöglicht, von welcher sie selbst als junges Mädchen geträumt hatte. Würde das nicht jede liebende Mutter tun?
Sie blätterten weiter und kamen endlich zu den Babyfotos von Nick, welche Penelope so vergötterte. Sie fuhr zärtlich über das pausbäckige Gesicht, achtete jedoch sorgsam darauf, dass ihr Finger keine Spur auf dem Foto hinterlassen würde. „Unser kleiner Liebling...“
James lächelte. „Kaum zu glauben, dass unser Enkelsohn nun schon in die zweite Klasse geht. Wir werden alt.“
„Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und glaube mir, niemals habe ich mich jünger gefühlt als in den letzten Jahren.“ Sie schlug das Album zu und legte es auf den Stapel am kleinen Gartentisch, welcher vor der Hollywoodschaukel stand. Sie wollte sich schon wieder an ihren Mann lehnen, als dieser auf die Schuhschachtel wies. „Was ist mit diesen.“
„Die sollte ich wohl mal einkleben...“ Penelope zog Stirn runzelnd den Stoà heraus. Oben auf lag ein Foto von der damals noch schwangeren Darlene. Sie hatten gemeinsam ein Picknick am Strand gemacht. Als Penelope James den Fotostapel reichte, rutschte eines aus der Mitte heraus und schwebte in das trockene Gras. Er bückte sich danach und besah es Stirn runzelnd.
Penelope lehnte sich lächelnd zu ihm. Ihr Lächeln gefror mit einem Mal als sie es erkannte. Sie fröstelte. James bemerkte es. Er legte den restlichen Stapel wieder in die Schachtel und stellte diese auf den Tisch. Sanft zog er seine Frau in die Arme, das Foto noch immer in der linken Hand haltend. Penelope hatte den Blich geradeaus gerichtet. Sie spürte die Berührung nicht. Erst als er sich wieder langsam von ihr löste, sah sie ihn an.
„Das ist sie, nicht wahr?“
Penelope nickte langsam und betrachtete die strahlende Braut in dem weiÃen Kleid, welches mit unzähligen Perlen bestickt war. Sie trug nur einen kurzen Schleier. Ihr helles Haar, zu sanften Locken gedreht, strömte über die Schultern, beinahe bis zu ihrer schmalen Taille. Penelope hatte ihr das Haar gemacht.
„Sie war sehr hübsch.“ Meinte James anerkennend.
„Sie war die schönste Braut der Welt.“ Erwiderte Penelope leise. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Der Schmerz war zurückgekehrt. Erneut drohte er sie mit sich zu reiÃen. In eine unergründliche Tiefe.
James drückte ihre Hand. Er runzelte die Stirn und begann zögernd: „Sie wirkt sehr jung auf dem Foto? Wie alt war sie? Wahrscheinlich gerade achtzehn geworden?“
Penelope seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Sarah war sechzehn. Gerade mal sechzehn.“
Er nickte leicht, wagte keine weiteren Fragen zu stellen.
„Ãber die Jahre hinweg habe ich mir immer wieder eine Frage gestellt: Was für Eltern sind das, die ihrer erst sechzehnjährigen Tochter gestatten zu heiraten und mit einem Mann, den sie doch kaum kannten, einfach in ein fernes Land zu gehen? Sie brauchte deren Einwilligung. Zumindest die eines Elternteils. Was für Eltern sind das, die so etwas gestatten?“
James reagierte nicht, wusste nicht, was zu antworten.
Penelope hatte den Blick noch immer auf das Foto gerichtet. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte meine Tochter abgehalten von so einer Dummheit. Ihr Blick wanderte zu dem jungen Mann neben Sarah. Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt. Scheinbar schützend.
Die Bilder rannen erneut wie ein Film vor ihren Augen ab. Sie wollte sich wehren, wurde jedoch von ihnen überwältigt.
„Wo ist sie?!“
„Ich habe dir alles gesagt, was ich weiÃ.“
Er trat näher. In seinen Augen spiegelte sich blanke Wut. „Sag mir sofort, wo sie das Kind hingebracht hat!“
Sie stemmte die Arme in die Hüften. „Was hast du sonst vor? Willst du Hand gegen mich erheben? Gegen die Frau, welche dir stets mehr Mutter gewesen ist, als deine eigene hätte sein können? Das wagst du nicht. Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiÃ.“
James legte das Foto zurück in die Schachtel und zog Penelope in seine Arme. „Entschuldige. Ich hätte nicht fragen dürfen...“ Er strich über ihre zitternden Arme. „Bist du dir wirklich sicher, dass du nächste Woche nach Los Angeles fahren möchtest?“
Sie nickte entschlossen. „Salvador hätte es so gewollt.“
James runzelte die Stirn. Sein Herz quälte seit ihrer überstürzten Abreise aus Bogotá eine Frage, welche er jedoch niemals zu stellen gewagt hatte.
„Aber vor allem mache ich es für Eduardo. Er braucht mich. Trotz allem, was passiert ist, ist er immer noch mein Sohn.“ Sie atmete tief durch. „Hinter dieser berechnenden Fassade steckt in Wirklichkeit ein kleiner Junge, welchem niemals gestattet worden war, frei zu sein. Zu leben. Der Schatten seines nun verstorbenen Vaters hatte ihn immer zu erdrücken bedroht. Aber das entschuldigt nichts...“ Sie warf einen letzten Blick auf das Foto, bevor sie die Schachtel schloss. „...rein gar nichts.“
34. Teil
Lillian
New York City
Die Sonne glühte auf ihren Schultern. Sie betrachtete lächelnd die verstaubten Stufen des Gebäudes und erinnerte sich an den Tag, an welchem sie es zum ersten Mal betreten hatte. Eine kleine Freude beschlich ihr Herz, zum ersten Mal seit vielen Wochen wagte sie es, zumindest für einen kurzen Moment, wieder glücklich zu sein. Lillian hatte ihre Prüfungen mit Auszeichnung bestanden. In etwa einer viertel Stunde würde Arturo sie abholen. Sie atmete lächelnd den Duft des Sommers ein. Ihr Herz schien einen Moment wie befreit. Voller Freude über ihren Erfolg und voller Liebe zu Arturo. Doch diese heile Welt würde nicht lange bestehen, das wusste sie. Es konnte nichts bestehen, was nicht existierte. Die Schwere würde ihr Herz schon bald erneut erfassen. Mit jedem Mal schmerzte es mehr. Sie wagte beinahe nicht mehr, ein Gefühl von Freude zuzulassen.
