21.03.2005, 00:38
Katzenaugen 2
Es ist Samstag Abend, einige Wochen später. Ihr Gesicht ist verheilt. Von der Schwellung die sie tagelang geplagt hat, von dem blauen Schimmer und der Blutkruste ist nichts mehr übrig. Ihr Vater verhält sich ihr gegenüber wie immer. Alles scheint normal, die Striemen an ihrem Hals sind verheilt, ihre Familie tut so, als wenn nie etwas gewesen wäre, also warum soll sie es nicht auch tun? Sie sieht ja selbst, dass ihre körperlichen Schmerzen verschwunden sind. Sie spürt ja selbst, wie der Schmerz nachlässt, irgendwann verschwindet und nichts zurück lässt, gar nichts. Genauso wenig wie sie ist. Sie sitzt neben dem Mann, der ihr gröÃter Peiniger, eigentlich ihr gröÃter Feind und gleichzeitig ihr Vater ist. Wenn die Wunden verheilt sind, die Schmerzen beseitigt, ihr Vater ihr längst wieder viel Geld gegeben hat, um sich von dem letzten Hauch von schlechten Gewissen, der ihn überrannt haben muss, als er ihr geschwollenes Gesicht sah, freizukaufen, warum sitzt sie dann immer noch wie ein Wachhund neben ihm? Ihre Sinne sind gespannt, sie ist hellwach, konzentriert sich auf das Monster neben ihr. Horcht auf jede kleine Bewegung, auf jeden Atemzug, sie versucht zu interpretieren, egal was er sagt. Sie muss besser aufpassen, es ist ihre Schuld. Oft genug sagen sie es ihr, sie sagen es alle. Sie sind ihre Eltern, müssen sie nicht Recht haben?
Im Moment scheint es, als hätte sie nichts zu fürchten. Ihr Bruder, meistens der Auslöser und stetiger Schürer des Feuers ist nicht da, ihre Mutter sitzt am Tisch, beachtet sie nicht, sieht durch sie hindurch, so wie immer. Ihr Vater scheint es der Mutter gleich zutun. Die beiden Menschen, die ihr das Leben geschenkt haben und es jede Sekunde mehr bereuen zu scheinen, tun dass was sie von ihnen erwartet. Zu erwarten hat. Denn so war es früher, so war es normal, es war Alltag. Sie kann sich an keinen Tag erinnern, an dem jemals jemand bei Tisch sie nach etwas anderem als den Speiseutensilien gefragt hat. Sie ist unsichtbar, niemand kümmert sich um sie, es dreht sich um ihren Bruder. Es muss sich auch um ihren Bruder drehen, denn ihr Bruder ist so viel besser als sie, er ist so viel mehr Wunschkind als sie es jemals sein könnte. Früher, bevor ihr Bruder reden konnte, sprach sie noch von Kindheit. Heute weià sie, das ihre Kindheit dann vorbei war, als ihr Bruder das Sprechen gelernt hat. Niemals wird sie den ersten Schlag ins Gesicht vergessen, für eine zerbrochene Vase auf dem teuren Marmor, die sie nicht kaputt gemacht hat. Es war ihr Bruder, seit Lebzeiten ihr gröÃter Feind, der ihr nicht nur die Mutter sondern auch noch das Recht auf Kindheit gestohlen hat. Egal wie sehr sie geweint hat und gefleht, wenn ihr Bruder sagte sie war es, gab es für sie kein Erbarmen und bei Gott, sie war es immer.
Sie merkt, wie sie langsam abschweift, tief hinabtaucht in Kindheitserinnerungen, sucht vergeblich nach einer Erinnerung die nicht in Verbindung mit Schmerzen für sie stehen. âWarum kannst du deinen Bruder nicht lieben? Was hat er dir getan?â Sie findet keine Antworten auf die Fragen, was soll sie auch sagen? Kein einziger schöner Gedanke erinnert an ihn. Er hat ihr das Leben zur Hölle gemacht, seit er die Augen öffnen konnte. Früher, bevor er da war, sie weià nicht mehr viel. Sechs Jahre war sie alt. War das ihre Kindheit? Sie hat ein Bild. Ein Bild von ihrer Geburt. Ein Bild einer perfekten glücklichen Familie. Ein glückliches Ehepaar mit 2 Kindern. Das andere Mädchen neben ihr ist ihre Zwillingsschwester. Auf dem Bild sieht sie ihn lachen, wie sie es nach dem Tod ihrer Schwester nie wieder gesehen hat. Vielleicht ist mit ihrer Schwester auch die Liebe für sie gestorben, sie weià es nicht. Kann es nicht herausfinden. Sechs Jahre war sie alt, als plötzlich die Spielgefährtin, die ihr glich wie aus dem Gesicht geschnitten verschwand und in eine Holzkiste gesperrt betrauert wurde. Sie konnte es nicht verstehen, verstand nicht warum sie alle weinten, war doch diese Holzkiste das perfekte Versteck für ihre Schwester. Niemand würde sie jemals da unten unter der Erde finden, niemals würde sie alleine suchen müssen. Ein sechsjähriges Kind kann nicht verstehen, dass die geliebte Spielgefährtin an einer gefährlichen Krankheit gestorben ist, die ihr auch das Leben schwer machen wird und ihren Vater viel Geld kosten.
