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Normale Version: Nachtigallen (Dark)
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Selene

Hallo ihr Lieben!

So, da bin ich wieder mal :biggrin:

Der Gedanke für diese Geschichte schwebt mir schon Ewigkeiten im Kopf rum, nun habe ich endlich begonnen, sie nieder zu schreiben. Selbstverständlich werden auch meine anderen Geschichten weiter gehen.

Ich bin etwas unsicher, wie diese Geschichte hier ankommen wird, da sie nichts mit GG zu tun hat. Da aber hier auch schon andre ihre Out-of-GG Stories gepostet haben, dachte ich mir, ich probiers mal und werde auf jeden fall die ersten Teile posten, damit ihr euch ein Bild machen könnt. Sollte euch die Story gefallen, geht sie auch hier weiter.

Feedbacks sind also sehr erwünscht Smile

Liebe Grüße,
Selene


Titel: Nachtigallen
Autor: Selene
Genre: Drama/Romance/Thriller
Raiting: R-16
Plot: Als Lillian zehn Jahre nach dem Tod ihrer geliebten Adoptiveltern erfährt, dass sie adoptiert wurde, begibt sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und lernt dabei nicht nur über die Geschichte ihrer Mutter, sondern auch über ihre eigene. Ereignisse überschlagen sich und die Schatten der Vergangenheit drohen auch sie hinabzureißen in die unendlichen Tiefen des Ozeans.
Disclaimer: Alle Personen sind meiner Fantasie entsprungen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.
Sonstige Bemerkungen/Spoilerwarnung: Freu mich über Feedback jederart, denn nur so kann ich meinen Schreibstil und die Geschichte verbessern.



So, jetzt gehts los:




Kalt ist der Morgen und trüb', es tönt durch die bebenden Zweige
nur der Nachtigall Lied mild in dem brausenden Sturm;
wunderbar lauschet der Hain: so tönt durch die Stürme des Lebens
nur der Liebe Accent, alles verklärend, hindurch.
Sophie Mereau