„Hey! Lillian, nicht?“ Sie blickte auf. Eine junge Frau ihres Alters lieà sich neben ihr auf die Stufen fallen. Lillian entsann sich, dass ihr Name Nancy war und sie gemeinsam in Mathematik graduiert hatten. Sie hatten während der High School Zeit nicht viel miteinander gesprochen. Lillian hatte keine Freunde auf der Schule gehabt. Viele hatten sie aufgrund ihrer Herkunft nur verächtlich betrachtet, andere hatten sich von ihrer scheinbar arroganten Schutzmauer abgeschreckt gefühlt. Lillian wusste nicht, zu welcher Gruppe Nancy gehörte. Sie mühte sich um ein kurzes Lächeln. „Hi.“
„Gratuliere. Du hast mit Auszeichnung bestanden. Das ist groÃartig!“ Nancy schien es ehrlich zu meinen. „Ich habe leider eher mittelmäÃig bestanden, aber ich habe bestanden.“ Sie zuckte lachend mit den Schultern.
Lillian wusste nicht was zu antworten. Sie war an Gespräche dieser Art nicht gewöhnt und daher sehr unsicher darin. „Die Prüfungen waren auch wirklich schwierig.“
Nancy nickte eifrig. „Oh ja...der reinste Horror. Wirst du im Herbst aufs College gehen? Mit deinen Noten reiÃen sich gewiss die Eliteuniversitäten um dich.“
Lillian betrachtete Nancy Stirn runzelnd. An ihrem Blick war nichts Spöttisches. Anscheinend war sie lediglich sehr naiv. „Ich muss mich erst entscheiden.“ Der Schatten um Lillians Herz verdunkelte sich. Sie hatte mit Auszeichnung bestanden und was brachte es ihr? Kein College war bis jetzt bereit gewesen, ihr ein Stipendium zu gewähren. Sie würde wohl nicht nur über den Sommer in der kleinen Bar in der Nähe von ihrer Wohnung arbeiten müssen.
Nancy nickte eifrig. „Es ist gewiss schwierig. Meine Familie hat es geschafft mich zu Princeton zu überreden. Sie alle waren dort, auÃer meiner Tante. Sie war in Yale.“
Lillian runzelte die Stirn. Eine Wut erfasste sie. Sie versuchte freundlich zu bleiben, schlieÃlich konnte Nancy nichts für den offensichtlichen Reichtum und Einfluss ihrer Familie. „Princeton ist eine tolle Universität.“ Sie mühte sich um ein Lächeln.
Nancy zuckte mit den Schultern. „Mir ist es gleichgültig, wo ich studiere. Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht. Jetzt kommt erst mal der Sommer, nicht? Wir feiern heute Abend in Downtown, im Magic Nights. Möchtest du nicht mit uns kommen?“
Lillian seufzte leise. Nancys Gesellschaft nervte sie zunehmend. Sie hatte die Minuten bevor sie Arturo abholen würde allein verbringen, ihren Gedanken nachgehen wollen. „Ich habe leider schon etwas vor, entschuldige.“ Antwortete sie höflich.
Nancy nickte. „Ich hätte früher fragen sollen. Ich war ehrlich gesagt immer etwas unsicher. Du hast oft so traurig gewirkt...nachdenklich.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich wusste nicht, ob du überhaupt angesprochen werden wolltest.“
Lillian musterte sie überrascht.
Nancy fuhr sogleich fort. „Lächerlich, ich weiÃ. Ich hätte einfach meinen Mund aufmachen sollen.“ Sie schüttelte den Kopf.
Plötzlich hielt ein Auto vor dem Schuldgebäude. Nancy erhob sich zögernd. „Ich muss leider los. Das ist meine Mutter. Man sieht sich, okay?“
Lillian nickte leicht, bezweifelte jedoch Nancy wieder zu treffen. Dennoch wollte sie freundlich auf die höfliche Floskel reagieren. „Klar. Machs gut.“
„Alles gute, Lillian.“ Nancy verschwand mit einem kurzen Lächeln im Auto, welches sogleich weiter fuhr.
Das Gespräch hatte Lillian merkwürdig berührt, sie konnte sich nicht erklären, wieso. Sie hielt es nicht mehr aus zu sitzen und ging ein paar Meter die StraÃe hinunter. An eine Mauer gelehnt kramte sie in ihrer Tasche nach dem Zigarettenpäckchen, welches sie vor den Prüfungen gekauft hatte. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie einen schwarz gekleideten Mann, welchen sie schon vorher kurz gesehen hatte. Offensichtlich suchte er nach einer StraÃe oder einem Gebäude. Lillian überlegte kurz ihm seine Hilfe anzubieten, schlieÃlich kannte sie die Gegend sehr gut, entschied sich dann aber dagegen. Er sollte fragen, benötigte er Hilfe. Lillian zog eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte es zurück in das seitliche Fach der Tasche. Sie fluchte laut, als sie das Feuerzeug nicht fand. Offenbar hatte sie es schon wieder irgendwo verloren oder zuhause vergessen. Sie war einfach nicht bei der Sache zurzeit.