Unwillkürlich zuckt sie zusammen, ihr Vater hat sie berührt! Sie schreckt hoch aus ihren Gedanken und sieht in das kalte lieblose Gesicht ihres Vaters, er will gar nichts von ihr, nur das Brot will er haben. Sie reicht es ihm, sagt brav âBitte sehrâ, hofft wie immer vergebens auf eine nette Geste, auf ein freundliches Wort, auf ein einziges Lächeln. Sie spürt an der Stelle, die er gestreift hat immer noch die unangenehme elektrisierende Wirkung. Ihr ganzer Körper wird sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Ihr Herz beginnt zu rasen, ihr Puls schlägt schneller, sie hat Angst. Bei jeder kleinen auch nur zufälligen Berührung zuckt sie zusammen und kann den folgenden Panikanfall niemals unterdrücken. Schnell steht sie auf, rafft das Geschirr zusammen und verschwindet in der Küche. Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Augen stehen weit offen und sie stiert hinaus aus dem Fenster, jetzt darf sie ihre Augen ja nicht schlieÃen, sonst muss sie die grauenhaften Bilder der Erinnerung sehen. Ein kleines Mädchen zu FüÃen ihres Vaters der auf sie eintritt, das widerliche Gesicht ihres eigen Fleisch und Blutes, dass sie verhöhnt und verspottet. Klirrend knallt sie das Porzellan auf die Ablage, hat Mühe sich unter Kontrolle zu halten. Sie hat so furchtbar Angst. Sie hat Angst vor ihrem eigenen Vater. So lächerlich kommt ihr dieses Gefühl vor, sie lehnt sich schwindelig gegen die Theke, schämt sich für diese Panikattacke, kann sich nicht dagegen wehren, egal wie sehr die Wunden verheilen, ihre Seele kann nie mehr heilen und zittert erbarmungslos weiter. Sie hofft so sehr, dass jetzt niemand in die Küche geht. Würde ihr Bruder oder ihre Mutter sie so sehen, sie würden sie verspotten. Was ihr Vater von diesem Anblick halten würde, malt sie sich lieber gar nicht aus. Ihr ganzes Leben schon versucht sie immer nur ihm zu gefallen, damit er ihr wenigstens ein Lächeln schenkt, nur einmal eins, welche er sonst für ihren Bruder hat. Ein Lächeln möchte sie von ihm, nur einmal ein kleines Eingeständnis, dass er den Tag ihrer Geburt nicht so sehr bereut wie sie befürchtet. Aber sie bekommt es nicht, sie hat es nie bekommen und sie wird ihr Leben lang vergebens darauf hoffen. Aber lassen wir sie hoffen, wie soll sie sonst ihr Leben überstehen bei dieser Familie? Wenn sie nicht einmal mehr die Hoffnung doch irgendwie geliebt zu werden hat, dann verkümmert sie. Sie können ihre Hoffnung schmälern aber sie nicht zerstören. Sie muss sich an etwas klammern, auch wenn es nur eine Illusion ist.
Früher, als sie ins Bett geschickt wurde, obwohl sie so viel älter war als ihr Bruder und Mutter ihm noch vorgelesen hat. Sie erinnert sich genau, vor die Tür hat sie sich gesetzt, mit dem Kopf gegen die Tür um auch ja jedes freundliche Wort zu erhaschen, jedes Detail der Geschichte in sich aufzusaugen. Geschichten von Zauberern, Schlössern, Rittern und Prinzessinnen, niemals hat sie so etwas von ihrer Mutter zuhören bekommen aber wenn sie ihre Augen geschlossen hielt, immer mit dem Ohr in Richtung Flur, damit ihr Vater sie nicht erwischen konnte, hat sie sich einfach vorgestellt, wie nicht ihr Bruder sondern sie in diesem Bett sitzt und die Geschichte ganz allein für sie erzählt wird.
