Ein Albtraum wird wahr

Ihr medizinisches Vokabular ist echt beachtlich Wink

Manchmal überleg ich schon, die Fachbücher wieder rauszuholen Smile

Aber es muss echt ein schwerer Schritt für sie sein. Eigentlich kann sie es ja nur falsch machen... Wenn sie klagt, wird ihre Schwester sterben und ihre Eltern werden sie dafür hassen.Wenn sie nicht klagt, wird sie immer und ewig bloß das Ersatzteillager der Familie sein und ihre Eltern werden sie trotzdem nicht beachten, es sei denn, sie wird gebraucht....

Das nimmt mich echt schon mit Sad
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Oh man, echt krass, sie will es wirklich durch ziehen!
Man, da bin ich mal gespannt, was das noch werden soll und wie die anderen darauf reagieren!
Schreib schnell weiter! Unbedingt!

Liebe Grüße Sindy Big Grin
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Hey! :-) Danke für euer tolles FB und hier auch schon der nächste Teil. Der ist diesmal allerdings nicht so gut geworden, weil ich 1. müde war und ich mich 2. nicht wirklich in Logan hineinversetzen konnte, aber naja.
Hoffe euch gefällts trotzdem :-)


LOGAN
Wenn ich arbeiten muss, esse ich zweimal zu Abend. Das erste mal früh, meiner Familie zuliebe, damit wir alle zusammen am Tisch sitzen können. Heute Abend hat Rory Roastbeef gemacht. Der Braten steht auf dem Tisch, als sie uns zum Essen ruft.
Sarah rutsch als erste auf ihren Stuhl. „Na, Kleines“, sage ich und drücke ihr die Hand. Das Lächeln, das sie mir schenkt, erreicht nicht ihre Augen. „Was hast du heute so gemacht?“
Sie schubst ihre Bohnen auf dem Teller hin und her. „Dritte-Welt-Länder gerettet, ein paar Atome gespaltet und den großen amerikanischen Roman vollendet. Zwischen der Dialyse natürlich.“
Natürlich.“
Rory dreht sich um und schwingt ein Messer. „Was immer ich auch getan habe, sage ich und zieh den Kopf ein, „es tut mir leid.“
Sie übergeht das. „Schneid den Braten auf, ja?“
Ich nehme das Tranchiermesser und schneide in das Roastbeef und in diesem Moment kommt David in die Küche geschlurft. Wir erlauben ihm, über der Garage zu wohnen, aber er muss mit uns zusammen essen, so lautet die Abmachung. Seine Augen sind feuerrot, seine Kleidung umhüllt süßlicher Rauch. „Das darf doch nicht wahr sein“, seufzt Rory, doch als ich mich umdrehe, starrt sie auf den Braten. „Der ist doch gar nicht fertig.“ Sie hebt die Kasserolle mit bloßen Händen hoch, als wäre ihre Haut mit Asbest beschichtet und schiebt sie zurück in den Backofen.
David greift nach einer Schüssel Kartoffeln und häuft sich einen Teller voll. Mehr und mehr und mehr.
Du stinkst“, sagt Sarah und wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht.
David ignoriert sie und nimmt einen Bissen von seinen Kartoffeln. Ich weiß zwar nicht, was das über mich sagt, aber ich bin richtiggehend begeistert, dass ich ihm anmerken kann, was für eine Droge durch seinen Organismus fließt: Marihuana, nicht Ecstasy, Heroin oder was weiß ich noch alles, das wenig Spuren hinterlässt.
Nicht jeder hier mag Eau de Hasch“, knurrt Sarah.
Nicht jeder hier kriegt seine Drogen durch einen Port verpasst“, antwortet David.
Rory hebt die Hände. „Bitte, könnten wir einfach...nicht?“
Wo ist Elena?“, fragt Sarah.
War sie nicht in eurem Zimmer?“
Seit heute morgen nicht mehr.“
Rory steckt den Kopf zur Küchentür hinaus. „Elena! Essen kommen!“
Seht mal, was ich mir gekauft hab“, sagt Sarah und zupft an ihrem T-Shirt. Es hat ein psychedeisches Batikmuster und vorne drauf ist die Abbildung eines Krebses und das Wort KREBS gedruckt. „Kapiert ihr?“
Du bist Löwe.“ Rory sieht aus, als wäre sie den Tränen nahe.
Was macht der Braten?“, frage ich, um sie abzulenken.
Da kommt Elena in die Küche. Sie wirft sich auf ihren Stuhl und senkt den Kopf. „Wo hast du gesteckt?“, fragt Sarah.
War unterwegs.“ Elena blickt auf ihren Teller, macht aber keine Anstalten, sich zu bedienen.
So kenne ich Elena gar nicht. Ich bin es gewohnt, mich mit David herumzuschlagen, Sarahs Last zu erleichtern. Aber Elena ist die Konstante in unserer Familie. Elena kommt mit einem Lächeln herein. Elena erzählt uns von der Drossel, die sie mit einem gebrochenen Flügel gefunden hat oder von der Mutter, die sie im Wal-Markt mit nicht einem sondern gleich zwei Paar Zwillingen gesehen hat. Elena ist unser Rückhalt und sie so teilnahmslos dasitzen zu sehen, macht mir klar, dass Schwigen einen Klang hat,
Ist was passiert?“, frage ich,
Sie blickt zu Sarah hinüber, weil sie denkt, die Frage wäre an ihre Schwester gerichtet und zuckt zusammen, als sie merkt, dass sie gemeint ist. „Nein.“
Geht's dir gut?“
Wieder reagiert Elena mit Verzögerung. Diese Frage ist normalerweise Sarah vorbehalten. „Ja.“
Ich mein nur, weil du nichts ist.“
Elena blickt auf ihren Teller, bemerkt, dass er leer ist und häuft dann einen Berg Essen darauf. Sie schaufelt sich gründlich Bohnen in den Mund, zwei Gabeln voll.
He.“ Sarah zeigt auf Elenas Hals. „Dein Medaillon ist weg.“
Ich habe es ihr mal geschenkt, vor Jahren. Elena hebt die Hand an ihr Schlüsselbein. „Hast du es verloren?“, frage ich.
Sie zuckt die Achseln. „Vielleicht bin ich einfach nicht in der Stimmung, es zu tragen.“
Sie hat es noch nie abgenommen, soweit ich weiß. Rory nimmt den Braten aus dem Backofen und stellt ihn auf den Tisch. Als sie das Messer nimmt, um ihn zu schneiden, blickt sie Sarah an. „Apropos nicht in der Stimmung sein, gewisse Sachen zu tagen“, sagt sie, „geh und zieh dir ein anderes T-Shirt an.“
Wieso?“
Weil ich es sage.“
Das ist kein Grund.“
Rory stößt das Messer in den Braten. „Weil ich es am Abendessenstisch unangemessen finde.“
Aber Davids Metalhead-T-Shrits findest du angemessen? Was hatte er gestern noch mal für eins an? Alabama Thunder Pussy?“
David verdreht die Augen in ihre Richtung. Den Ausdruck habe ich schon öfters gesehen: das lahme Pferd in einem Spaghetti-Western, bevor es den Gnadenschuss erhält.
Rory sägt das Fleisch durch. Jetzt sieht es aus wie ein zu stark gebratener Holzklotz. „Seht euch das an“, sagt sie. „Das ist hin.“
Es ist gut so.“ Ich nehme die Scheibe, die sie mit Mühe abgetrennt hat und schneide ein kleines Stück davon ab. Ich könnte genauso gut Leder kauen. „Köstlich. Ich geh schnell in den Keller und hole die Kreissäge, damit wir alle was abkriegen.“
Rory blinzelt und dann gluckst ein Lachen aus ihr heraus. Sarah kichert. Sogar David verzieht den Mund zu einem Lächeln.
Erst jetzt fällt mir auf, dass Elena schon vom Tisch aufgestanden ist und vorallen Dingen, dass es keiner gemerkt hat.