„Brauchst du Feuer?“
Lillian blickte verwundert auf. Sie hatte nicht gehört, dass der Mann näher getreten war.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sein Feuerzeug aus der Hosentasche und reichte es ihr.
Sie ergriff es zögernd und betrachtete ihn Stirn runzelnd. Irgendetwas irritierte sie an seiner Stimme. Lillian betrachtete sein Gesicht. Er hatte feine, jedoch sehr männliche Gesichtszüge. Die Augen waren von einer schwarzen Sonnenbrille verdeckt. Seine Haut hatte einen sanften hellbraunen Ton. Er hatte sie auf Englisch angesprochen, jedoch mit einem Akzent, welcher ihr bekannt war. Möglicherweise war seine Herkunft derer ihrer Eltern oder Arturos ähnlich.
„Danke.“ Sie ergriff es und versuchte sein Alter zu schätzen. Mitte oder Ende dreiÃig, vielleicht aber auch ein wenig älter. Lillian zündete die Zigarette an und gab ihm das Feuerzeug zurück. Er steckte es in die Hosentasche. „Heute ist ein sehr warmer Tag, nicht?“
Sie runzelte die Stirn. Er hatte ihr lediglich Feuer angeboten. Erwartete er nun, dass sie sich mit ihm unterhielt? Sie wünschte sich Nancy zurück. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass Arturo in ein paar Minuten da sein würde. Sie seufzte leise. Er hatte sie vorgewarnt, dass die Lieferung möglicherweise länger dauern könnte, dennoch hatte sie gesagt, sie würde bei der Schule auf ihn warten. „Ja, sehr warm.“ Ihr Blick wanderte zu Passanten und Autos, welche mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die StraÃe rasten. Sie dachte an ihren Vater. Auch er war immer zu schnell gefahren. Lillian spürte eine spitze Nadel, welche die Wunde auf ihrem Herzen, ihrer Seele erneut reizte. Sie zuckte angesichts des Schmerzes zusammen.
Wenn du deinen Abschluss gemacht hast, werden wir ganz groà feiern. Hatte Jorge der damals erst sechsjährigen Lillian nach ihrem ersten Schultag versprochen. Das Mädchen hatte geweint, weil sie nie wieder zur Schule wollte.
„Essen wir dann Eiscreme?“
„Natürlich, mein Kleines. Was wäre denn eine Feier ohne Eiscreme?“
„Und Bonbons?“
„Und Bonbons.“
„Und Marshmellows? Und Pizza? Und Lakritze?“
Er strich ihr lachend über den Kopf. Froh, dass sie nicht mehr schluchzte. „Alles, was du möchtest, mein Schatz.“
Sie umarmte ihren Vater fröhlich. „Wann mache ich denn endlich meinen Abschluss?“
Rosa stemmte die Arme in die Hüften. „Jorge, hältst du das für die geeignetste Methode ein Kind für die Schule zu motivieren?“ Sie versuchte streng zu blicken, konnte das Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, jedoch nicht verbergen.
Lillian brauchte keine Eiscreme. Sie brauchte keine Feier. Sie brauchte nur ihre Eltern. Lillian stellte sich vor, wie es wäre, wenn nun ein Auto vor ihr halten würde. Jorge würde ihr lachend zuwinken und ihr deuten einzusteigen.
„Unnatürlich für New York City.“
Lillian fuhr aus ihren Gedanken. Warum wollte dieser Fremde sich unbedingt mit ihr unterhalten? Interessierte er sich etwa für Frauen ihres Alters? Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und wünschte sich ihren Vater noch mehr her. Er würde diesem Typ die Meinung sagen. „Tja. Der Klimawandel hat schon lange begonnen. Ich muss leider los. Es war sehr nett sich mit Ihnen zu unterhalten.“ Sie wollte sich schon abwenden, als seine Stimme plötzlich sanfter wurde. „Lillian...warte...“
Sie zuckte zusammen. Ihr wurde plötzlich bewusst, warum die Stimme sie so irritiert hatte. Sie kannte sie. Erneut dachte sie an ihre geliebten Eltern. Vergangene Tage. Illusion. Ihr Leben war reine Illusion. „Sie verwechseln mich. Das sagte ich bereits am Telefon. Ich ersuche Sie ein letztes Mal mich endlich in Ruhe zu lassen.“ Sagte sie so ruhig wie möglich. Innerlich brodelte sie jedoch vor Wut. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein?
Trotz ihrer kalten Stimme betrachtete er sie lächelnd. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er nahm die Sonnenbrille ab. „Ich wollte schon vor ein paar Tagen persönlich mit dir sprechen. Lillian...“ Er betrachtete sie eingehend, seine Augen durchzog ein sanfter Glanz. „...du bist deiner Mutter so ähnlich. Ihr habt dieselben weichen, ebenmäÃigen Gesichtszüge. Sogar deine Stimme gleicht der ihren.“
Die Schwere auf ihrem Herzen trieb ihr Tränen in die Augen. Sie schluckte und versuchte diese zurückzuhalten. Lillian hatte es versucht zu verdrängen, zu vergessen. Doch es war vergeblich gewesen. In diesem Moment wurde es ihr stärker bewusst denn je. Die Illusion brach endgültig in tausende Scherben, wie das dünne Glas eines Spiegels. Sie hatte in seine Augen gesehen und es war, als wären es ihre eigenen gewesen. Sie dachte an ihre Eltern. Die Lügen. Das Gefühl nirgendwo hinzugehören. Weder nach Brooklyn noch nach Spanish Harlem. Die Nadeln drangen tiefer in das zitternde Herz. Für einen Moment vergaà sie zu atmen. „Bitte...bitte lassen Sie mich in Ruhe.“ Ihre Stimme bebte.