Prolog

Der Schnee knirschte, als sie den schmalen Weg entlang lief. Die klirrende Kälte erfasste ihre Glieder, ihre Ohren und Wangen begannen zu ertauben. Sie hatte kaum mehr ein Gefühl in den Fingern, als sie das kleine Bündel an sich presste. Ihr kamen nur wenige beruhigende Worte über die Lippen, ihre Stimme versagte. Sie kannte den Weg. Man hatte ihn ihr genau beschrieben. Geahnt hatten sie jedoch nicht, wie schnell sie ihn tatsächlich nutzen musste.
Der Mond verlieh ihrem hellen Haar einen gerade zu betörenden Glanz. Sie hielt kurz um die herausgerutschten Haarsträhnen unter die schwarze Wollhaube zu stecken. Keinesfalls durfte auch nur irgendjemand ahnen, wer sie war. Obwohl ihre Füße ersteift waren, versuchte sie, so schnell es nur ging das große Gebäude zu erreichen. Man hatte ihr geraten den Hintereingang zu benützen, es war sicherer. Die Tür war alt und rostig. Sie drehte sich nochmals kurz um, bevor sie klopfte.
Es dauerte kaum zwei Minuten, dass ihr geöffnet wurde. Die Krankenschwester trug eine sehr traditionelle weiße Uniform, ihr Haar war schon leicht ergraut. Sie musterte ihr gegenüber mitleidig. Keine Spur von Vorwürfen. „Kommen Sie doch herein!“ Forderte die Krankenschwester sie lächelnd auf. „Wollen Sie einen Tee?“
Die junge Frau trat zögernd ein. Ihre Glieder entspannten sich, kaum hatte sie den warmen Vorraum betreten. Der Geruch von heißen Getränken und Lavendel stieg ihr in die Nase. Vor ihr lag ein langer weißer Gang, dessen Wände mit bunten Bilder, Zeichnungen und Landschaftsfotografien, behängt waren. Eine junge Krankenschwester ging gerade von einem Zimmer in das andere.
„Kommen Sie.“ Die ältere Dame wies auf einen Raum gleich rechts neben dem Hintereingang. Sie wollte, dass das Mädchen vorging. So als hätte sie Angst, es könnte es sich anders überlegen und weglaufen.
Der Raum war sehr freundlich eingerichtet. Es gab eine kleine Kochnische und gegenüber dieser stand ein kleiner Tisch, um welchen vier Stühle aufgestellt worden waren.
„Darf ich?“ Die Krankenschwester nahm das kleine Bündel und betrachtete es liebevoll, während sich das Mädchen des Mantels und der Handschuhe entledigte.
„Setzen Sie sich. Tee?“
„Nein…danke. Ich…ich habe keine Zeit…“ Sie blickte auf ihre Schuhspitzen.
Die Frau trat näher, reichte ihr das Baby. „Wie heißen Sie?“
Das Mädchen wich den Blick nicht von seiner Tochter, streichelte ihr sanft über die Wangen und durch den hellen Haarflaum. Das Baby hatte die Augen seines Vaters. Dieselben Augen, welche fähig waren, andere willenlos zu machen. Die junge Frau hatte inständig gebeten, dass die Kleine dunkelhaarig werden würde, doch ihre hellen Gene hatten sich durchgesetzt.
„Ein schönes Kind.“ Die Krankenschwester lächelte.
Das Mädchen unterdrückte die aufkeimenden Tränen. „Sie ist das schönste Kind, das ich jemals gesehen habe.“
Die ältere Frau strich ihm sanft über den Arm. „Mein Name ist Agatha. Verraten Sie mir Ihren?“
„Melissa.“ Log sie.
„Ein schöner Name. Wie alt sind Sie?“
„Diesen Dezember werde ich zweiundzwanzig.“ Auch das entsprach nicht der Wahrheit. Sie wurde erst zwanzig.
Plötzlich betrat eine junge Frau, etwa in Melissas richtigem Alter, den Raum. Sie musterte das Baby entzückt. „Bist du aber süß.“ Ohne die anderen zu beachten, ging sie auf das Kind zu und ergriff dessen kleine Hand. „Hallo.“
„Das ist meine jüngste Tochter. Oksana, das ist Melissa. Oksana hilft bereits im Krankenhaus mit, möchte einmal Medizin studieren.“ Erzählte Agatha stolz.
Melissa nickte. „Freut mich.“ Sie reichte ihr die Hand.
Oksana musterte sie nachdenklich. Sie war wahrscheinlich kaum älter als sie selbst, strahlte aber so viel Erfahrenheit aus. Was mochte ihr wohl passiert sein, dass sie dieses niedliche Baby abgab? Ehrlich wie sie war, begann sie sogleich. „Können wir dir helfen? Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, dass du das Kind behaltest?“
Agatha warf ihr einen warnenden Blick zu. Nach einigen schlechten Erfahrungen hielt sie nichts mehr von zu großen Hilfeleistungen. Sie war dafür zuständig neue Eltern für das Kind zu finden. Das musste genügen.
Melissa wich ihren Blicken aus. „Nein. Das hier ist die einzige Möglichkeit.“ Das auszusprechen brach ihr das Herz. Es war endgültig. Es gab kein Zurück mehr. Der Druck auf ihrem Herzen begann ihr die Luft zu nehmen. „Ich will, dass sie es besser hat…sicher ist…außerdem möchte ich anonym bleiben….“
„Wir würden Ihre Daten sicher verwahren. Sie können uns vertrauen. Die Daten sind wichtig, sollte Ihre Tochter Sie eines Tages finden wollen.“ Erklärte Agatha mit beruhigender Stimme. Oksana drückte Melissas Hand. Sie wollte ihr so gerne helfen.
Melissa senkte den Blick und atmete tief durch. Eine einzelne Träne rann über ihre blasse Wange. Sie holte ein Kuvert aus ihrer Tasche und reichte es Oksana. „Sollte sie mich eines Tages tatsächlich suchen, wird sie ihr Weg wahrscheinlich zu dir führen…“ Sie blickte sie flehend an. Diesem Mädchen zu vertrauen war ihre einzige Möglichkeit. „…gib ihr das. Es ist wichtig. Sollte sie aber niemals nach mir suchen, umso besser. Und eines noch…“ Diesmal wandte sie sich an Agatha.
„…sie soll an die ersten liebevollen, geeigneten Eltern übergeben werden. Und…“ Ihre Stimme begann zu beben, sie blickte auf das Bild gegenüber, welches einen rot-orangen Sonnenuntergang zeigte. „…ihr Name ist Lillian.“ Mit Tränen in den Augen drückte sie das Baby noch ein letztes Mal an sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Oksana nahm nach einer Zeit war, dass Melissa nicht leise sprach, sondern ein Lied in einer fremden Sprache sang. Sie wiegte ihr Kind sanft.
Oksana tauschte einen Blick mit ihrer Mutter, welche ebenfalls Tränen in den Augen hatte. Melissa gab ihr Kind nicht einfach so her. Sie hatte tatsächlich keine andere Wahl, das spürte die Krankenschwester nun.
„Lillian wird die besten Eltern bekommen.“ Versprach Oksana mit erstickter Stimme. Trotz Melissas starker Ausstrahlung, wirkte diese nun so hilflos.
„Ich weiß.“ Melissa schenkte Oksana ein leichtes Lächeln. Sie hatte der Tochter der Krankenschwester sofort vertraut. Das gute Menschenkenntnis Melissas Mutter hatte sich diesmal wohl durchgesetzte.
„Du singst sehr schön.“ Lobte Oksana.
Melissa betrachtete ihr Baby ein letztes Mal. „Danke.“ Ihre Hände zitterten, als sie es Oksana reichte. „Meine Mutter hat das immer für mich gesungen.“ Sie ging zum Garderobenständer und zog sich schnell an.
„Melissa, Sie können bei uns noch eine Weile bleiben. Sie sind hier sicher.“ Agatha berührte sanft ihren Arm.
Melissa schüttelte den Kopf. „Ich muss gehen. Achten Sie bitte auf Lillian. Sie ist das Einzige, das ich jemals hatte.“
„Das werden wir.“ Versprach Agatha.
Melissa warf ihnen noch einen letzten, dankbaren Blick zu, bevor sie für immer verschwand.
Es dauerte einen Moment bis sich Oksana wieder gefangen hatte. „Mama, wir müssen ihr nach! Sie wird sich etwas antun!“
„Oksana! Klopfe sofort auf Holz! So etwas sagt man nicht! Schon gar nicht vor Lillian. Sie versteht jedes Wort.“
Oksana hielt diese abergläubischen Rituale für Zeitverschwendung, gehorchte aber ihrer Mutter. „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“
Agatha wandte sich von ihr ab, damit sie ihre Tränen nicht sehen konnte. „Oksana, unsere einzige Aufgabe ist das Baby. Sie wollte keine weitere Hilfe und wir hätten ihr diese auch nicht geben können... Da war doch dieses wohlhabende Paar aus Paris, welches keine eigenen Kinder bekommen kann…“
Oksana verzog den Mund. „Das sind keine guten Menschen. Hast du nicht genau hingesehen, Mutter?“ Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. Sie strich Lillian über die rosigen Wangen. „Weißt du noch? Dieses Ehepaar aus New York City! Sie warten schon seit einem Jahr! Die beiden wirken liebevoll und ehrlich. Außerdem haben sie den Aufstieg von Spanish Harlem in ein wohlhabendes Mittelschichtviertel Brooklyns geschafft! Die beiden wären bessere Vorbilder als zwei arrogante, bereits reich geborene, Franzosen!“