Der Anfall ist vorbei, sie kann wieder normal Atmen. Ihr Kreislauf hat sich ebenso schnell wie er auÃer Kontrolle geriet wieder stabilisiert. Sie sollte gehen, es ist Samstag und Zeit. Lieber gehen, solange ihr Bruder noch nicht da ist, bloà nicht wieder irgendwo hinein geraten.
Auf ein Konzert will sie gehen mit ihren Freunden.
Sie trifft sie am Bahnhof, es sind die selben wie immer. Sie hat diesmal kein entstelltes Gesicht, alle atmen auf. Auch sie, endlich kann sie etwas Spaà haben und genieÃen, ohne Schmerzen im Hintergrund.
Das Konzert ist Klasse, die Karten waren teuer, aber sie hat das Geld von ihrem Vater. Ihr Vater hat schlieÃlich genug Geld. Als die Band zur zweiten Pause ansetzt ist es bereits nach 12 Uhr. Ein Teil ihrer Freunde ist schrecklich betrunken, es ist ihr bester Kumpel, der so betrunken ist, dass er kaum mehr grade stehen kann, er hängt an ihr und säuselt sie voll. Er ist unglücklich sie weià es aber kann ihm nicht helfen. Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht. Aber er wird schon darüber hinwegkommen. Der eine Junge, der ihr immer noch ihre Träume versüÃt, steht schon den ganzen Abend neben ihr, sie verstehen sich wirklich gut. Er ist ein so lieber Kerl, sie mag ihn wirklich.
Ihr Kumpel zieht wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich. Denn jetzt umarmt er sie. Es ist kein Problem für sie, ihn zu umarmen. Bei ihm hat sie keine Angst, fühlt sich sicher, so unbesiegbar, dass sie ihn nur zu gerne ebenfalls umarmt. Nach einer Weile allerdings spürt sie, wie die Hände ihres besten Freundes auf Wanderschaft gehen, am Anfang wundert sie sich, aber dann ist er klar unterhalb der Grenze des erträglichen. Er legt seine Hände auf ihren Hintern, dass will sie nicht. Sie lässt ihn los und versucht sich von ihm zu lösen. â Vergeblich, er reagiert nicht einmal. Sie stöÃt ihn an, sagt ihm er solle sie loslassen, sie würde es nicht wollen. Er nimmt seine Hände nicht von ihr, im Gegenteil, sagt ihr, er wüsste genau, dass sie es ebenso wollen würde.
Von welchem Es redet er? Für sie gibt es kein Es. Sie sind Freunde, vielleicht beste Freunde aber mehr nicht. Sie wendet ihren Blick von ihm ab, er hat sie immer noch im Arm, sie sucht nach den Augen ihres Schwarms, er steht daneben und lächelt sie an, er scheint die Situation nicht zu verstehen oder sie zumindest nicht ernst zu nehmen. Ihr Kumpel scheint aber immer noch nicht genug zu haben, er betatscht sie weiter, sie hat ein Glas in der Hand, sagt ihm wieder und wieder er solle von ihr ablassen, er tut es nicht. Sie kann seinen Willen nicht brechen. Schlagartig ist die unbesiegbare Sicherheit in seinen Armen weit weg. Sie sitzt in der Falle, genauso wie sie zuhause schon immer in der Falle saÃ. Was soll sie tun? Sie will nur noch weg, erträgt die Nähe des Freundes nicht mehr. Sagt wieder und wieder Nein. Er reagiert nicht. Sie schüttet ihm den Inhalt ihres Glases über den Kopf. Das Wasser rinnt über sein Gesicht, es ist ihm egal. Inzwischen hebt er sie so, dass sie sich nicht mehr befreien kann. Er hat seinen Arm um ihren Nacken, sie kann nicht weg. Er ist gröÃer und stärker als sie. Sein Mund kommt ihren Lippen gefährlich nahe. Sie riecht den Alkohol sieht den enthemmten Blick in seinen Augen, sie weià was er will und sie will nur noch weg. Sie trommelt auf seine Schulter ein, er soll sie loslassen, er küsst sie unsanft und lieblos auf ihre Lippen. Ihr wird schlecht bei der Berührung und sie blickt ängstlich zu ihrem Schwarm. Er steht da und versteht die Situation nicht.