Er runzelte die Stirn, nickte schlieÃlich leicht. „Es tut mir leid. Es war egoistisch einfach hier herzukommen. Ich hatte so viele Jahre nach dir gesucht, wusste nicht, wie es dir geht, wo du bist. Ich musste dich einfach sehen, mit dir sprechen.“
Sie atmete tief durch. „Warum habt ihr mich nicht gewollt?“ Lillian biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte es nicht wissen, wollte nur noch weg. Zurück in eine längst vergangene Zeit voller Liebe und Glück, welche in der Realität niemals existiert hatte.
Es schien als wollte er ihren Arm berühren, er zog die Hand jedoch wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. „Wir haben dich mehr als alles andere gewollt. Du hast meinem Leben endlich einen Sinn gegeben.“
Sie wich seinem Blick aus, fixierte ein parkendes Auto in der Ferne. „Ihr habt mich aber weggegeben.“ Lillian starrte auf ihre Hände, welche ihr plötzlich ungewöhnlich blass erschienen.
„Ich hätte dich niemals irgendwohin gegeben. Sarah verschwand eines Abends und hatte dich mitgenommen. Ich habe weder sie noch dich ausfindig machen können.“
Lillian runzelte die Stirn. Oksana hatte gesagt, dass Sarah alleine gekommen wäre. Aber warum? Warum hatte sie es getan? Sprach er die Wahrheit? Konnte sie ihm tatsächlich trauen? Konnte sie noch irgendjemanden trauen? „Wie hast du mich gefunden?“
Er zögerte. „Durch einen Zufall. Das ist eine komplizierte Geschichte...“ Er zog ein Foto aus seinem Portmonee und reichte es ihr. „Das ist sie. Sarah.“
Lillian betrachtete das Foto. „Ich muss gehen.“ Sagte sie schlieÃlich mit zitternder Stimme. Es schien höhnische Ironie, dass ausgerechnet sie ihren leiblichen Eltern äuÃerlich so ähnlich war.
Er nickte. „Hör mal, Lillian. Ich würde dich gerne besser kennen lernen. Es ist natürlich in Ordnung, wenn du keinen Kontakt wünscht.“ Er sah sich um. „Das Cafe dort wirkt sehr nett, es ist ein neutraler Ort. Ich werde übermorgen um halb zwei dort sein. Ãberlege dir, ob du kommen möchtest. Wenn nicht, ist das in Ordnung.“ Er betrachtete sie. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich wünsche dir alles Gute...“ Er hielt kurz inne. „Auch alles Gute zum Geburtstag.“
Lillian seufzte leise. Ihr Geburtstag. Sie wurde kommenden Montag achtzehn.
„Happy Birthday, mein Engelchen.“
Lillian blies die sieben Kerzen lachend aus. Alle aufeinmal. Ihre Eltern, ihre GrioÃmutter und ihre Freunde klatschten.
Es war der letzte Geburtstag mit ihren Eltern gewesen. Der letzte Geburtstag, welcher für sie zählte.
„Ãberlege es dir.“ Er schenkte ihr ein letztes, kurzes Lächeln, bevor er sich abwandte und die StraÃe hinunter ging. Sie blickte ihm nach bis er hinter einer Ecke verschwand. Lillian schüttelte den Kopf, als könne sie die unwirkliche Szene damit auslöschen. Sie dachte an die kleine Freude, das kleine Licht in ihrem Herzen, welches vor zwanzig Minuten noch existiert hatte. Es war ausgelöscht worden. Ihre Seele war erneut von einem dunklen Schatten umgeben. Sie bemerkte das Auto, welches eine Vollbremsung vor ihr machte, nicht. Ihr Körper zitterte, als ahnte er von dem furchtbaren Sog menschlicher Schicksale, in welchen er hineinschlittern würde. Es gab kein zurück mehr. Mit der Illusion war auch etwas anderes gebrochen.
„Lillian?“ Arturo runzelte die Stirn. Andere Autofahrer begannen zu hupen, weil sie nicht vorbei fahren konnten.
Lillian blickte hoch, in seine Augen. Es war, als wäre es nicht sie selbst, die ihn lächelnd begrüÃte und einstieg.
Der Motor heulte auf, als er los fuhr. „Alles in Ordnung?“ Fragte er, sie besorgt aus dem Augenwinkel betrachtend.
Und wieder war es, als würde jemand anderer sprechen. „Ja, entschuldige.“ Sie mühte sich um ein strahlendes Lächeln, welches ihr schlieÃlich gelang. „Ich habe mit Auszeichnung bestanden.“ Wie unwesentlich schien das nun. Ihr Blick fiel auf das Cafe, auf welches Eduardo vorhin gedeutet hatte. Sie dachte an Sarahs Brief, den Schnellhefter. „Was hältst du davon Eis essen zu gehen?“ Fragte sie.
„Du möchtest an diesem groÃen Tag mit einem Eis beginnen?“
„Was wäre denn eine Feier ohne Eiscreme?“ Wiederholte sie die Worte des einzigen Mannes, welcher ihr jemals ein Vater gewesen war.
Vielen, vielen Dank für eure wunderbaren Worte! Ich liebe eure Feedbacks!
Freut mich, dass euch meine Geschichte so gut gefällt. Ihr motiviert mich total.
@Anne:
Zitat:und das bevor ich für ne woche nicht da bin(fahre heute um 23.30 ins skilager nach lappach/südtirol)
War bestimmt lustig. Ich hoffe, du hattest viel SpaÃ!
Ich habe weiter geschrieben und poste gleich die beiden neuen Kapiteln. Ich hoffe, sie gefallen euch.
Hab euch lieb!
Schönen Tag noch!
Bussi Selene
33. Teil
Pasadena
Der orangerote Feuerball schien hinter dem Meer aus Palmen zu versinken. Bald würde der Tag erneut der Nacht weichen. Einer viel zu heiÃen Nacht. Darauf würde ein neuer Tag folgen. Unschuldig und jung. Erneut würde das Leben seinen ganz normalen Lauf nehmen. Ein Leben, welches so glücklich hätte sein können.