Melissa blickte auf die Tiefen des Meeres unter ihr. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer gläubigen Großmutter und flüsterte. „Beschützt sie. Sie soll ihren Weg gehen und glücklich werden.“ Zitternd kletterte sie auf die hölzerne Brüstung. Bevor der dunkle Ozean sie verschlang, flüsterte sie noch einmal die letzte Zeile des Liedes.

Selene

Hallo!

Hm...das Interesse scheint sich in diesem Forum ja (noch) in Grenzen zu halten Unsure

Wie gesagt, freu mich über jede Art Feedback, also auch über konstruktive Kritik.

Na gut, ich werd heute voraussichtlich trotzdem noch einen Teil posten. Sollte dann doch Interesse bestehen, werde ich alle künftigen Teile auch hier rein stellen.

LG Selene
Nach einem Teil kann man ja meistens noch nicht so genau FB geben, aber ich finde die geschichte hört sich sehr interessant an und ich werde auf jeden fall auf den 2. Teil warten.
Du beschreibst die Personen echt gut und es wirkt irgendwie auch realistisch so wie du es geschrieben hast was die Geschichte für mich spannender macht.

Sry aber ich bin als nicht so gut im FB geben ...

Selene

Hallo!

@^hanna^: Danke schön für dein Feedback. Hab mich sehr darüber gefreut!

@alle: Poste gleich den nächsten Teil, hoffe, er gefällt euch. Muss dazu sagen, dass der Teil großteils noch ein Einleitungsteil ist, der aber sehr wichtig für kommende Teile sein wird.

Ich werde die Geschichte aufjedenfall fertig schreiben, da ich sie ja auch in einem andren Forum reinstelle. Also sagt mir bitte, wenn auch ihr Interesse an den weiteren Teilen habt.

Ich freu mich über jedes Feedback - positives, sowie konstruktiv kritisierendes. Schließlich will ich mich ja verbessern Smile

