12.10.2007, 23:03
Hallo ihr Lieben :knuddel:
Auch wenn noch kein Feedback kam, möchte ich das neue Kapitel schon posten, da ich in nächster Zeit sowohl für das Forum, als auch fürs Scheiben, weniger Zeit haben werde, und es deshalb länger bis zu einem neuen Kapitel dauern könnte.
Freu mich schon auf eure Feedbacks, aber stresst euch nicht, ich weià ja, dass ihr momentan genauso unter Stress steht wie ich.
Schönen Abend noch und gute Nacht!
Bussi Selene
46. Teil
Rosa
Die lachsfarbenen Wände des Raumes wurden von eingerahmten Fotografien und Kreidezeichnungen geschmückt. Rosa hatte sie in der vergangenen Stunde sechs Mal gezählt. Die fünfzehn Fotografien zeigten Frauen verschiedenen Alters mit ihren Kindern oder einzelne Aufnahmen von Babys. Dazwischen und daneben zeigten Naturzeichnungen die Schönheit fiktiver Welten. Auf der Wand gegenüber von Rosa, links neben der Tür zum Empfangsraum und Ausgang, hingen diverse Informationsplakate. Im Warteraum standen drei Tische mit mehreren Stapeln mehr oder weniger aktueller Zeitschriften und Magazine, welche hauptsächlich medizinische Themen beinhalteten. An den Wänden und um die Tische standen zwanzig Stühle, von welchen nun nur mehr fünf besetzt waren. Neben Rosa saà eine Frau etwa Mitte vierzig, welche in einer Zeitung blätterte. Ihre Augen wanderten eilig über die Zeilen, ihre Finger zitterten unruhig, als sie die Seite wendete. Das Medium schien für die Frau lediglich als Täuschung zu dienen. Als Täuschung vor den anderen Patientinnen, aber auch vor ihr selbst. Sie schien ihre Nervosität mit solcher Verzweiflung verbergen zu wollen, dass sie nur noch offensichtlicher wurde. Die Frau versagte in ihrer erwählten Rolle. Rosa lieà den Blick zu einer etwa Fünfzehnjährigen schweifen, welche scheinbar gelangweilt einen Punkt auf dem Boden fixierte. Welche Rolle mochte sie wohl zu spielen? Wer waren diese Frauen in dem Wartezimmer jener gynäkologischen Praxis? Welche Geschichten hatten sie wohl erlebt? Was ging tatsächlich in ihrem Inneren vor? Rosa liebte es seit ihrer Kindheit Menschen zu beobachten und sich aus verschiedenen Details ihre Geschichten zusammenzuweben. Eine vollkommen unnötige und unhöfliche Angewohnheit., hatte ausgerechnet ihre Mutter getadelt, welche glaubte, die Bewohner Spanish Harlems besser zu kennen, als jeder andere. Rosas Lust an dem Gedankenspiel hatte jedoch mit den Jahren nachgelassen, weshalb sie es kaum mehr spielte. An jenem Tag diente es lediglich ihrer eigenen Ablenkung von dem Schicksal, welches sich noch in der nächsten Stunde entscheiden sollte. Auch Rosa spielte nur eine Rolle.
Sie sah irritiert hoch, als die Tür zum Behandlungsraum geöffnet wurde. Eine ältere Frau trat mit einem zumindest scheinbar gleichgültigen Gesichtsausdruck heraus. Wenige Minuten später ertönte eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher, welche Rosa aufforderte einzutreten. Die junge Frau erhob sich eilig, wurde jedoch mit einem Mal von einem Schwindel erfasst, welcher sie dazu zwang, nochmals auf den Stuhl zu sinken. Sie blickte sich unsicher um, doch niemand schien etwas registriert zu haben. Zögernd erhob sie sich schlieÃlich und näherte sich der Tür auf der rechten Seite. Rosa glaubte ihren Herzschlag zu hören, als sie die Türklinge hinunter drückte und den hellen Raum betrat.
Dr. White sah nur kurz hoch und widmete sich wieder einem Formular, welches er gerade ausfüllte. Rosa schloss langsam die Tür.