Penelope kuschelte sich an die Schulter ihres Mannes. Sie saÃen auf der alten Hollywoodschaukel und blätterten durch Fotoalben. Neben Penelope ruhte die Schuhschachtel, in welcher sie Fotos aufbewahrte, welche niemals ihren Weg in Alben gefunden hatten. Aus welchen Gründen auch immer.
„Die Hochzeit war wunderschön. Ohne dich wäre sie das nie gewesen.“ James strich ihr zärtlich durchs Haar.
Penelope betrachtete das Hochzeitsfoto von Chris und Darlene. Sie so nervös, er einfach nur glücklich. Penelope lächelte, als sie an die gelungene Feier, welche vor allem sie selbst organisiert hatte, dachte. Es war ein voller Erfolg gewesen. Das Brautpaar hatte ihr für ihren schönsten Tag im Leben gedankt. Dabei hatte Penelope ihrer Meinung nach nichts Besonderes gemacht. Sie hatte lediglich die Hochzeit ermöglicht, von welcher sie selbst als junges Mädchen geträumt hatte. Würde das nicht jede liebende Mutter tun?
Sie blätterten weiter und kamen endlich zu den Babyfotos von Nick, welche Penelope so vergötterte. Sie fuhr zärtlich über das pausbäckige Gesicht, achtete jedoch sorgsam darauf, dass ihr Finger keine Spur auf dem Foto hinterlassen würde. „Unser kleiner Liebling...“
James lächelte. „Kaum zu glauben, dass unser Enkelsohn nun schon in die zweite Klasse geht. Wir werden alt.“
„Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und glaube mir, niemals habe ich mich jünger gefühlt als in den letzten Jahren.“ Sie schlug das Album zu und legte es auf den Stapel am kleinen Gartentisch, welcher vor der Hollywoodschaukel stand. Sie wollte sich schon wieder an ihren Mann lehnen, als dieser auf die Schuhschachtel wies. „Was ist mit diesen.“
„Die sollte ich wohl mal einkleben...“ Penelope zog Stirn runzelnd den Stoà heraus. Oben auf lag ein Foto von der damals noch schwangeren Darlene. Sie hatten gemeinsam ein Picknick am Strand gemacht. Als Penelope James den Fotostapel reichte, rutschte eines aus der Mitte heraus und schwebte in das trockene Gras. Er bückte sich danach und besah es Stirn runzelnd.
Penelope lehnte sich lächelnd zu ihm. Ihr Lächeln gefror mit einem Mal als sie es erkannte. Sie fröstelte. James bemerkte es. Er legte den restlichen Stapel wieder in die Schachtel und stellte diese auf den Tisch. Sanft zog er seine Frau in die Arme, das Foto noch immer in der linken Hand haltend. Penelope hatte den Blich geradeaus gerichtet. Sie spürte die Berührung nicht. Erst als er sich wieder langsam von ihr löste, sah sie ihn an.
„Das ist sie, nicht wahr?“
Penelope nickte langsam und betrachtete die strahlende Braut in dem weiÃen Kleid, welches mit unzähligen Perlen bestickt war. Sie trug nur einen kurzen Schleier. Ihr helles Haar, zu sanften Locken gedreht, strömte über die Schultern, beinahe bis zu ihrer schmalen Taille. Penelope hatte ihr das Haar gemacht.
„Sie war sehr hübsch.“ Meinte James anerkennend.
„Sie war die schönste Braut der Welt.“ Erwiderte Penelope leise. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Der Schmerz war zurückgekehrt. Erneut drohte er sie mit sich zu reiÃen. In eine unergründliche Tiefe.
James drückte ihre Hand. Er runzelte die Stirn und begann zögernd: „Sie wirkt sehr jung auf dem Foto? Wie alt war sie? Wahrscheinlich gerade achtzehn geworden?“
Penelope seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Sarah war sechzehn. Gerade mal sechzehn.“
Er nickte leicht, wagte keine weiteren Fragen zu stellen.
„Ãber die Jahre hinweg habe ich mir immer wieder eine Frage gestellt: Was für Eltern sind das, die ihrer erst sechzehnjährigen Tochter gestatten zu heiraten und mit einem Mann, den sie doch kaum kannten, einfach in ein fernes Land zu gehen? Sie brauchte deren Einwilligung. Zumindest die eines Elternteils. Was für Eltern sind das, die so etwas gestatten?“
James reagierte nicht, wusste nicht, was zu antworten.
Penelope hatte den Blick noch immer auf das Foto gerichtet. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte meine Tochter abgehalten von so einer Dummheit. Ihr Blick wanderte zu dem jungen Mann neben Sarah. Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt. Scheinbar schützend.
Die Bilder rannen erneut wie ein Film vor ihren Augen ab. Sie wollte sich wehren, wurde jedoch von ihnen überwältigt.
„Wo ist sie?!“
„Ich habe dir alles gesagt, was ich weiÃ.“
Er trat näher. In seinen Augen spiegelte sich blanke Wut. „Sag mir sofort, wo sie das Kind hingebracht hat!“
Sie stemmte die Arme in die Hüften. „Was hast du sonst vor? Willst du Hand gegen mich erheben? Gegen die Frau, welche dir stets mehr Mutter gewesen ist, als deine eigene hätte sein können? Das wagst du nicht. Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiÃ.“
James legte das Foto zurück in die Schachtel und zog Penelope in seine Arme. „Entschuldige. Ich hätte nicht fragen dürfen...“ Er strich über ihre zitternden Arme. „Bist du dir wirklich sicher, dass du nächste Woche nach Los Angeles fahren möchtest?“
Sie nickte entschlossen. „Salvador hätte es so gewollt.“
James runzelte die Stirn. Sein Herz quälte seit ihrer überstürzten Abreise aus Bogotá eine Frage, welche er jedoch niemals zu stellen gewagt hatte.