Colin, Finn und ich sitzen in der Redaktion vom Hartford Courant. Während Colin und ich in unseren Gedanken versunken sind, schreibt Finn einen Brief an sein aktuelles Objekt der Begierde. Colin wirft einen Blick auf ihn und schüttelt den Kopf. „Den solltest du dir abspeichern, dann brauchst du immer nur den Namen zu ändern und ihn neu auszudrucken.“
Bei ihr hier ist das anders“, sagt Finn.
Ja klar. Sie hat schon zwei volle Tage durchgehalten. Huntzberger, gib dem Jungen ein paar Tips, ja?“
Wieso gerade ich?“
Finn blickt über den Rand des Laptops. „Mangels besserer Alternativen“, sagt er und das stimmt. Colins Frau hat ihn vor drei Jahren verlassen, wegen eines Cellisten, der mit einem Symphonieorchester in Hartford auf Tournee war und Finn wechselt seine Freundinnen wie andere ihre Unterwäsche.
Colin stellt ein Bier vor mir auf den Tisch und ich lege los. „Eine Frau“, sage ich „ist wie ein Lagerfeuer.“
Finn klappt den Laptop zu und johlt. „Hört, hört: das Tao von Captain Huntzberger.“
Ich achte nicht auf ihn. „Ein Feuer ist etwas Wunderschönes, nicht? Wir schauen gebannt hinein, wenn es brennt. Wenn wir es im Zaum halten können, schenkt es uns Licht und Wärme. Nur wenn es außer Kontrolle gerät, müssen wir in die Offensive gehen.“
Cap will damit sagen“, sagt Colin, „dass man seine Flamme schön gegen Seitenwinde abschirmen muss. He Finn, rück die letzte Flasche Bier rüber, die du unterm Tisch versteckst!“
Wenn wir gerade so beisammen sitzen, bedeutet das normalerweise, dass in wenigen Minuten das Telefon klingelt und jemand uns eine heiße Story verklickern will.
He Logan, erinnerst du dich noch an diesen Hausbrand und an diesen Toten, der uns Ärger gemacht hat?“, fragt Colin. „Als wir noch ziemlich neu waren?“
Du liebes bisschen, ja. Ein Typ, der mindestens 200 Kilo auf die Waage brachte und im Bett an einem Herzinfarkt gestorben war. Die Bestattungsfirma bekam den Toten nicht die Treppe herunter und bat diese unschuldingen Journalisten, die teilnahmlos in der Cafeteria saßen, obwohl sie eigentlich weitere Brandopfer interviewen sollten, um Hilfe. „Flaschenzug“, erinnere ich mich laut.
Und er sollte eingeäschert werden, aber er war zu dick...“ Colin grinst. „Bei meiner seligen Mutter, ich schwöre, sie mussten ihn zum Tierarzt bringen.“
Finn blickt ihn verständnislos an. „Wozu denn das?“
Was glaubt du denn, was man mit toten Pferden macht, Einstein?“
Als der Groschen fällt, weiten sich Finns Augen. „Wahnsinn“, sagt er und packt nach kurzer Überlegung den Laptop in seine Tasche.
Was glaubt ihr, wen die beauftragen, den Schornstein von der medizinischen Fakultät zu säubern?“
Die armen Schweine vom Amt für Arbeitsschutz“, erwidert Colin.
Jedenfalls war das mit Sicherheit keine Brandstiftung“, brummt Finn.
Im letzten Monat hatten wir eine ganze Brandstiftserie. Für die Artikel habe ich so viel recherchiert, dass ich jetzt meist auf Anhieb erkennen kann, ob das Feuer gelegt wurde oder nicht – an Spritzmustern von brennbaren Flüssigkeiten, an mehrfachen Brandherden, an schwarzem Rauch oder an einer ungewöhnlichen Konzentration von Feuer an einer einzigen Stelle. Aber Brandstifter gehen auch schlau vor – in etlichen Fällen wurde das Feuer unter Treppen gelegt, um der Feuerwehr den Zugang zu den Flammen abzuschneiden. Brände, die gelegt werden, haben meist zur Folge, dass die Gebäude einstürzen, während die Feuerwehrleute noch drin sind und versuchen, sie zu löschen.
Colin schnaubt. „Vielleicht ja doch. Vielleicht ist der Fettwanst ein Selbstmordbrandstifer. Er ist in den Schornstein geklettert und dann -“
Es reicht“, sage ich.
Ach Logan, du musst doch zugeben, dass es wirklich witzig ist -“
Nicht für die Eltern des Mannes. Nicht für seine Familie.“
Beklommenes Schweigen, während die anderen Männer nach Worten suchen. Schließlich sagt Finn, der mich am längsten kennt: „Irgendwas nicht in Ordnung mit Sarah?“
Mit meiner ältesten Tochter ist immer irgendwas nicht in Ordnung. Das Problem ist, es hört einfach niemals auf. Ich stehe auf und gehe aus dem Zimmer.
Als Sarah auf die Welt kam, stellte ich mir vor, wie hinreißend schön sie an ihrem Hochzeitstag wäre. Dann bekam sie APL und stattdessen malte ich mir aus, wie sie in der Aula ihrer High School das Abschlusszeugnis entgegennimmt. Als sie einen Rückfall hatte, wünschte ich mir, dass sie ihren 5. Geburtstag feiern kann. Inzwischen habe ich keine Erwartungen mehr und so übertrifft sie sie alle.
Sarah wird sterben. Es hat lange gedauert, bis ich das sagen konnte. Wir alle werden sterben, das ist klar, aber die Kinder sollten nicht vor den Eltern sterben. Sarah sollte sich von mir verabschieden müssen.
Es kommt mir fast vor wie ein Schwindel, dass sie nach all den Jahren, in denen sie die Statistik widerlegt hat, nicht an Leukämie sterben wird. Andererseits hat uns Dr. Hayes schon vor langer Zeit erklärt, dass das der übliche Ablauf ist – der Kampf gegen die Krankheit schwächt den Körper, bis nach und nach lebenswichtige Organe aufgeben. Bei Sarah sind es die Nieren.