Dann kommt Bewegung in ihren besten Freund. Mit seinen Händen fährt er unter ihr Top und nestelt volltrunken an ihrem Bh herum, das Ekelgefühl in ihr nimmt überhand und sie sagt immer wieder Stop, nein lass es. Aber es ist zwecklos, denn ihr Freund hat inzwischen beschlossen wo es hingeht. Er zieht sie heraus aus dem Konzert, sie hat keine Chance, er hebt sie buchstäblich am Schlafittchen, sie muss mit ob sie will oder nicht. Kläglich lässt sie sich von ihm hinaus aus der Menge ziehen, schlieÃt ihre Augen, kann die tanzende Menge nicht mehr sehen, die alle nicht verstehen und ihr nicht helfen.
Sie kommen drauÃen in der Garderobe an, er drückt sie gegen eine Wand, ihr Körper wird hart gegen die Backsteine gedrängt, er küsst ihren Hals, der beiÃende Geruch des Alkohols sorgt für widerliche Atemnot und sie steht einfach nur noch da, die Tränen rinnen stumm über ihr Gesicht. Warum kann sie sich nicht befreien und abhauen? Der Mann ist stärker als sie, sie kommt sich so klein und nichtig vor wie bei ihrem Vater, dieser Mensch könnte ihr Vater sein, er übt in der gleichen Form wie ihr Vater Gewalt auf sie aus und tut ihr weh. Das Mädchen steht betäubt vor Schmerz bewegungslos da, sie kann es nicht fassen, das ihr so etwas passieren soll. Sie spürt den harten widerlich schmerzenden Griff zwischen ihre Beine. Ihr Herz rast, der Puls scheint still zu stehen, sie kann nicht mehr Atmen. Er wird sie benutzen, sie verletzten und wegwerfen so wie ihr Vater es getan hat. Sie scheint bereits verloren und hat die Hoffnung aufgegeben. Steht bewegungslos da und lässt es geschehen, die schockierende Angst lähmt sie, sie kann nicht mehr dagegen ankämpfen.
Aber dann spürt sie wie sich die Hand um ihren Hals lockert, er hebt sie stramm, damit sie sich nicht wert, was er nicht bräuchte, sie kann sich vor Entsetzen eh nicht mehr Bewegen. Plötzlich zieht sich die Hand komplett zurück. Langsam öffnet sie ihre Augen, ist er schon fertig mit ihr? Als sie ihre Augen vollständig offen hat sieht sie durch den matten Vorhang der Tränen den Jungen mit den eisblauen Augen vor sich, er holt gerade aus und haut ihrem besten Freund die Faust frontal ins Gesicht. Dieser ist so betrunken, dass er es nicht mehr versteht und besinnungslos zusammenklappt.
Ihr Körper fängt an zu beben, die nächste Panikattacke ergreift Besitz von ihrem Körper, das hilflose, um die Kindheit betrogene Wesen in ihr beginnt zu zittern, Tränen strömen über ihre Wangen, sie schlieÃt die Augen, kann sowieso nichts mehr sehen. Es ist so schrecklich dunkel um sie herum, dass die Lampe direkt über ihr auch nicht hilft.