Gute Nacht

LG Selene


1. Teil

New York City, 17 Jahre später

Die kleine Bar war in den fünfziger Jahren das beliebteste Tanzlokal in Spanish Harlem gewesen. Dienstags, donnerstags und samstags war der Keller geöffnet worden und die jungen Leute hatten sich nach unten gedrängt um für wenige Stunden die Welt zu vergessen und einfach nur zu tanzen. Die obere Bar war jedoch täglich von zehn Uhr vormittags bis zwei Uhr nachts geöffnet. Verschiedenste Menschen waren gekommen um das Ambiente von sanftem Licht, gemütlichen Sitzecken, der Bar mit ihren sechs Barhockern und den mit vielen Bildern geschmückten Wänden zu genießen. Im Hintergrund waren stets alte kubanische Platten gelaufen. Die Bar hatte eine gute, jedoch eher bescheidene, Auswahl von Cocktails, antialkoholischen Getränken und Imbissen geboten. Trotzdem waren die Menschen immer wie magisch von den roten Leuchtlettern über dem Eingang angezogen worden.
Nach dem Tode des Besitzers der Flamenco Bar, mitte der achtziger Jahre, und der Übernahme seines Sohnes, war das ehemals hohe Niveau der Bar immer weiter gesunken. Angefangen von den fehlenden Lettern über den Eingang, wodurch die Bar nur noch Flenco Br hieß, bis zu der merkwürdigen Popmusik, welche nun aus dieser auf die Straßen Spanish Harlems drang. Die ehemals pastellorange Fassade war nun eher grau und mit unzähligen bunten Graffitis, welche - wie Lillians Großmutter zu sagen pflegte – ordinäres sowie gottloses Zeug aussagten, besprüht. Auch sonst erinnerte nichts mehr an das ehemalige Flair. Der Stoff der Lehnstühle und Sofas war gerissen, die Barhocker wacklig. Die Tanzabende gab es nicht mehr, aus dem seit Jahren ungenützten Keller kamen eigenartige Gerüche. Es war völlig gleichgültig, ob man eine Piña Colada oder einen Long Island Ice Tea bestellte. Man bekam sowieso nur einen billig gemixten Fruchtcocktail, welcher dem Gewünschten nicht einmal annähernd glich. Auch die anderen Getränke und Speisen waren eher Qual als Genuss. Mit der Bar hatten sich auch die Besucher geändert. Es waren vorwiegend alte und zwielichtige Personen. Hätte Mr. Sanchez, möge er in Frieden ruhen, das gewusst, hätte er sich gewiss im Grab umgedreht. Er hatte seinen Sohn die Bar übergeben, in der Hoffnung, dieser würde den alten Zauber aufrechterhalten.
Jener stand nun gleichgültig einer hübschen, jungen Frau gegenüber, welche die Kaffeetasse erbost auf der Theke abstellte und mit dem Zeigefinger darauf wies.
„Wollen Sie mich verarschen?“ Fuhr sie ihn an. „Für dieses Gesöff habe ich letzte Woche noch dreißig Cent weniger bezahlt!“
„Die Inflation betrifft auch uns.“ Er musterte sie verächtlich.
Sie runzelte wütend die Stirn. „Das ist keine Inflation. Das ist Ausnehmung. Brutale Ausnehmung von Menschen, welche ohnehin nur wenig besitzen.“
Er lachte. „Beruhige dich, Kleine. Lass dich doch von deinem Freund einladen, wenn du es dir nicht leisten kannst!“
„Das ist ja wohl die Höhe!“ Sie kramte kopfschüttelnd in ihrer kleinen Geldbörse und legte den exakten Betrag auf den Tresen.
Er musterte sie triumphierend.
Lillian verkniff sich den Kommentar, welcher ihr auf der Zunge lag, griff nach ihren Büchern und verließ fluchend die Bar. Ohne auch nur eine Menschenseele wahrzunehmen, lief sie die schmutzige Straße entlang. Sie stoppte widerwillig vor dem Zebrastreifen und musterte die Werbetafeln auf der gegenüberliegenden Hausmauer. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass ein Auto in ihrer Nähe gehalten hatte. Die Worte, welche ihr der Fahrer zurief, wurden von dem lauten Hupkonzert der Autofahrer hinter ihm übertönt.
„Verdammt, Lilly, schieb sofort deinen süßen Po her!“ Rief er nun lauter.
Lillian zuckte beim Klang des verhassten Spitznamens zusammen. Sie wandte ihren Blick von der Mauer. Als sie den Fahrer erkannte, lief sie zu seinem Auto und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. „Du kannst doch hier nicht einfach halten!“
Er fuhr mit Vollgas weiter. „Ich habe dich tausend Mal gerufen. Wo warst du denn schon wieder mit den Gedanken?“ Fuhr er sie an.
„Hier wird einem so oft irgendetwas zugerufen, dass ich jegliche Laute ignoriere. Du hättest mich nicht mitnehmen müssen.“ Sie betrachtete die vorbeiziehenden Straßen.
„Ich lasse dich hier um diese Zeit nicht herumlaufen.“ Erklärte er schon viel besänftigter.
Lillian rollte mit den Augen. „Ich bin schon mit acht Jahren hier alleine herumgelaufen.“
„War heute irgendetwas Besonderes? Du bist nicht nur auf mich wütend.“ Erkannte er.
„Du kennst doch den Kaffee dieser Möchtegernbar? Er sieht so aus, als hätte ihn schon jemand getrunken gehabt. Und genauso schmeckt er auch. Und dieser Kaffee kostet nun dreißig Cent mehr! Man wird nur noch ausgenommen! Ich sagte diesem Idioten sofort die Meinung! Und er? ‚Beruhige dich, Kleine. Lass dich doch von deinem Freund einladen, wenn du es dir nicht leisten kannst.’“ Zitierte sie wütend. „Was bildet er sich eigentlich ein? Er soll froh sein, dass überhaupt noch jemand diese Spelunke betritt. Ich weiß, was du jetzt sagen wirst, Arturo. Ich muss nicht reingehen. Und weiß die Hölle, warum ich es immer noch tue…“