Früher am Abend habe ich Rory geholfen, die Küche sauberzumachen. „Glaubst du, irgendwas stimmt nicht mit Elena?“, fragte ich, als ich den Ketchup in den Küchenschrank stelle.
Weil sie die Halskette abgenommen hat?“
Nein.“ Ich zuckte die Achslen. „Überhaupt.“
Gemessen an Sarahs Nieren und Davids Soziopathie würde ich sagen, es geht ihr gut.“
Sie konnte es nicht erwarten, dass das Abendessen zu Ende war.“
Rory drehte sich an der Spüle um. „Was vermutest du denn?“
Ähm...ein Junge?“
Rory wirft mir einen Blick zu. „Sie hat keinen Freund“
Gott sei Dank. „Vielleicht hat sie Krach mit einer Freundin.“ Wieso hat Rory mich gefragt? Was weiß ich denn schon von den Stimmungsschwankungen einer Dreizehnjährigen?
Rory wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und stellte den Geschirrspüler an. „Vielleicht benimmt sie sich bloß wie ein ganz normaler Teenager.“
Ich überlegte, wie Sarah mit 13 war, aber ich konnte mich nur an den Rückfall und die Stammzellentransplantation erinnern, die sie in dem Alter hatte. Sarahs normales Leben rückte irgendwie in den Hintergrund, überschattet von den Zeiten, in denen es ihr schlecht ging.
Ich muss morgen mit Sarah zur Dialyse“, sagt Rory.
Wann kommst du von der Arbeit?“
Gegen 8. Aber ich habe Bereitschaft und ich würde mich nicht wundern, wenn unser Brandstifter wieder zuschlägt.“
Logan?“, sagte sie. „Wie sah Sarah aus, was meinst du?“
Besser als Elena, dachte ich, aber danach hatte sie nicht gefragt. Sie wollte, dass ich die gelbe Tönung von Sarahs Haut mit gestern verglich. Sie wollte, dass ich die Art interpretierte, wie sie die Ellbogen auf den Tisch aufstützte, zu matt, um den Körper aufrecht zu halten.
Sarah sieht richtig gut aus“, log ich, weil wir das füreinndaer tun.
Vergiss nicht, ihnen gute Nacht zu sagen, bevor du gehst“, sagte Rory und sie drehte sich um und stellte die Tabletten zusammen, die Sarah vor dem Schlafengehen nimmt.
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ein sehr guter teil ^^.. weiter so .. *zehn punkte*

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Big Grin Zehn von zehn Punkten!!!

Ich bin mal gespannt, wie sich das alles noch entwickelt! Wink Schreib schnell weiter!