[font="]Der Junge steht vor dem zittern und bebenden Wesen, das hilflos unter einer groÃen Lampe kauert und zu dessen FüÃen eine Schnapsleiche liegt und weià nicht wie ihm geschieht. Er ist unglaublich froh, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hat. Er wusste doch von Anfang an, dass sie sich auf so etwas nicht einlassen würde und er dankt seinem Sinn dafür, ihr hinterher gegangen zu sein. Er sucht nach ihren wunderschönen Augen, sucht nach dem traurigen Ausdruck darin, aber er kann nichts finden, ihre Augen sind geschlossen. Ein zweites Mal an diesem Abend hört er auf seinen Instinkt und geht langsam auf sie zu, kündigt an, was er vorhat, fährt vorsichtig mit seinen Fingern über ihre zitternden Arme und zieht sie schlieÃlich langsam in seine Arme. Langsam streicht er über den weinenden Körper, die Katzenaugen vor sich und fragt sich, welches dunkles Geheimnis sich dahinter wohl verbirgt.[/font]
Es ist Samstag Abend, einige Wochen später. Ihr Gesicht ist verheilt. Von der Schwellung die sie tagelang geplagt hat, von dem blauen Schimmer und der Blutkruste ist nichts mehr übrig. Ihr Vater verhält sich ihr gegenüber wie immer. Alles scheint normal, die Striemen an ihrem Hals sind verheilt, ihre Familie tut so, als wenn nie etwas gewesen wäre, also warum soll sie es nicht auch tun? Sie sieht ja selbst, dass ihre körperlichen Schmerzen verschwunden sind. Sie spürt ja selbst, wie der Schmerz nachlässt, irgendwann verschwindet und nichts zurück lässt, gar nichts. Genauso wenig wie sie ist. Sie sitzt neben dem Mann, der ihr gröÃter Peiniger, eigentlich ihr gröÃter Feind und gleichzeitig ihr Vater ist. Wenn die Wunden verheilt sind, die Schmerzen beseitigt, ihr Vater ihr längst wieder viel Geld gegeben hat, um sich von dem letzten Hauch von schlechten Gewissen, der ihn überrannt haben muss, als er ihr geschwollenes Gesicht sah, freizukaufen, warum sitzt sie dann immer noch wie ein Wachhund neben ihm? Ihre Sinne sind gespannt, sie ist hellwach, konzentriert sich auf das Monster neben ihr. Horcht auf jede kleine Bewegung, auf jeden Atemzug, sie versucht zu interpretieren, egal was er sagt. Sie muss besser aufpassen, es ist ihre Schuld. Oft genug sagen sie es ihr, sie sagen es alle. Sie sind ihre Eltern, müssen sie nicht Recht haben?
Im Moment scheint es, als hätte sie nichts zu fürchten. Ihr Bruder, meistens der Auslöser und stetiger Schürer des Feuers ist nicht da, ihre Mutter sitzt am Tisch, beachtet sie nicht, sieht durch sie hindurch, so wie immer. Ihr Vater scheint es der Mutter gleich zutun. Die beiden Menschen, die ihr das Leben geschenkt haben und es jede Sekunde mehr bereuen zu scheinen, tun dass was sie von ihnen erwartet. Zu erwarten hat. Denn so war es früher, so war es normal, es war Alltag. Sie kann sich an keinen Tag erinnern, an dem jemals jemand bei Tisch sie nach etwas anderem als den Speiseutensilien gefragt hat. Sie ist unsichtbar, niemand kümmert sich um sie, es dreht sich um ihren Bruder. Es muss sich auch um ihren Bruder drehen, denn ihr Bruder ist so viel besser als sie, er ist so viel mehr Wunschkind als sie es jemals sein könnte. Früher, bevor ihr Bruder reden konnte, sprach sie noch von Kindheit. Heute weià sie, das ihre Kindheit dann vorbei war, als ihr Bruder das Sprechen gelernt hat. Niemals wird sie den ersten Schlag ins Gesicht vergessen, für eine zerbrochene Vase auf dem teuren Marmor, die sie nicht kaputt gemacht hat. Es war ihr Bruder, seit Lebzeiten ihr gröÃter Feind, der ihr nicht nur die Mutter sondern auch noch das Recht auf Kindheit gestohlen hat. Egal wie sehr sie geweint hat und gefleht, wenn ihr Bruder sagte sie war es, gab es für sie kein Erbarmen und bei Gott, sie war es immer.
Sie merkt, wie sie langsam abschweift, tief hinabtaucht in Kindheitserinnerungen, sucht vergeblich nach einer Erinnerung die nicht in Verbindung mit Schmerzen für sie stehen. âWarum kannst du deinen Bruder nicht lieben? Was hat er dir getan?â Sie findet keine Antworten auf die Fragen, was soll sie auch sagen? Kein einziger schöner Gedanke erinnert an ihn. Er hat ihr das Leben zur Hölle gemacht, seit er die Augen öffnen konnte. Früher, bevor er da war, sie weià nicht mehr viel. Sechs Jahre war sie alt. War das ihre Kindheit? Sie hat ein Bild. Ein Bild von ihrer Geburt. Ein Bild einer perfekten glücklichen Familie. Ein glückliches Ehepaar mit 2 Kindern. Das andere Mädchen neben ihr ist ihre Zwillingsschwester. Auf dem Bild sieht sie ihn lachen, wie sie es nach dem Tod ihrer Schwester nie wieder gesehen hat. Vielleicht ist mit ihrer Schwester auch die Liebe für sie gestorben, sie weià es nicht. Kann es nicht herausfinden. Sechs Jahre war sie alt, als plötzlich die Spielgefährtin, die ihr glich wie aus dem Gesicht geschnitten verschwand und in eine Holzkiste gesperrt betrauert wurde. Sie konnte es nicht verstehen, verstand nicht warum sie alle weinten, war doch diese Holzkiste das perfekte Versteck für ihre Schwester. Niemand würde sie jemals da unten unter der Erde finden, niemals würde sie alleine suchen müssen. Ein sechsjähriges Kind kann nicht verstehen, dass die geliebte Spielgefährtin an einer gefährlichen Krankheit gestorben ist, die ihr auch das Leben schwer machen wird und ihren Vater viel Geld kosten.