Arturo betrachtete sie grinsend. „Das jemand bei deinem Temperament noch an deiner Herkunft zweifeln kann…“
Lillian biss sich Stirn runzelnd auf die Unterlippe. Er hatte ihren wunden Punkt getroffen. Sie kannte ihn bereits seit Jahren, seit einem Jahr trafen sie sich. Um zu reden, um zu tanzen, um mit seinem alten Auto durch Manhattan zu fahren. Manchmal auch nur um sich anzuschweigen. Oder um miteinander zu schlafen. Er kannte sie. Dennoch schien er sich in diesem Moment seiner Worte nicht bewusst gewesen zu sein. Er hielt in einer Hintergasse, welche zu der Wohnung der Großmutter Lillians führte. „Es tut mir leid.“ Er sah sie ernst an.
Sie zuckte mit den Schultern. „Was soll’s? Grandma sagt immer, man soll die Leute reden lassen.“ Sie wich seinem Blick aus.
„Lillian, sieh mich an.“ Er hob ihr Kinn. „Du weißt, wie ich das gemeint habe.“
Was erwartete er nun von ihr? Dass sie ihm ihr Herz öffnete? Das einzige, das nur ihr allein gehörte? „Ich weiß, dass du keiner dieser Idioten bist. Sonst würden wir uns kaum so oft treffen. Ich muss jetzt gehen.“
„Jetzt schon?“ Er lehnte sich zu ihr um sie zu küssen, sie wich ihm jedoch aus.
„Nicht jetzt.“
„Bis zu deiner Abschlussprüfung sind es noch acht Wochen.“
Lillian seufzte. „Hör mal, ich muss die High School schaffen. Bis jetzt haben sie mich auf jeder Universität abgelehnt, aber ich gebe nicht auf. Eines Tages…“ Sie holte tief Luft. „…werde ich studieren.“
Er nickte. „Ich weiß.“
Sie lächelte kurz, bevor sie die Autotür aufmachte und ausstieg.
„Bestelle deiner Großmutter liebe Grüße.“
„Das werde ich nicht tun.“ Lillian schüttelte belustigt den Kopf und lief zu dem alten Haus. Sie hatte sich verspätet. Ihre Großmutter würde sich ärgern. Schließlich gingen sie donnerstags stets zum Friedhof und laut Ana Vasquez wären die Verstorben erbost, störe man sie nach sieben Uhr abends. Lillian vermutete, dass es eher ihre Großmutter war, welche erbost wäre, verpasse sie die Gewinnshow, welche um halb acht begann.
Vor der Nebenwohnung standen zwei Mädchen, deutlich jünger als sie, welche rauchten. Als sie Lillian erblickten, tauschten sie einen viel sagenden Blick. Ihre Miene versteinerte sich augenblicklich. Diese Biester sollten bloß nicht glauben, sie fühle sich durch ihr Gerede verletzt. Bevor sie auch nur etwas sagen konnten, verschwand sie in der Wohnung.
„Lillian! Lillian, bist du das?“
Lillian schloss die Tür. „Ich bin es, Großmutter!“
Sie stapfte seufzend durch die Berge alter Zeitungen, welche ihre Großmutter versprochen hatte auszusortieren. Sie fand sie schließlich auf dem kleinen verschlissenen Sofa vor, auf welchem Lillian zu schlafen pflegte. Sie besaß drei kleine Räume. Ein Bad, das Schlafzimmer Anas und einen Raum, welcher zugleich als Küche als auch Lillians Schlafzimmer fungierte. Sie hätten sich zwar aufgrund des Nachlasses der Eltern des Mädchens eine größere Wohnung leisten können, die Großmutter empfand dies jedoch einerseits als Geldverschwendung, andererseits wollte sie, dass das Geld für Schule und das College verwendet wurde. Ana glaubte fest daran, ihrer Enkeltochter mit diesen Sparmaßnahmen die Tore zu einer guten Universität zu öffnen. Das gesamte Geld reichte jedoch nicht einmal für einen minimalen Teil der Gebühren eines Colleges aus. Lillian hatte schon unzählige Stipendien beantragt, war aber bis jetzt immer nur abgelehnt geworden. Diese Fakten verheimlichte sie jedoch der Großmutter. Ana würde es das Herz brechen, erführe sie, dass ihre Enkelin bei ihren Träumen scheitern würde. Es war für sie schon Schmerz genug, dass das erst so junge Mädchen schon so viel Ablehnung erfahren hatte.
Lillian küsste Ana kurz auf die Wange und setzte sich neben sie. „Wie geht es dir, Großmutter?“
Ana musterte sie nachdenklich. Lillian wurde, so schien es ihr, von Tag zu Tag schöner. Die schokobraunen Locken, welche einst fast blond gewesen waren, reichten bis zur Taille. Ihre Augen hatten einen beinahe goldbraunen Ton. Ana konnte schwören, dass sie noch niemals so schöne Augen gesehen hatte. Lillians Teint glich dem Ton Elfenbeins. Dieser war es vor allem, welcher die Leute dazu gebracht hatte, von ihren eigenen Angelegenheiten abzulenken, in dem sie böse Geschichten erzählten. Lillian hatte sich niemals anmerken lassen, wie sehr sie die Bezeichnungen für ihre Mutter und sie selbst verletzten. Sie schien so stark. Ana spürte jedoch, wie es in ihrem Inneren aussah. „Wo warst du so lange? Du weißt doch, dass wir zum Friedhof müssen! Warst du schon wieder mit diesem Taugenichts zusammen?“ Das war Anas Art von ihrer großen Sorge - dem Geheimnis, welches sie nicht über die Lippen brachte, dessen Offenbarung aber immer dringender wurde - abzulenken.
Lillian runzelte verärgert die Stirn. „Sein Name ist Arturo. Und er ist kein Taugenichts.“
„Er ist in einer Gang.“
„Er ist in keiner Gang.“
„Consuela Moldavo hat ihn vorletzte Nacht mit einer Gruppe junger Männer vor einer zwielichtigen Bar gesehen.“
„Vor einer zwielichtigen Bar? Nenne mir eine Bar, welche das nicht ist.“