Liebe Grüße Sindy Big GrinBig Grin
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Also,
1. DANKE DANKE DANKE für das FB :-)
2. Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat
3. Viel Spaß mit dem neuen teil :-)


ELENA
Früher hab ich mir vorgestellt, ich wäre in dieser Familie nur auf der Durchreise auf dem Weg in die richtige. So abwegig ist das gar nicht.
Ich saß in der Krankenhauscafeteria bei Gummipommes und rotem Wackelpudding und schaute von einem Tisch zum anderen und malte mir aus, meine echten Eltern säßen vielleicht nur ein Tablett von mir entfernt. Sie würden vor Freude weinen, dass sie mich endlich gefunden haben und auf der Stelle mit mir auf unser Schloss in Monaco oder Rumänien fliegen und mir ein Dienstmädchen geben, dass nach frischer Bettwäsche riechen würde und ich bekäme einen Golden Retriever und ein eigenes Telefon. Bloß, die erste, die ich angerufen hätte, um mit meinem neuen Glück zu praheln, wäre Sarah.
Sarah hat pro Woche drei Dialysesitzungen, die jeweils zwei Stunden dauern. Sie hat einen zweilumigen Katheter, der aussieht, wie ihr Port ausgesehen hat und an derselben Stelle aus ihrer Brust ragt. Er wird mit einer Maschine verbunden, die die Arbeit erledigt, die ihre Nieren nicht mehr erledigen können. Sarahs Blut (eigentlich mein Blut, wenn man's genau nimmt) fließt durch eine Nadel aus ihrem Körper heraus, wird gereinigt und fließt dann durch eine zweite Nadel wieder in ihren Körper zurück. Sie sagt, es tut nicht weh. Es ist vorallem langweilig. Meistens nimmt sie sich ein Buch oder ihren MP3 Player mit. Manchmal spielen wir was. „Geh raus auf den Flur und erzähl mir was von dem ersten tollen Typen, den du siehst“, sagt Sarah zum Beispiel. Oder: „Schleich dich an den Pförtner ran, wenn er im Internet surft und guck, von wem er sich Nacktfotos runterlädt.“ Wenn sie and Bett gefesselt ist, bin ich Auge und Ohr für sie.
Heute liest sie die Zeitschrift „Allure“, Ob sie überhaupt merkt, dass sie jedes Model mit V-Ausschnitt am Schlüsselbein berührt, an der Stelle, wo sie einen Katheter hat und die Models keinen?
„He“, verkündet meine Mutter aus heiterem Himmel, „das ist ja interessant.“ Sie wedelt mit einer Broschüre, die sie draußen vor Sarahs Zimmer am Schwarzen Brett gefunden hat: „Du und deine neue Niere“. „Wusstet ihr, dass sie die alte Niere gar nicht rausnehmen? Sie transplanieren einfach die neue in dich rein und schließen sie an.“
„Gruselig“, sagt Sarah. „Stell dir vor, der Gerichtsmediziner schneidet dich auf und sieht, dass du drei Nieren hast.“
„Aber die Transplantation ist ja gerade dafür das, dass dich sobald kein Gerichtsmediziner aufschneidet“, erwidert meine Mutter. Diese fiktionale Niere, von der sie spricht, befindet sich im Augenblick in meinem Körper. Ich habe die Broschüre auch gelesen.
Eine Nierenspende gilt als relativ ungefährliche Operation, aber wenn ihr mich fragt, muss der Verfasser sie mit einer Herz-Lungen-Transplantation oder der Entfernung eines Gehirntumors verglichen haben. Unter einer ungefährlichen Operation stelle ich mir einen Eingriff vor, bei dem du zum Arzt gehst und die ganze Zeit wach bist und die Sache nach 5 Minuten vorüber ist – zum Beispiel, wenn du eine Warze entfernt bekommst oder der Zahnarzt bohren muss. Aber wenn du eine Niere spendest, musst du am Abend vor der Operation fasten und ein Abführmittel nehmen. Du kriegst eine Vollnarkose, was solche Risiken wie Schlaganfall, Herinfarkt oder Lungenprobleme mit sich bringt. Die vierstündige Operation ist auch nicht gerade ein Erholungsspaziergang – deine Chancen auf dem OP-Tisch zu sterben, betragen 1 zu 3000. Wenn du nicht stirbst, musst du 4 bis 6 Tage im Krankenhaus bleiben, bis zur vollständigen Genesung dauert es allerdings 4 bis 6 Wochen. Ganz zu schweigen von den langfristigen Folgen: Das Bluthochdruckrisiko ist erhöht, bei einer Schwangerschaft kann es eher zu Komplikationen kommen und du solltest möglichst auf Aktivitäten verzichten, bei denen die einzige Niere, die du noch hast, Schaden nehmen könnte.
Es klopft an der Tür und ein vertrautes Gesicht lugt herein. Vern Stackhouse ist Sheriff und ein guter Freund von meinem Dad. Er ist früher oft bei uns zu Hause vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen oder uns Weihnachtsgeschenke zu bringen. In letzter Zeit hat er David, wenn der was ausgefressen hatte, nach Hause gebracht, statt ihn der Justiz zu überstellen. Wenn man zu einer Familie mit einer todkranken Tochter gehört, drücken die Leute schon mal ein Auge zu.
Verns Gesicht ist wie ein Souffle, das an den erstaunlichsten Stellen einfällt. Er ist offenbar unsicher, ob er reinkommen darf. „Ähm“, sagt er. „Hallo, Rory.“
„Vern!“ Meine Mutter steht auf. „Was machen Sie denn im Krankenhaus? Ist alles in Ordnung?“
„Oh ja, alles bestens. Ich bin beruflich hier.“
„Papiere überstellen, was?“
„Genau.“ Vern tritt nervös auf der Stelle und schiebt eine Hand in seine Jacke wie Napoleon. „Es tut mir schrecklich leid, Rory“, sag er und dann hält er ihr ein Kuvert hin.
Genau wie Sarah fließt mir alles Blut aus dem Körper. Ich könnte mich nicht rühren, wenn ich wollte.
„Aber was ... Vern, werde ich verklagt?“ Die Stimme meiner Mutter ist viel zu ruhig.
„Rory, ich öffne die Kuverts nicht, Ich überbringe sie nur. Und Ihr Name steht vorne drauf. Also, wenn ich, äh, irgendwas -“ Er beendet den Satz nicht. Mit dem Hut in den Händen zieht er sich durch die Tür zurück.
„Mom?“, sagt Sarah. „was ist denn los?“
„Ich hab keine Ahnung.“ Sie öffnet das Kuvert und nimmt ein Blatt Papier heraus. Ich stehe neben ihr und kann einen Blick darauf erfen. BUNDESSTAAT CONNECTICUT, lese ich quer über der Seite. Dann FAMILIENGERICHT HARTFORD. IN SACHEN: ELENA HUNTZBERGER.
ANTRAG AUF ENTLASSUNG AUS DER ELTERLICHEN GEWALT IN MEDIZINISCHEN FRAGEN.
Ach du Schande, denke ich. Meine Wangen brennen, mein Herz kloft wie wild. Ich fühle mich wie damals in der Schule, als die Schulleiterin meinen Eltern einen Brief geschrieben hatte, weil ich in meinem Matheheft eine Karikatur von Mrs. Newman und ihrem kolossalen Hintern gezeichnet hatte. Nein, stimmt nicht – ich fühle mich tausendmal schlimmer.
Im einzelnen wird beantragt:
Dass sie das Entscheidungsrecht in allen sie betreffenden medizinischen Belangen erhält.
Dass sie nicht zu einer medizinischen Behandlung gezwungen wird, die nicht in ihrem Interesse liegt oder zu ihrem Vorteil gereicht.
Dass sie nicht mehr zu medizinischen Maßnahmen genötigt wird, die ihrer Schwester Sarah zum Vorteil gereichen.
Meine Mutter blickt mich an. „Elena“, flüstert sie, „was zum Teufel ist das hier?“
Es trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube, jetzt wo es tatsächlich passiert. Was soll ich ihr bloß sagen?
„Elena!“ Sie macht einen Schritt auf mich zu.
Hinter mir schreit Sarah plötzlich auf. „Mom, aua, Mom ... mir tut was weh, hol den Pfleger!“
Meine Mutter wendet sich halb ab. Sarah hat sich auf die Seite gerollt, die Haare fallen ihr übers Gesicht. Ich glaube, dass mich durch sie hindurch anschaut, aber sicher bin ich mir nicht. „Mom, bitte!“
Einen Augenblick ist meine Mutter zwischen uns hin und her gerissen, blickt von Sarah zu mir und wieder zurück.
Meine Schwester hat Schmerzen und ich bin erleichtert. Was sagt das nun über mich aus?
Als ich aus dem Zimmer laufe, sehe ich noch, wie meine Mutter immer wieder den Rufknopf drückt, als wöre er der Auslöser für eine Bombe.