Unwillkürlich zuckt sie zusammen, ihr Vater hat sie berührt! Sie schreckt hoch aus ihren Gedanken und sieht in das kalte lieblose Gesicht ihres Vaters, er will gar nichts von ihr, nur das Brot will er haben. Sie reicht es ihm, sagt brav âBitte sehrâ, hofft wie immer vergebens auf eine nette Geste, auf ein freundliches Wort, auf ein einziges Lächeln. Sie spürt an der Stelle, die er gestreift hat immer noch die unangenehme elektrisierende Wirkung. Ihr ganzer Körper wird sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Ihr Herz beginnt zu rasen, ihr Puls schlägt schneller, sie hat Angst. Bei jeder kleinen auch nur zufälligen Berührung zuckt sie zusammen und kann den folgenden Panikanfall niemals unterdrücken. Schnell steht sie auf, rafft das Geschirr zusammen und verschwindet in der Küche. Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Augen stehen weit offen und sie stiert hinaus aus dem Fenster, jetzt darf sie ihre Augen ja nicht schlieÃen, sonst muss sie die grauenhaften Bilder der Erinnerung sehen. Ein kleines Mädchen zu FüÃen ihres Vaters der auf sie eintritt, das widerliche Gesicht ihres eigen Fleisch und Blutes, dass sie verhöhnt und verspottet. Klirrend knallt sie das Porzellan auf die Ablage, hat Mühe sich unter Kontrolle zu halten. Sie hat so furchtbar Angst. Sie hat Angst vor ihrem eigenen Vater. So lächerlich kommt ihr dieses Gefühl vor, sie lehnt sich schwindelig gegen die Theke, schämt sich für diese Panikattacke, kann sich nicht dagegen wehren, egal wie sehr die Wunden verheilen, ihre Seele kann nie mehr heilen und zittert erbarmungslos weiter. Sie hofft so sehr, dass jetzt niemand in die Küche geht. Würde ihr Bruder oder ihre Mutter sie so sehen, sie würden sie verspotten. Was ihr Vater von diesem Anblick halten würde, malt sie sich lieber gar nicht aus. Ihr ganzes Leben schon versucht sie immer nur ihm zu gefallen, damit er ihr wenigstens ein Lächeln schenkt, nur einmal eins, welche er sonst für ihren Bruder hat. Ein Lächeln möchte sie von ihm, nur einmal ein kleines Eingeständnis, dass er den Tag ihrer Geburt nicht so sehr bereut wie sie befürchtet. Aber sie bekommt es nicht, sie hat es nie bekommen und sie wird ihr Leben lang vergebens darauf hoffen. Aber lassen wir sie hoffen, wie soll sie sonst ihr Leben überstehen bei dieser Familie? Wenn sie nicht einmal mehr die Hoffnung doch irgendwie geliebt zu werden hat, dann verkümmert sie. Sie können ihre Hoffnung schmälern aber sie nicht zerstören. Sie muss sich an etwas klammern, auch wenn es nur eine Illusion ist.
Früher, als sie ins Bett geschickt wurde, obwohl sie so viel älter war als ihr Bruder und Mutter ihm noch vorgelesen hat. Sie erinnert sich genau, vor die Tür hat sie sich gesetzt, mit dem Kopf gegen die Tür um auch ja jedes freundliche Wort zu erhaschen, jedes Detail der Geschichte in sich aufzusaugen. Geschichten von Zauberern, Schlössern, Rittern und Prinzessinnen, niemals hat sie so etwas von ihrer Mutter zuhören bekommen aber wenn sie ihre Augen geschlossen hielt, immer mit dem Ohr in Richtung Flur, damit ihr Vater sie nicht erwischen konnte, hat sie sich einfach vorgestellt, wie nicht ihr Bruder sondern sie in diesem Bett sitzt und die Geschichte ganz allein für sie erzählt wird.