„Sie haben Marihuana geraucht…“ Anas Augen weiteten sich. „Du rauchst das Zeug aber nicht, oder?“ Sie musterte ihre Enkelin misstrauisch.
„Nein, Großmutter. Woher weiß sie eigentlich, dass es Marihuana war?“
„Haltest du uns ältere Frauen für dumm?“
„Keineswegs, Großmutter. Haben die Männer noch etwas anderes verbrochen?“
„Sie haben sich ordinär und respektlos gegenüber andere, vor allem Frauen, geäußert.“
„Nein. Und so was in diesem Viertel!“ Lillian hielt gespielt erschrocken die Hand vor den Mund. „Ich glaube, Consuela muss Recht haben. Hier muss es sich eindeutig um eine Gang handeln.“
„Mach dich nicht über uns alte Frauen lustig, mein Kind. Wir sind es, die euch den Weg weisen.“ Sie griff in ihre Rocktasche. „Der ist heute für dich gekommen.“ Sie reichte ihrer Enkeltochter ein Kuvert. Lillian erkannte den Stempel einer Universität Chicagos. Sie nahm ihn eilig entgegen und erhob sich. „Ich kann mich draußen besser aufs Lesen konzentrieren. Du drehst den Radio zu laut.“ Meinte sie schnell und ging vor die Tür. Ihr Herz schlug wie wild, als sie das Kuvert mit ihrem kleinen Taschenmesser öffnete. Das Papier war einmal zusammengefaltet worden. Sie faltete es eilig auseinander. Den Text las sie nicht, ihre Augen hatten jenen einzig bedeutenden Satz bereits fixiert: Ihr Antrag wurde abgelehnt. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Keine Universität würde ihr jemals eine Chance geben. Sie würde hier ewig festsitzen und von wechselnden Teilzeitjobs leben. Oder irgendein Typ würde sie schwängern und sie und das Kind dann im Stich lassen, um nach Queens zu gehen. Wie es ihrer Großmutter widerfahren war. Hör auf. Schalt sie sich selbst. Ihre Mutter, möge sie in Frieden ruhen, hatte sie nicht auf diese Weise erzogen. Rosa Marquez, geborene Vasquez, war eine sehr selbstbewusste Frau gewesen. Sie hatte eine Ausbildung zur Kellnerin gemacht und in einem Cafe in Spanish Harlem zu arbeiten begonnen. Dort hatte sie Jorge Marquez kennen gelernt, welcher die Mechanikerausbildung eben erfolgreich abgeschlossen hatte. Laut Lillians romantischer Mutter war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das Märchen hatte seinen Höhepunkt gefunden, als beide etwa zur selben Zeit ein Jobangebot in Brooklyn erhalten hatten. Sie kauften sich eine geräumige Wohnung, welche nichts mehr mit ihren gewohnten Räumlichkeiten zu tun hatte. Rosas Mutter, Ana, hatte sich strikt geweigert, mit ihnen zu gehen. Wenige Jahre nach dem Umzug, folgte Rosas und Jorges erste und einzige Tochter. Lillian erinnerte sich noch sehr gut an ihre geliebten Eltern. Sie waren sehr gut aussehend gewesen. Rosa hatte ausgesehen wie eine dieser professionellen Tänzerinnen, welche sie sich immer Freitagabends im Fernsehen angesehen hatten. Sie konnte auch sehr gut tanzen, hatte ihrer Tochter schon früh die ersten Tanzschritte beigebracht. Jorge hatte sich sehr über Lillians Talent zu singen gefreut. Seine geliebte Großmutter war professionelle Sängerin gewesen. Im Laufe der Jahre waren drei Videos aufgenommen worden, auf welchen das kleine Mädchen gesungen und getanzt hatte.
Besonders gern erinnerte sich Lillian aber an die Leseabende mit ihrer Mutter. Während der Vater noch gearbeitet hatte, waren Rosa und das kleine Mädchen vor dem Kamin gesessen. Lillian hatte mit Begeisterung der Worte ihrer Mutter gelauscht. Diese hatte das Talent besessen, mit ihrer Theatralik das langweiligste Buch zum spannendsten Roman zu machen.
An einem Spätnachmittag im Oktober hatte die siebenjährige Lillian mit ihrer Babysitterin Louise im Wohnzimmer gesessen und versucht aus dem neuen Buch vorzulesen. Es hätte eine Überraschung für ihre Mutter und ihren Vater, welcher diesen Abend ebenfalls dabei sein wollte, sein sollen. Sie wollte mit derselben gekonnten Theatralik vortragen. Während einer Probe hatte das Telefon geklingelt. Lillian erinnerte sich nur noch daran, dass Louise ganz blass geworden war und, dass tags darauf zwei energische Frauen gekommen waren, welche Koffer gepackt und sie zu ihrer Großmutter nach Spanish Harlem gebracht hatten. Ana hatte niemals wieder über den tödlichen Unfall ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes gesprochen. Auch Lillian vermied dieses Thema, weil sie niemals verstanden hatte, warum zweien Menschen, welche das Glück gerade erst gefunden hatten, das Leben auf so dramatische Weise entrissen werden musste. Ihr Glaube an Gott, welchen ihre Eltern ihr gelehrt hatten, hatte sich dadurch sehr verändert. Sie war kritischer und misstrauischer geworden. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie es außerdem nie wieder geschafft, von ganzem Herzen zu lieben, wirkliche Gefühle für einen Menschen zu zulassen. Das Gefühl, mit welchem sie sich an ihre Großmutter hing, war vor allem Angst. Angst davor erneut alleine gelassen zu werden. Und vielleicht war das ein Grund dafür, dass die Ablehnungen der Universitäten auch jedes Mal, gleichzeitig mit der Empfindung großer Enttäuschung, ein gewisses Gefühl der Erleichterung bewirkten.
hey selene
na wie gez so?