Ich kann mich weder in der Cafeteria noch in der Einganfshalle verstecken, da würden sie mich am ehesten vermuten. Also nehme ich die Treppe in den fünften Stock, Entbindungsstation. Im Wartebereich ist nur ein Telefon und das wird gerade benutzt: „Sechs Pfund, 33 Gramm“, sagt der Mann und lächelt so breit, dass ich denke, sein Gesicht kriegt gleich Risse. „Sie ist einfach vollkommen.“
Haben meine Eltern auch so reagiert, als ich da war? Hat mein Vater Rauchsignale verschickt? Hat er meine Finger und Zehen gezählt, in der sicheren Gewissheit, dass er die wunderschönste Zahl im Universum herausbekommen würde? Hat meine Mutter mich oben auf den Kopf geküsst und sich geweigert, mich an die Krankenschwester herzugeben, die mich saubermachen wollte? Oder haben sie mich ohne weiteres abgegeben, da sich das einzige wichtige zwischen meinem Bauch und der Plazenta befand?
Der frischgebackene Vater hängt endlich ein, lacht, ohne ersichtlichen Grund. „Glückwunsch“, sage ich, obwohl ich viel lieber sagen würde, er soll seine kleine Tochter nehmen und sie ganz fest halten, den Mond auf den Rand ihres Bettchens setzen und ihren Namen oben in die Sterne hängen, damit sie ihm nie im Leben das antut, was ich meinen Eltern angetan habe.
Ich rufe David an. 20 Minuten später fährt sein Wagen vor dem Haupteingang vor. Inzwischen ist Deputy Stackhouse informiert worden, dass ich verschwunden bin.
Er wartet an der Tür, als ich herauskomme. „Elena, deine Mutter macht sich furchtbare Sorgen um dich. Sie hat deinen Vater hergeholt. Er lässt das ganze Krankenhaus auf den Kopf stellen.“
Ich holte tief Luft. „Dann sagen Sie ihr, dass es mir gut geht“, erwidere ich und steige rasch zu David in den Wagen. Er fährt los und zündet sich eine Merit an, obwohl ich genau weiß, dass er meiner Mutter erzählt hat, er hätte aufgehört. Er dreht die Musik laut, schlägt mit der flachen Hand auf das Lenkrad, Erst als er an der Ausfahrt Frog Hollow vom Highway abbiegt, macht er das Radio aus und wird langwamer. „Und, ist sie ausgerastet?“
„Sie hat Dad von derArbeit weggeholt.“
In unserer Familie gilt es als Todsünde, meinen Vater von der Arbeit wegzuholen.
„Das letzte Mal, als sie das getan hat“, sagt David zu mir, „war Sarahs Krankeheit gerade festgestellt worden.“
„Na toll.“ Ich verschränke die Arme. „Da fühl ich mich doch gleich viel besser.“
David lächelt bloß. Er bläst einen Rauchring. „Schwesterchen“, sagt er, „willkommen auf der dunklen Seite.“