Der Anfall ist vorbei, sie kann wieder normal Atmen. Ihr Kreislauf hat sich ebenso schnell wie er auÃer Kontrolle geriet wieder stabilisiert. Sie sollte gehen, es ist Samstag und Zeit. Lieber gehen, solange ihr Bruder noch nicht da ist, bloà nicht wieder irgendwo hinein geraten.
Auf ein Konzert will sie gehen mit ihren Freunden.
Sie trifft sie am Bahnhof, es sind die selben wie immer. Sie hat diesmal kein entstelltes Gesicht, alle atmen auf. Auch sie, endlich kann sie etwas Spaà haben und genieÃen, ohne Schmerzen im Hintergrund.
Das Konzert ist Klasse, die Karten waren teuer, aber sie hat das Geld von ihrem Vater. Ihr Vater hat schlieÃlich genug Geld. Als die Band zur zweiten Pause ansetzt ist es bereits nach 12 Uhr. Ein Teil ihrer Freunde ist schrecklich betrunken, es ist ihr bester Kumpel, der so betrunken ist, dass er kaum mehr grade stehen kann, er hängt an ihr und säuselt sie voll. Er ist unglücklich sie weià es aber kann ihm nicht helfen. Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht. Aber er wird schon darüber hinwegkommen. Der eine Junge, der ihr immer noch ihre Träume versüÃt, steht schon den ganzen Abend neben ihr, sie verstehen sich wirklich gut. Er ist ein so lieber Kerl, sie mag ihn wirklich.
Ihr Kumpel zieht wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich. Denn jetzt umarmt er sie. Es ist kein Problem für sie, ihn zu umarmen. Bei ihm hat sie keine Angst, fühlt sich sicher, so unbesiegbar, dass sie ihn nur zu gerne ebenfalls umarmt. Nach einer Weile allerdings spürt sie, wie die Hände ihres besten Freundes auf Wanderschaft gehen, am Anfang wundert sie sich, aber dann ist er klar unterhalb der Grenze des erträglichen. Er legt seine Hände auf ihren Hintern, dass will sie nicht. Sie lässt ihn los und versucht sich von ihm zu lösen. â Vergeblich, er reagiert nicht einmal. Sie stöÃt ihn an, sagt ihm er solle sie loslassen, sie würde es nicht wollen. Er nimmt seine Hände nicht von ihr, im Gegenteil, sagt ihr, er wüsste genau, dass sie es ebenso wollen würde.
Von welchem Es redet er? Für sie gibt es kein Es. Sie sind Freunde, vielleicht beste Freunde aber mehr nicht. Sie wendet ihren Blick von ihm ab, er hat sie immer noch im Arm, sie sucht nach den Augen ihres Schwarms, er steht daneben und lächelt sie an, er scheint die Situation nicht zu verstehen oder sie zumindest nicht ernst zu nehmen. Ihr Kumpel scheint aber immer noch nicht genug zu haben, er betatscht sie weiter, sie hat ein Glas in der Hand, sagt ihm wieder und wieder er solle von ihr ablassen, er tut es nicht. Sie kann seinen Willen nicht brechen. Schlagartig ist die unbesiegbare Sicherheit in seinen Armen weit weg. Sie sitzt in der Falle, genauso wie sie zuhause schon immer in der Falle saÃ. Was soll sie tun? Sie will nur noch weg, erträgt die Nähe des Freundes nicht mehr. Sagt wieder und wieder Nein. Er reagiert nicht. Sie schüttet ihm den Inhalt ihres Glases über den Kopf. Das Wasser rinnt über sein Gesicht, es ist ihm egal. Inzwischen hebt er sie so, dass sie sich nicht mehr befreien kann. Er hat seinen Arm um ihren Nacken, sie kann nicht weg. Er ist gröÃer und stärker als sie. Sein Mund kommt ihren Lippen gefährlich nahe. Sie riecht den Alkohol sieht den enthemmten Blick in seinen Augen, sie weià was er will und sie will nur noch weg. Sie trommelt auf seine Schulter ein, er soll sie loslassen, er küsst sie unsanft und lieblos auf ihre Lippen. Ihr wird schlecht bei der Berührung und sie blickt ängstlich zu ihrem Schwarm. Er steht da und versteht die Situation nicht.