also ich muss sagen deine story gefällt mir wirklich verdammt gut!
du hast zwar erst den prolog und einen teil gepostet...aber mir gefällt die geschichte wirklich gut....natürlich wegen deinem unvergleichlichen schreibstil Smile man merkt sofort dass die geschichte von dir ist Smile
und auch weil die geschichte an sich interessant ist...ich mein ich bin gespannt wies weitergeht

bis dann
samaire
hey selene!

Wow die beiden teile sind echt einsamespitze
Ich liebe deinen Schreibstil sowieso
Ich werd aufjedenfall dran bleiben

Bin schon sehr gespannt wie es weiter geht

glg noiri
hey
Ich finde dass auch dieser teil wieder total gut geworden ist. Dein Schreibstil ist super und man kann sich echt gut in die Personen reinversetzen.

Ich bleibe auf jeden Fall dran und warte gespannt auf den nächsten teil.

Hanna

Selene

Hallo ihr Lieben :knuddel:

Danke schön für eure tollen Feedbacks! Freut mich, dass euch die Geschichte bis jetzt so gut gefällt.

Ich werde versuchen, Anfang der kommenden Woche einen neuen Teil zu posten, spätestens kommt er am Mittwoch.

Wünsch euch noch ein schönes Wochenende Smile

Liebe Grüße,
Selene

Selene

Hallo ihr Lieben! :knuddel:

Es tut mir wirklich leid. Hab sowohl bei Schneeflocken als auch hier versucht weiterzuschreiben, aber es ist sich zeitmäßig einfach nicht ausgegangen, die neuen Teile fertigzustellen. Hab zur zeit sehr viel Stress auf der Uni. Aber ich hab jetzt ab morgen 5 Tage frei, muss zwar für eine Prüfung lernen, es wird sich aber diesmal sicher trotzdem ausgehen in den nächsten Tagen bei beiden FFs einen neuen Teil zu posten.
Tut mir nochmals wirklich leid.

Freu mich natürlich noch über weitere FBs - sowohl über Lobe als auch konstruktive Kritiken, schließlich möchte ich mich verbessern Smile

Schönen Tag noch,
Liebe Grüße Selene

Selene

Hallo ihr Lieben :knuddel:

Ich hab endlich einen neuen Teil für euch.

Er ist weder lang noch unbedingt ereignisreich, ich hoffe, er gefällt euch trotzdem.
Da ihr die Personen hier ja noch nicht (gut), im Gegensatz zu FFs, kennt, muss ich zwischendurch Einleitungs- bzw. Übergangsteile einbringen. Aber die nächsten Teile werden nicht nur deutlich länger werden, die mehr oder weniger beginnenden Handlungsstränge werden auch sichtbarer werden. Außerdem werdet ihr noch einige der weiteren Personen kennen lernen.

Ich würd mich sehr über Feedbacks freuen, denn nur so kann ich mich und die Geschichte verbessern. Smile