Sie fegen herein wie ein Wirbelwind. Sarah schafft es kaum mich anzusehen, ehe mein Vater sie nach oben in unser Zimmer schickt. Meine Mutter knallt ihre Handtasche hin, dann ihre Autoschlüssel und kommt dann auf mich zu. „Also schön“, sagt sie mit fast überschnappender Stimme. „Was ist los?“
Ich räuspere mich. „Ich habe mir einen Anwalt genommen.“
„Offensichtlich.“ Meine Mutter greift sich das Telefon und hält es mir hin. „Und jetzt sie zu, dass du ihn wieder loswirst.“
Es kostet mich ungeheure Anstrengung, aber ich schaffe es, den Kopf zu schütteln und das Telefon auf die Couchkissen fallen zu lassen.
„Elena, in Gottes Namen -“
„Rory.“ Die Stimme meines Vaters ist eine Axt. Sie fährt zwischen uns und wir springen auseinander. „Wir sollten Elena Gelegenheit geben, die Sache zu erklären. Da waren wir uns doch einig, nicht?“
Ich senke den Kopf. „Ich will es nicht mehr.“
Meine Mutter braust erneut auf. „Ach nein, weißt du was, Elena, ich will es auch nicht. Und Sarah erst recht nicht. Aber wir haben nun mal keine andere Wahl.“
Aber ich habe eine andere Wahl. Genau deshalb muss ich diesen Schritt tun.
Meine Mutter baut sich vor mir auf. „Du bist zu einen Anwalt gegangen und hast ihm weisgemacht, es ginge nur um dich – aber das stimmt nicht. Es geht um uns. Um uns alle -“
Die Hände meines Vaters schließen sich um ihre Schultern und drücken zu.
„Elena, Kleines, wir wissen, du denkst, dass du das tun musstest -“
„Ich denke das nicht“, fällt ihm meine Mutter ins Wort.
Mein Vater schließt die Augen. „Rory. Halt den Mund, verdammt.“ Dann blickt er wieder mich an. „Können wir uns unterhalten, nur wir drei, ohne dass ein Anwalt das für uns tun muss?“
Mir treten Tränen in die Augen, als er das sagt. Aber ich habe gewusst, dass es so kommen würde. Deshalb hebe ich das Kinn und lasse den Tränen gleichzeitig freien Lauf.
„Nein, Daddy, ich kann nicht.“
„Um Gottes Willen, Elena“, sagt meine Mutter. „Ist dir überhaupt klar, was das für Folgen hat?“
Meine Kehle verschließt sich wie der Verschluss einer Kamera, so das Luft und Entschuldigungen durch einen nadeldünnen Tunnel müssen. Ich bin unsichtbar, denke ich und merke zu spät, dass ich es ausgesprochen habe.
Meine Mutter ist so schnell, dass ich es nicht einmal kommen sehe. Doch sie schlägt mich so fest ins Gesicht, dass mein Kopf nach hinten schnellt. Der Abdruck ihrer Hand brandmarkt mich noch, als er längst verblasst ist. Falls irgendwer noch Zweifel hatte: Scham hat fünf Finger.
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der Teil isz HAMMER ... gefällt mir so sehr hoffe es geht bald weiter ..

vorallen das hier

Ich bin unsichtbar, denke ich und merke zu spät, dass ich es ausgesprochen habe.
Meine Mutter ist so schnell, dass ich es nicht einmal kommen sehe. Doch sie schlägt mich so fest ins Gesicht, dass mein Kopf nach hinten schnellt. Der Abdruck ihrer Hand brandmarkt mich noch, als er längst verblasst ist. Falls irgendwer noch Zweifel hatte: Scham hat fünf Finger.


mh das muss wehgetan haben .. ich denke es tut Rory doch sehr leid .. hoff ich ..

*zehn punkte*

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Es ist schon irgendwie klar, dass Rory das überrumpelt und dass sie verzweifelt versucht Sarah zu retten, aber irgendwie hat sie dabei vergessen, dass sie die Mutter BEIDER Mädchen ist.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass sie Elena gegenüber wirklich total kaltherzig ist, fast als würde sie sie Stück für Stück umbringen, damit Sarah überleben kann. Und das geht ja auch nicht, sie will Sarah am Leben erhalten und nimmt dafür in Kauf, dass Elena dafür nach und nach stirbt. Zumindest psychisch, also wenn ich an Elenas Stelle wäre, wäre ich schon längst zerbrochen!
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Sad Wow, krass, also das war ein genialer Teil! Super geschrieben, echt! Smile

Nunja, in so einer Situation ist es sicher schwer, aber Sarah steht nun mal an erster Stelle, schade das Elena das nicht versteht, aber Rory und Logan müssen versuchen das irgendiwe zu klären, denn es darf nicht soweit kommen, das es wirklich so schlimm wird!