„Aber vor allem mache ich es für Eduardo. Er braucht mich. Trotz allem, was passiert ist, ist er immer noch mein Sohn.“ Sie atmete tief durch. „Hinter dieser berechnenden Fassade steckt in Wirklichkeit ein kleiner Junge, welchem niemals gestattet worden war, frei zu sein. Zu leben. Der Schatten seines nun verstorbenen Vaters hatte ihn immer zu erdrücken bedroht. Aber das entschuldigt nichts...“ Sie warf einen letzten Blick auf das Foto, bevor sie die Schachtel schloss. „...rein gar nichts.“
34. Teil
Lillian
New York City
Die Sonne glühte auf ihren Schultern. Sie betrachtete lächelnd die verstaubten Stufen des Gebäudes und erinnerte sich an den Tag, an welchem sie es zum ersten Mal betreten hatte. Eine kleine Freude beschlich ihr Herz, zum ersten Mal seit vielen Wochen wagte sie es, zumindest für einen kurzen Moment, wieder glücklich zu sein. Lillian hatte ihre Prüfungen mit Auszeichnung bestanden. In etwa einer viertel Stunde würde Arturo sie abholen. Sie atmete lächelnd den Duft des Sommers ein. Ihr Herz schien einen Moment wie befreit. Voller Freude über ihren Erfolg und voller Liebe zu Arturo. Doch diese heile Welt würde nicht lange bestehen, das wusste sie. Es konnte nichts bestehen, was nicht existierte. Die Schwere würde ihr Herz schon bald erneut erfassen. Mit jedem Mal schmerzte es mehr. Sie wagte beinahe nicht mehr, ein Gefühl von Freude zuzulassen.
„Hey! Lillian, nicht?“ Sie blickte auf. Eine junge Frau ihres Alters lieà sich neben ihr auf die Stufen fallen. Lillian entsann sich, dass ihr Name Nancy war und sie gemeinsam in Mathematik graduiert hatten. Sie hatten während der High School Zeit nicht viel miteinander gesprochen. Lillian hatte keine Freunde auf der Schule gehabt. Viele hatten sie aufgrund ihrer Herkunft nur verächtlich betrachtet, andere hatten sich von ihrer scheinbar arroganten Schutzmauer abgeschreckt gefühlt. Lillian wusste nicht, zu welcher Gruppe Nancy gehörte. Sie mühte sich um ein kurzes Lächeln. „Hi.“
„Gratuliere. Du hast mit Auszeichnung bestanden. Das ist groÃartig!“ Nancy schien es ehrlich zu meinen. „Ich habe leider eher mittelmäÃig bestanden, aber ich habe bestanden.“ Sie zuckte lachend mit den Schultern.
Lillian wusste nicht was zu antworten. Sie war an Gespräche dieser Art nicht gewöhnt und daher sehr unsicher darin. „Die Prüfungen waren auch wirklich schwierig.“
Nancy nickte eifrig. „Oh ja...der reinste Horror. Wirst du im Herbst aufs College gehen? Mit deinen Noten reiÃen sich gewiss die Eliteuniversitäten um dich.“
Lillian betrachtete Nancy Stirn runzelnd. An ihrem Blick war nichts Spöttisches. Anscheinend war sie lediglich sehr naiv. „Ich muss mich erst entscheiden.“ Der Schatten um Lillians Herz verdunkelte sich. Sie hatte mit Auszeichnung bestanden und was brachte es ihr? Kein College war bis jetzt bereit gewesen, ihr ein Stipendium zu gewähren. Sie würde wohl nicht nur über den Sommer in der kleinen Bar in der Nähe von ihrer Wohnung arbeiten müssen.
Nancy nickte eifrig. „Es ist gewiss schwierig. Meine Familie hat es geschafft mich zu Princeton zu überreden. Sie alle waren dort, auÃer meiner Tante. Sie war in Yale.“
Lillian runzelte die Stirn. Eine Wut erfasste sie. Sie versuchte freundlich zu bleiben, schlieÃlich konnte Nancy nichts für den offensichtlichen Reichtum und Einfluss ihrer Familie. „Princeton ist eine tolle Universität.“ Sie mühte sich um ein Lächeln.
Nancy zuckte mit den Schultern. „Mir ist es gleichgültig, wo ich studiere. Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht. Jetzt kommt erst mal der Sommer, nicht? Wir feiern heute Abend in Downtown, im Magic Nights. Möchtest du nicht mit uns kommen?“
Lillian seufzte leise. Nancys Gesellschaft nervte sie zunehmend. Sie hatte die Minuten bevor sie Arturo abholen würde allein verbringen, ihren Gedanken nachgehen wollen. „Ich habe leider schon etwas vor, entschuldige.“ Antwortete sie höflich.
Nancy nickte. „Ich hätte früher fragen sollen. Ich war ehrlich gesagt immer etwas unsicher. Du hast oft so traurig gewirkt...nachdenklich.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich wusste nicht, ob du überhaupt angesprochen werden wolltest.“
Lillian musterte sie überrascht.
Nancy fuhr sogleich fort. „Lächerlich, ich weiÃ. Ich hätte einfach meinen Mund aufmachen sollen.“ Sie schüttelte den Kopf.
Plötzlich hielt ein Auto vor dem Schuldgebäude. Nancy erhob sich zögernd. „Ich muss leider los. Das ist meine Mutter. Man sieht sich, okay?“
Lillian nickte leicht, bezweifelte jedoch Nancy wieder zu treffen. Dennoch wollte sie freundlich auf die höfliche Floskel reagieren. „Klar. Machs gut.“
„Alles gute, Lillian.“ Nancy verschwand mit einem kurzen Lächeln im Auto, welches sogleich weiter fuhr.