Bussi Selene


2. Teil

Der Friedhof befand sich am anderen Ende des Viertels, hinter einer großen Kirche, welche einst prächtig erschienen hatte. Doch auch sie war gealtert und gekennzeichnet von den Ereignissen der letzten Jahrzehnte. Ana erinnerte sich noch an jenen Tag, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal das große Gebäude betreten hatte. Sie hatte voller Ehrfurcht seine Hand gedrückt. „Papá, das ist unglaublich.“ Hatte das Mädchen gesagt und ihren über alles geliebten Vater angesehen. Seine tränenden Augen waren starr auf die Marienstatue gerichtet gewesen. Ana hatte gelächelt, denn sie hatte die tatsächlichen Gründe für diese plötzliche Emotion des sonst sehr beherrschten Mannes noch nicht verstanden.
Ana schloss die Augen und berührte eine weitere Kugel ihres hölzernen Rosenkranzes. Das Beten half ihr nicht zu verstehen, denn es gab nichts zu verstehen. Es half ihr auch nicht zu vergessen. Denn vergessen durfte und konnte sie nicht. Es machte ihren Schmerz kleiner, jedoch nur für jene halbe Stunde, welche sie hier wöchentlich verbrachte. Hier, am Grab Rosas, ihrer Tochter. In Gedenken an Rosa Marquez, geborene Vasquez, geliebte Tochter, Mutter und Freundin. Möge sie in Frieden ruhen. Mit dem Tod Rosas, im April 1990, war auch ein Teil Anas gestorben. Die ältere Frau atmete tief durch und blickte zu Lillian, welche die Hände in ihrer Jeansjacke vergraben und den Blick starr geradeaus gerichtet hatte. Ana runzelte die Stirn. Lillian konnte sehr aufbrausend und vorlaut sein. Doch sobald es um Dinge ging, welche ihr Herz zu tief berühren konnten, verschloss sie sich. Es schien Ana, als hätte Lillian Angst vor jeder Art tieferen Gefühlen. Zweimal hatte sie versucht mit ihrer Enkeltochter über ihre Gedanken zu reden, doch jene hatte nur abgeblockt. Rosa hatte, ganz im Gegensatz zu ihrer Tochter, das Herz viel zu oft auf der Zunge getragen. Sie war klug und selbstbewusst gewesen, doch ihre Gefühle hatten sich oftmals zu sehr von ihrer romantischen Ader beeinflussen lassen.
„Lass uns gehen.“ Ana griff nach Lillians Hand.
Ihre Enkeltochter nickte leicht und folgte ihr langsam. Die ältere Dame pflegte den gesamten Friedhof zu überqueren und ihn schließlich auf dem anderen Ende zu verlassen. Während des Weges dachte sie meist an ihren Vater und ihre geliebte Großmutter.
Lillian beobachtete Ana gerne während ihres Friedhofbesuches. Jener war im Leben schon sehr viel Schlimmes widerfahren, dennoch war sie nie von ihrem tiefen Glauben gewichen.
Ganz im Gegensatz zu Lillian, welche schon lange nicht mehr an jenen angeblichen Gott, der ihr doch ihre Eltern genommen hatte, glauben konnte. Es war unwichtig woran man glaubte, solange dieser Glaube einen glücklich mache und man damit niemandem schade. Dies pflegten sowohl Ana, als auch Rosa und Jorge zu sagen. Menschen mussten sich die Welt erklären, um darin leben zu können. Das dachte Lillian. Sie interessierte sich für keine der Glaubensrichtungen, einer der wenigen Fakten, welchen ihre Großmutter zu akzeptieren begonnen hatte.
Sie gingen die menschenleere Straße im gewohnten Tempo voran, als plötzlich ein Auto vor einem der grauen Wohnblöcke hielt. Ana lächelte kurz und näherte sich den älteren Frauen, welche gerade ausgestiegen waren. Sie hatte bis vor wenigen Jahren an ihren regelmäßigen Canastaabenden teilgenommen. „Guten Abend.“ Grüßte sie lächelnd.
Auch Lillian begrüßte die Frauen.
„Ana, wie geht es dir?“ Sie schienen das Mädchen zuerst gar nicht wahrzunehmen.
„Gut, gut. Stellt euch vor, meine Kleine macht bald ihren Abschluss und wird studieren.“ Erzählte Ana.
Eine der Frauen, Margarita, schenkte Lillian ein flüchtiges Lächeln. „Wie schön.“ Meinte sie desinteressiert. „Möchtest du nicht wieder mit uns Karten spielen, Ana? Wir vermissen dich.“
Ana lächelte. „Das würde ich gerne. Nächste Woche?“
„Punkt vier Uhr.“ Margarita wollte sich schon abwenden, als sich ihre Miene plötzlich veränderte. Lächelnd wandte sie sich an Lillian. „Carla redet so oft von dir. Sie bedauert es, dass ihr nicht mehr dieselbe Schule besucht.“
Lillian biss sich auf die Unterlippe. Margaritas Großnichte Carla und sie hatten nicht einmal in der Grundschule ein gutes Verhältnis gehabt. Aus irgendeinem Grund, welchen Lillian bis heute nicht verstand, hatte das Mädchen sie stets gehasst und beschimpft.
„Auch Lillian bedauert das.“ Meinte Ana und zog ihre Enkeltochter weiter.
„Warum hast du das gesagt?“ Fragte Lillian aufgebracht, als sie fünfzehn Minuten später ihre Wohnung betraten.
„Was hätte ich denn sagen sollen? Dass du dieser kleinen Göre am liebsten die Augen auskratzen würdest?“
„Was redest du da, Großmutter? Dumme Mädchen wie Carla sind mir egal. Ich mag es nur nicht, wenn du meinetwegen lügst!“
Ana musterte ihre Enkeltochter seufzend. „Du solltest wirklich nichts darauf geben, was diese dummen Mädchen reden.“
Lillian zuckte mit den Schultern und griff nach einem ihrer Schuldbücher. Seufzend ließ sie sich auf das kleine Sofa sinken. Ihre Großmutter warf ihr noch einen letzten, sehr besorgten Blick zu, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.
Lillian sah hoch und schlug das Buch seufzend zu. Sie ließ ihre Augen langsam durch das Zimmer wandern. Werde ich jemals aus diesem Loch herauskommen? Ihre Eltern hatten den Aufstieg geschafft, doch sie würde nicht die nötige Kraft dazu besitzen. Sie dachte erneut an ihre starke Mutter, welche soviel geschafft hatte. Es machte sie wütend, dass dieser wunderbaren Frau nachgesagt wurde, ihren Mann mit irgendeinem weißen Yuppie betrogen und dann auch noch ein kleines Mädchen von diesem bekommen zu haben. Rosa hätte ihren geliebten Jorge niemals betrogen und ihm schon gar kein Kind untergeschoben. Doch die Leute liebten es zu reden. Und am leichtesten ließ es sich über die Tochter einer vom Freund sitzen gelassenen Frau reden, welche als eine der wenigen ihres Geschlechts den sozialen Aufstieg geschafft hatte. Natürlich richtete sich das Gerede gegenwärtig vor allem gegen Lillian, welche laut der klatschenden Frauen natürlich nur aufgrund ihres wohlhabenden Vaters aus Manhattan eines Tages ein College besuchen würde. Lillian war von sehr vielen Menschen des Viertels niemals akzeptiert worden. Man hatte ihr unmissverständlich das Gefühl gegeben, dass sie hier nicht hergehöre. Lillian hatte nur zwei Freundinnen, welchen sie sich jedoch genauso wenig öffnete wie allen anderen Menschen. Dann war da noch Arturo, welcher, wie ihre Großmutter, im Grunde immer zu ihr hielt. In welcher Beziehung Lillian wirklich zu ihm stand, wusste sie jedoch nicht. Sie hatten niemals darüber gesprochen, was sie als Erleichterung empfand.
Ihre Großmutter warf ihr immer vor, dass sie mit ihrem Verhalten niemals einen Mann finden würde, der sie heiratete. Auch dies war Lillian nur Recht.
Sie zog ein altes Foto aus ihrer Tasche. Es zeigte ihre Eltern und sie selbst an einem Strand Kubas, dem Herkunftsland Anas. Lillian schloss die Augen. Eine einzelne Träne rann über ihre Wangen. Es war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an den Tod ihrer geliebten Eltern gedacht hatte. Und jedes Mal schien es ihr, als würde ihr Herz erneut in tausende kleine Stücke zerspringen und sie von einem Abgrund verschluckt werden.
Anas Augen tränten, als sie ihre Enkeltochter, welche sie noch nicht wahrgenommen hatte, beobachtete. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. Lillian wirkte in diesem Moment so zerbrechlich. Ana fragte sich, wie es ihr jemals möglich sein sollte, dem Mädchen von dem Geheimnis Rosas zu erzählen. Ihre Enkeltochter hatte das Recht davon zu erfahren und sie selbst zerbrach zunehmend an der Lüge. Doch könnte es Lillian, welche ihre Eltern abgöttisch liebte und zudem auch noch hoch idealisierte, verkraften? Es war nun Anas Angelegenheit. Denn Rosa war nicht mehr unter ihnen, um ihrer geliebten Tochter von dem Tag zu erzählen, an welchem sie schmerzhaft erfahren musste, dass sie körperlich nicht dazu in der Lage war, jemals eigene Kinder zu bekommen.
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