Also ich hoffe, du schreibst bald weiter! Wink

Liebe Grüße Sindy Big Grin
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Hey Leute, danke für das tolle FB.
Tut mir Leid, dass es doch etwas länger gedauert hat, als vorhergesehen, aber naja...
Hier ist der neue Teil jedenfalls.
LG
Becci


ELENA
Einmal, als Sarah 8 und ich 5 war, hatten wir uns gezankt und ich wollte daraufhin ein eigenes Zimmer. Aber unser Haus hatte nur noch ein zweites Kinderzimmer und das war Davids, ich konnte also nirgendwohin. Und so beschloss Sarah, die ältere und klügere von uns, unsere Zimmer in zwei Hälften zu teilen. „Welche Seite willst du?“, fragte sie diplomatisch. „Du darfst sie dir sogar aussuchen.“
Ich wollte natürlich die Hälfte, in der mein Bett schon stand. Außerdem befanden sich in meiner Hälfte die Kiste mit den Barbiepuppen und die Regale mit unseren Mal- und Bastelsachen. Sarah wollte sich einen Markierstift von dort holen, aber ich sagte: „Der ist auf meiner Seite.“
„Dann gib mir einen“, erwiderte sie und ich reichte ihr den roten. Sie kletterte auf den Schreibtisch und probierte aus, ob sie mit der Hand an die Decke kam. „Wenn wir das gemacht haben“, sagt sie, „bleibst du auf deiner Seite und ich bleib auf meiner, okay?“ Ich nickte, ebenso entschlossen wie sie, mich an die Vereinbarung zu halten. Schließlich hatte ich all die guten Spielsachen. Sarah würde früher um eine Besuchserlaubnis betteln als umgekehrt.
„Schwörst du?“, fragte sie und wir leckten an zwei Fingern und hielten sie hoch.
Dann zog sie eine wackelige Linie von der Decke, über den Schreibtisch, über den hellgrünen Teppich und über den Nachttisch an der anderen Wand wieder hoch. Dann reichte sie mir den Markierstift. „Denk dran“, sagte sie. „Wenn du dein Wort brichst, bist du ein Lügner.“
Ich setzte mich in meiner Hälfte auf den Boden, nahm jede Barbie, die wir besaßen, aus der Kiste, zog sie aus und wieder an, machte einen Riesenwirbel, um zu zeigen, dass ich sie hatte und Sarah nicht. Sie hockte mit angezogenen Knien auf ihrem Bett und beobachtete mich. Sie reagierte nicht im geringsten.
Das heißt, bis meine Mutter uns zum Essen rief.
Dann lächelte Sarah mich an und spazierte zur Tür hinaus – die auf ihrer Seite war.
Ich ging bis an die Linie, die sie auf dem Teppich gezogen hatte, trat mit den Zehen darauf. Ich wollte keine Lügnerin sein. Aber ich wollte auch nicht den Rest meines Lebens in meinem Zimmer bleiben.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis meine Mutter sich fragte, warum ich nicht runter in die Küche kam, aber mit 5 kommt einem manchmal eine Sekunde wie eine Ewigkeit vor. Sie blieb in der Tür stehen, starrte auf den Strich an den Wänden und auf dem Teppich und schloss die Augen, um die Ruhe zu bewahren. Sie marschierte in unser Zimmer und hob mich hoch. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. „Nicht“, schrie ich, „Dann darf ich nie wieder zurück!“
Sie verschwand und kam kurz darauf mit Topflappen, Geschirrtüchern und Couchkissen wieder. Sie verteilte alles in unregelmäßigen Abständen in Sarahs Hälfte auf dem Boden. „Komm schon“, drängte sie, aber ich rührte mich nicht. Dann kam sie zu mir und setzte sich neben mich auf mein Bett. „Das mag ja Sarahs Teich sein“, sagte sie, „aber das da sind meine Lilien.“ Sie sand auf und sprang auf ein Geschirrtuch und weiter auf ein Kissen. Sie blickte über die Schulter und ich trat auf das Geschirrtuch. Von dort auf das Kissen, auf einen Toplappen, den David in der ersten Klasse gemacht hatte, bis ganz durch Sarahs Zimmerhälfte hindurch. Meiner Mutter Schritt für Schritt zu folgen, war der sicherste Ausweg.