Dann kommt Bewegung in ihren besten Freund. Mit seinen Händen fährt er unter ihr Top und nestelt volltrunken an ihrem Bh herum, das Ekelgefühl in ihr nimmt überhand und sie sagt immer wieder Stop, nein lass es. Aber es ist zwecklos, denn ihr Freund hat inzwischen beschlossen wo es hingeht. Er zieht sie heraus aus dem Konzert, sie hat keine Chance, er hebt sie buchstäblich am Schlafittchen, sie muss mit ob sie will oder nicht. Kläglich lässt sie sich von ihm hinaus aus der Menge ziehen, schlieÃt ihre Augen, kann die tanzende Menge nicht mehr sehen, die alle nicht verstehen und ihr nicht helfen.
Sie kommen drauÃen in der Garderobe an, er drückt sie gegen eine Wand, ihr Körper wird hart gegen die Backsteine gedrängt, er küsst ihren Hals, der beiÃende Geruch des Alkohols sorgt für widerliche Atemnot und sie steht einfach nur noch da, die Tränen rinnen stumm über ihr Gesicht. Warum kann sie sich nicht befreien und abhauen? Der Mann ist stärker als sie, sie kommt sich so klein und nichtig vor wie bei ihrem Vater, dieser Mensch könnte ihr Vater sein, er übt in der gleichen Form wie ihr Vater Gewalt auf sie aus und tut ihr weh. Das Mädchen steht betäubt vor Schmerz bewegungslos da, sie kann es nicht fassen, das ihr so etwas passieren soll. Sie spürt den harten widerlich schmerzenden Griff zwischen ihre Beine. Ihr Herz rast, der Puls scheint still zu stehen, sie kann nicht mehr Atmen. Er wird sie benutzen, sie verletzten und wegwerfen so wie ihr Vater es getan hat. Sie scheint bereits verloren und hat die Hoffnung aufgegeben. Steht bewegungslos da und lässt es geschehen, die schockierende Angst lähmt sie, sie kann nicht mehr dagegen ankämpfen.
Aber dann spürt sie wie sich die Hand um ihren Hals lockert, er hebt sie stramm, damit sie sich nicht wert, was er nicht bräuchte, sie kann sich vor Entsetzen eh nicht mehr Bewegen. Plötzlich zieht sich die Hand komplett zurück. Langsam öffnet sie ihre Augen, ist er schon fertig mit ihr? Als sie ihre Augen vollständig offen hat sieht sie durch den matten Vorhang der Tränen den Jungen mit den eisblauen Augen vor sich, er holt gerade aus und haut ihrem besten Freund die Faust frontal ins Gesicht. Dieser ist so betrunken, dass er es nicht mehr versteht und besinnungslos zusammenklappt.
Ihr Körper fängt an zu beben, die nächste Panikattacke ergreift Besitz von ihrem Körper, das hilflose, um die Kindheit betrogene Wesen in ihr beginnt zu zittern, Tränen strömen über ihre Wangen, sie schlieÃt die Augen, kann sowieso nichts mehr sehen. Es ist so schrecklich dunkel um sie herum, dass die Lampe direkt über ihr auch nicht hilft.
[font="]Der Junge steht vor dem zittern und bebenden Wesen, das hilflos unter einer groÃen Lampe kauert und zu dessen FüÃen eine Schnapsleiche liegt und weià nicht wie ihm geschieht. Er ist unglaublich froh, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hat. Er wusste doch von Anfang an, dass sie sich auf so etwas nicht einlassen würde und er dankt seinem Sinn dafür, ihr hinterher gegangen zu sein. Er sucht nach ihren wunderschönen Augen, sucht nach dem traurigen Ausdruck darin, aber er kann nichts finden, ihre Augen sind geschlossen. Ein zweites Mal an diesem Abend hört er auf seinen Instinkt und geht langsam auf sie zu, kündigt an, was er vorhat, fährt vorsichtig mit seinen Fingern über ihre zitternden Arme und zieht sie schlieÃlich langsam in seine Arme. Langsam streicht er über den weinenden Körper, die Katzenaugen vor sich und fragt sich, welches dunkles Geheimnis sich dahinter wohl verbirgt.[/font]
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And I start to feel for him again. Stupid me.
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And I start to feel for him again. Stupid me.
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