Das Gespräch hatte Lillian merkwürdig berührt, sie konnte sich nicht erklären, wieso. Sie hielt es nicht mehr aus zu sitzen und ging ein paar Meter die StraÃe hinunter. An eine Mauer gelehnt kramte sie in ihrer Tasche nach dem Zigarettenpäckchen, welches sie vor den Prüfungen gekauft hatte. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie einen schwarz gekleideten Mann, welchen sie schon vorher kurz gesehen hatte. Offensichtlich suchte er nach einer StraÃe oder einem Gebäude. Lillian überlegte kurz ihm seine Hilfe anzubieten, schlieÃlich kannte sie die Gegend sehr gut, entschied sich dann aber dagegen. Er sollte fragen, benötigte er Hilfe. Lillian zog eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte es zurück in das seitliche Fach der Tasche. Sie fluchte laut, als sie das Feuerzeug nicht fand. Offenbar hatte sie es schon wieder irgendwo verloren oder zuhause vergessen. Sie war einfach nicht bei der Sache zurzeit.
„Brauchst du Feuer?“
Lillian blickte verwundert auf. Sie hatte nicht gehört, dass der Mann näher getreten war.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sein Feuerzeug aus der Hosentasche und reichte es ihr.
Sie ergriff es zögernd und betrachtete ihn Stirn runzelnd. Irgendetwas irritierte sie an seiner Stimme. Lillian betrachtete sein Gesicht. Er hatte feine, jedoch sehr männliche Gesichtszüge. Die Augen waren von einer schwarzen Sonnenbrille verdeckt. Seine Haut hatte einen sanften hellbraunen Ton. Er hatte sie auf Englisch angesprochen, jedoch mit einem Akzent, welcher ihr bekannt war. Möglicherweise war seine Herkunft derer ihrer Eltern oder Arturos ähnlich.
„Danke.“ Sie ergriff es und versuchte sein Alter zu schätzen. Mitte oder Ende dreiÃig, vielleicht aber auch ein wenig älter. Lillian zündete die Zigarette an und gab ihm das Feuerzeug zurück. Er steckte es in die Hosentasche. „Heute ist ein sehr warmer Tag, nicht?“
Sie runzelte die Stirn. Er hatte ihr lediglich Feuer angeboten. Erwartete er nun, dass sie sich mit ihm unterhielt? Sie wünschte sich Nancy zurück. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass Arturo in ein paar Minuten da sein würde. Sie seufzte leise. Er hatte sie vorgewarnt, dass die Lieferung möglicherweise länger dauern könnte, dennoch hatte sie gesagt, sie würde bei der Schule auf ihn warten. „Ja, sehr warm.“ Ihr Blick wanderte zu Passanten und Autos, welche mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die StraÃe rasten. Sie dachte an ihren Vater. Auch er war immer zu schnell gefahren. Lillian spürte eine spitze Nadel, welche die Wunde auf ihrem Herzen, ihrer Seele erneut reizte. Sie zuckte angesichts des Schmerzes zusammen.
Wenn du deinen Abschluss gemacht hast, werden wir ganz groà feiern. Hatte Jorge der damals erst sechsjährigen Lillian nach ihrem ersten Schultag versprochen. Das Mädchen hatte geweint, weil sie nie wieder zur Schule wollte.
„Essen wir dann Eiscreme?“
„Natürlich, mein Kleines. Was wäre denn eine Feier ohne Eiscreme?“
„Und Bonbons?“
„Und Bonbons.“
„Und Marshmellows? Und Pizza? Und Lakritze?“
Er strich ihr lachend über den Kopf. Froh, dass sie nicht mehr schluchzte. „Alles, was du möchtest, mein Schatz.“
Sie umarmte ihren Vater fröhlich. „Wann mache ich denn endlich meinen Abschluss?“
Rosa stemmte die Arme in die Hüften. „Jorge, hältst du das für die geeignetste Methode ein Kind für die Schule zu motivieren?“ Sie versuchte streng zu blicken, konnte das Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, jedoch nicht verbergen.
Lillian brauchte keine Eiscreme. Sie brauchte keine Feier. Sie brauchte nur ihre Eltern. Lillian stellte sich vor, wie es wäre, wenn nun ein Auto vor ihr halten würde. Jorge würde ihr lachend zuwinken und ihr deuten einzusteigen.
„Unnatürlich für New York City.“
Lillian fuhr aus ihren Gedanken. Warum wollte dieser Fremde sich unbedingt mit ihr unterhalten? Interessierte er sich etwa für Frauen ihres Alters? Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und wünschte sich ihren Vater noch mehr her. Er würde diesem Typ die Meinung sagen. „Tja. Der Klimawandel hat schon lange begonnen. Ich muss leider los. Es war sehr nett sich mit Ihnen zu unterhalten.“ Sie wollte sich schon abwenden, als seine Stimme plötzlich sanfter wurde. „Lillian...warte...“
Sie zuckte zusammen. Ihr wurde plötzlich bewusst, warum die Stimme sie so irritiert hatte. Sie kannte sie. Erneut dachte sie an ihre geliebten Eltern. Vergangene Tage. Illusion. Ihr Leben war reine Illusion. „Sie verwechseln mich. Das sagte ich bereits am Telefon. Ich ersuche Sie ein letztes Mal mich endlich in Ruhe zu lassen.“ Sagte sie so ruhig wie möglich. Innerlich brodelte sie jedoch vor Wut. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein?