Ich stehe unter der Dusche, als Sarah das Schloss auffummelt und ins Badezimmer kommt. „Ich möchte mit dir reden“, sagt sie.
Ich stecke den Kopf am Plastikvorhang vorbei. „Wenn ich fertig bin“, sage ich, um Zeit bis zu dem Gespräch rauszuschinden, das ich gar nicht führen will.
„Nein, jetzt.“ Sie setzt sich auf den Klodeckel und seufzt. „Elena ... was du da machst-“
„Es ist bereits geschehen“, sage ich.
„Aber du kannst es ungeschehen machen, wenn du willst.“
Ich bin dankbar für den vielen Dampf zwischen uns, weil ich in diesem Augenblick den Gedanken unerträglich finde, das sie mein Gesicht sehen könnte. „Ich weiß“, flüstere ich.
Eine ganze Weile schweigt Sarah. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, ihr Kopf ist ein Hamsterrad, genau wie meiner. Du jagst über die Sprossen, ohne irgendwo anzukommen.
Schließlich spähe ich wieder aus der Dusche hervor. Sarah wischt sich über die Augen und schaut zu mir hoch.
„Weißt du eigentlich“, sagt sie, „dass du die einzige Freundin bist, die ich habe?“
„Das stimmt nicht“, entgegne ich sogleich, aber wir wissen beide, dass ich lüge. Sarah hat so oft und so lange in der Schule gefehlt, dass sie keine festen Freunde gefunden hat.
Die meisten, mit denen sie sich im Laufe ihrer langen Remissionsphase angefreundet hat, haben sich von ihr zurückgezogen. Es ist nicht leicht für durchschnittliche Jugendliche, mit jemandem umzugehen, der todkrank ist.
Und umgekehrt fällt es Sarah schwer, sich auf Schulbälle zu freuen und wegen Abschlussklausuren aufgeregt zu sein, wenn sie nicht mal weiß, ob sie das alles noch erleben wird.
Sie kennt ein paar Leute aus der Schule, klar, aber wenn die mal vorbeikommen, sehen sie aus, als würden sie eine Strafe absitzen, wie sie da auf der Kante von Sarahs Bett hocken und es nicht erwarten können, wieder zu gehen, heilfroh, dass das Schicksal sie verschont hat -
Eine richtige Freundin ist gar nicht in der Lage, Mitleid mit dir zu haben.
„Ich bin nicht deine Freundin“, sage ich und ziehe den Vorhang wieder zu,. „Ich bin deine Schwester.“ Und eine verdammt schlechte, denke ich. Ich halte das Gesicht in den Wasserstrahl, damit sie nicht merkt, dass auch ich weine.
Plötzlich wird der Vorhang zur Seite gerissen und ich stehe ungeschützt vor ihr. „Genau darüber wollte ich mit dir reden“, sagt Sarah. „Wenn du nicht mehr meine Schwester sein willst, schön. Aber ich glaube, ich könnte es nicht aushalten, dich als Freundin zu verlieren.“
Sie zieht den Vorhang wieder zu und der Dampf umhüllt mich. Gleich darauf höre ich, wie die Tür auf -und zugeht und einen eiskalten Lufthauch zurücklässt.
Auch ich halte den Gendanken nicht aus, sie zu verlieren.


Als Sarah eingeschlafen ist, krieche ich aus dem Bett und stelle mich neben sie. Als ich ihr die flache Hand unter die Nase halte, um zu überprüfen, ob sie atmet, spüre ich einen Hauch Luft auf der Haut. Ich könnte ihr jetzt auf Nase und Mund drücken, sie festhalten, wenn sie sich wehrt. Wäre das so viel anders als das, was ich bereits mache?
Ich höre Schritte auf dem Flur und tauche wieder unter meine Betdecke. Ich drehe mich auf die Seite, weg von der Tür, für den Fall, dass meine Augenlider noch flackern, wenn meine Eltern ins Zimmer kommen.
„Ich kann es einfach nicht fassen“, flüstert meine Mutter.
„Ich kann es nicht fassen, dass sie das getan hat.“
Mein Vater ist so leise, dass ich mich frage, ob ich mich vielleicht geirrt habe, ob er überhaupt mitgekommen ist.
„Genau wie David“, fügt meine Mutter hinzu. „Sie tut das, um auf sich aufmerksam zu machen.“ Ich spüre ihren Blick auf mir, als wäre ich ein Wesen, das sie noch nie gesehen hat. „Vielleicht sollten wir mal was mit ihr allein unternehmen. Ins Kino gehen oder shoppen, damit sie sich nicht übergangen fühlt. Damit sie sieht, dass sie nicht irgendwas Verrücktes machen muss, damit wir sie wahrnehmen. Was meinst du?“
Mein Vater lässt sich Zeit mit seiner Antwort. „Naja“, sagt er leise, „vielleicht ist es ja gar nicht verrückt.“
Kennt ihr das, dass einem die Stille im Dunklen gegen die Trommelfelle drückt, einen taub macht? Genau das passiert jetzt, so dass ich die Antwort meiner Mutter fast nicht mitkriege. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich, Logan?“
Und mein Vater: „Wer sagt denn, dass es Seiten gibt.“
Aber selbst ich könnte die Antwort geben. Es gibt immer Seiten, Es gibt immer einen Sieger und einen Verlierer. Damit einer was bekommen kann, muss ein anderer was geben.
Sekunden später schließt sich die Tür und das Flurlicht, das an der Decke getanzt hat, verschwindet. Blinzelnd drehe ich mich auf den Rücken – und sehe, dass meine Mutter an meinem Bett steht. „Ich hab gedacht, du wärst gegangen“, flüstere ich.
Sie setzt sich ans Fußende meines Bettes und ich rücke ein Stück zur Seite. Sie umfasst meine Wade, bevor ich zu weit weg bin. „Was denkst du sonst noch, Elena?“
Mein Magen zieht sich zusammen. „Ich denke ... ich denke, du musst mich hassen.“
Selbst in der Dunkelheit kann ich ihre Augen schimmern sehen. „Ach Elena“, seufzt meine Mutter, „du musst doch wissen, wie lieb ich dich hab.“
Sie breitet die Arme aus und ich schmiege mich hinein, als wäre ich wieder ganz klein und würde genau hineinpassen. Ich presse das Gesicht an ihre Schulter. Mein allergrößter Wunsch wäre es, die Zeit ein wenig zurückzudrehen. Wieder das Kind zu sein, das ich mal war, wieder glauben zu können, dass alles, was meine Mom sagt, hundertprozentig richtig ist, ohne allzu genau hinzuschauen und die haarfeinen Risse zu sehen.
Meine Mutter zieht mich noch fester an sich. „Wir reden mit dem Richter und erklären die Sache“, sagt sie. „Wir bringen alles wieder in Ordnung.“ Und weil das wirklich die einzigen Worte sind, die ich je hören wollte, nicke ich.
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