Trotz ihrer kalten Stimme betrachtete er sie lächelnd. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er nahm die Sonnenbrille ab. „Ich wollte schon vor ein paar Tagen persönlich mit dir sprechen. Lillian...“ Er betrachtete sie eingehend, seine Augen durchzog ein sanfter Glanz. „...du bist deiner Mutter so ähnlich. Ihr habt dieselben weichen, ebenmäÃigen Gesichtszüge. Sogar deine Stimme gleicht der ihren.“
Die Schwere auf ihrem Herzen trieb ihr Tränen in die Augen. Sie schluckte und versuchte diese zurückzuhalten. Lillian hatte es versucht zu verdrängen, zu vergessen. Doch es war vergeblich gewesen. In diesem Moment wurde es ihr stärker bewusst denn je. Die Illusion brach endgültig in tausende Scherben, wie das dünne Glas eines Spiegels. Sie hatte in seine Augen gesehen und es war, als wären es ihre eigenen gewesen. Sie dachte an ihre Eltern. Die Lügen. Das Gefühl nirgendwo hinzugehören. Weder nach Brooklyn noch nach Spanish Harlem. Die Nadeln drangen tiefer in das zitternde Herz. Für einen Moment vergaà sie zu atmen. „Bitte...bitte lassen Sie mich in Ruhe.“ Ihre Stimme bebte.
Er runzelte die Stirn, nickte schlieÃlich leicht. „Es tut mir leid. Es war egoistisch einfach hier herzukommen. Ich hatte so viele Jahre nach dir gesucht, wusste nicht, wie es dir geht, wo du bist. Ich musste dich einfach sehen, mit dir sprechen.“
Sie atmete tief durch. „Warum habt ihr mich nicht gewollt?“ Lillian biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte es nicht wissen, wollte nur noch weg. Zurück in eine längst vergangene Zeit voller Liebe und Glück, welche in der Realität niemals existiert hatte.
Es schien als wollte er ihren Arm berühren, er zog die Hand jedoch wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. „Wir haben dich mehr als alles andere gewollt. Du hast meinem Leben endlich einen Sinn gegeben.“
Sie wich seinem Blick aus, fixierte ein parkendes Auto in der Ferne. „Ihr habt mich aber weggegeben.“ Lillian starrte auf ihre Hände, welche ihr plötzlich ungewöhnlich blass erschienen.
„Ich hätte dich niemals irgendwohin gegeben. Sarah verschwand eines Abends und hatte dich mitgenommen. Ich habe weder sie noch dich ausfindig machen können.“
Lillian runzelte die Stirn. Oksana hatte gesagt, dass Sarah alleine gekommen wäre. Aber warum? Warum hatte sie es getan? Sprach er die Wahrheit? Konnte sie ihm tatsächlich trauen? Konnte sie noch irgendjemanden trauen? „Wie hast du mich gefunden?“
Er zögerte. „Durch einen Zufall. Das ist eine komplizierte Geschichte...“ Er zog ein Foto aus seinem Portmonee und reichte es ihr. „Das ist sie. Sarah.“
Lillian betrachtete das Foto. „Ich muss gehen.“ Sagte sie schlieÃlich mit zitternder Stimme. Es schien höhnische Ironie, dass ausgerechnet sie ihren leiblichen Eltern äuÃerlich so ähnlich war.
Er nickte. „Hör mal, Lillian. Ich würde dich gerne besser kennen lernen. Es ist natürlich in Ordnung, wenn du keinen Kontakt wünscht.“ Er sah sich um. „Das Cafe dort wirkt sehr nett, es ist ein neutraler Ort. Ich werde übermorgen um halb zwei dort sein. Ãberlege dir, ob du kommen möchtest. Wenn nicht, ist das in Ordnung.“ Er betrachtete sie. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich wünsche dir alles Gute...“ Er hielt kurz inne. „Auch alles Gute zum Geburtstag.“
Lillian seufzte leise. Ihr Geburtstag. Sie wurde kommenden Montag achtzehn.
„Happy Birthday, mein Engelchen.“
Lillian blies die sieben Kerzen lachend aus. Alle aufeinmal. Ihre Eltern, ihre GrioÃmutter und ihre Freunde klatschten.
Es war der letzte Geburtstag mit ihren Eltern gewesen. Der letzte Geburtstag, welcher für sie zählte.
„Ãberlege es dir.“ Er schenkte ihr ein letztes, kurzes Lächeln, bevor er sich abwandte und die StraÃe hinunter ging. Sie blickte ihm nach bis er hinter einer Ecke verschwand. Lillian schüttelte den Kopf, als könne sie die unwirkliche Szene damit auslöschen. Sie dachte an die kleine Freude, das kleine Licht in ihrem Herzen, welches vor zwanzig Minuten noch existiert hatte. Es war ausgelöscht worden. Ihre Seele war erneut von einem dunklen Schatten umgeben. Sie bemerkte das Auto, welches eine Vollbremsung vor ihr machte, nicht. Ihr Körper zitterte, als ahnte er von dem furchtbaren Sog menschlicher Schicksale, in welchen er hineinschlittern würde. Es gab kein zurück mehr. Mit der Illusion war auch etwas anderes gebrochen.
„Lillian?“ Arturo runzelte die Stirn. Andere Autofahrer begannen zu hupen, weil sie nicht vorbei fahren konnten.
Lillian blickte hoch, in seine Augen. Es war, als wäre es nicht sie selbst, die ihn lächelnd begrüÃte und einstieg.
Der Motor heulte auf, als er los fuhr. „Alles in Ordnung?“ Fragte er, sie besorgt aus dem Augenwinkel betrachtend.
Und wieder war es, als würde jemand anderer sprechen. „Ja, entschuldige.“ Sie mühte sich um ein strahlendes Lächeln, welches ihr schlieÃlich gelang. „Ich habe mit Auszeichnung bestanden.“ Wie unwesentlich schien das nun. Ihr Blick fiel auf das Cafe, auf welches Eduardo vorhin gedeutet hatte. Sie dachte an Sarahs Brief, den Schnellhefter. „Was hältst du davon Eis essen zu gehen?“ Fragte sie.
„Du möchtest an diesem groÃen Tag mit einem Eis beginnen?“
„Was wäre denn eine Feier ohne Eiscreme?“ Wiederholte sie die Worte des einzigen Mannes, welcher ihr jemals ein Vater gewesen war.