„Setzen Sie sich.“ Der Arzt legte den Kugelschreiber zur Seite und wies auf den Stuhl ihm gegenüber.
Rosa folgte seinen Worten. „Guten Tag...“ Sie reichte ihm die Hand.
„Wie geht es Ihnen, Mrs. Marquez?“
Ihre Lippen wurden trocken, sie räusperte sich leise. „Den Umständen entsprechend. Ich muss gestehen, dass ich sehr nervös bin.“
Dr. White nickte und musterte sie konzentriert. „Wollen Sie ein Glas Wasser?“
Rosa schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich...ich möchte es nur endlich wissen...“
Der Arzt schlug einen schwarzen Ordner auf und zog zwei Blätter aus einer Glassichtfolie. „Hat Sie jemand begleitet oder sind Sie alleine gekommen?“, fragte er nachdenklich.
Rosa runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage? Waren die Ergebnisse so schlecht, dass er annahm, sie würde es vorziehen, ihrem Leben mit einem Sprung aus dem Fenster seiner Praxis ein Ende zu setzen? „Ich bin alleine gekommen. Mein Mann arbeitet heute lange.“
„Verstehe.“ Dr. White nickte langsam.
„Dr. White, ich möchte nicht unhöflich sein, aber...“ Rosa vollendete den Satz nicht. Es war auch gar nicht notwendig. Der Arzt nickte erneut, diesmal entschlossener. Seine Augen bekamen einen sanften Ausdruck, er senkte seine Stimme. „Mrs. Marquez, ihre Eierstöcke sind unterentwickelt.“ Er räusperte sich und begann Rosa ihre physische Situation genauer zu erklären. Doch sie konnte dem Schwall an Fremdworten bald nicht mehr folgen. Eine rasende Unruhe machte sich in ihrem Herzen breit. Sie spürte eine aufkeimende Ãbelkeit.
„Was bedeutet das?“ Sie wusste nicht, ob sie ihn gerade unterbrochen hatte. „Werde ich niemals Kinder bekommen können?“ Rosa kannte die Antwort, als sie in seine Augen sah. Augen voller Mitgefühl, und Mitleid.
„Mrs. Marquez...“
Rosa versuchte die heraufkeimenden Tränen zurückzuhalten. Sie begann zu zittern.
„Um ehrlich zu sein, ist die Wahrscheinlichkeit vom jetzigen medizinischen Standpunkt aus äuÃerst gering, dass Sie jemals Kinder gebären werden...“ Dr. White biss sich auf seine Unterlippe. Als er die Tränen auf Rosas Wangen bemerkte, ergriff er ihre Hand. Doch Rosa bemerkte die tröstende Geste, die sanften Worte, mit welchen er sie zu beruhigen versuchte, nicht. Ihre Seele schien die körperliche Hülle verlassen zu haben. Sie fand sich wieder in einer fernen Vergangenheit. Rosa als Fünfjährige, wie sie auf die Nachbarskinder aufpasste. Als Siebenjährige mit ihrer Lieblingspuppe. Vor bunten Zeichnungen sitzend, alle zeigten sie mit ihren zukünftigen Kindern. Rosa hatte schon von eigenem Nachwuchs geträumt, bevor sie sich noch für Jungs interessiert hatte. Plötzlich befand sie sich in einer ungewissen, dunkelgrauen Zukunft, in welcher sie Ana würde erklären müssen, dass etwas mit ihrer Tochter nicht stimmte. Dass ihr Körper fehlerhaft war. Jorge würde sich von ihr abwenden und nach einer Frau suchen, welche ihm ein Kind schenken könnte. Eine ferne Stimme drang plötzlich zu Rosa durch. Sie wehrte sich zuerst widerwillig, kehrte aber schlieÃlich zurück in den matten, fehlerhaften Körper in der groÃen Arztpraxis in Brooklyn.
„Mrs. Marquez, ich verstehe, dass das ein groÃer Schock für Sie ist, doch Sie dürfen nicht vergessen...“
Rosa erhob sich langsam. „Entschuldigen Sie, ich...ich muss raus hier...“ Sie glaubte in dem Raum, der nun nichts Freundliches mehr zu haben schien, zu ersticken.
Dr. White nickte verständnisvoll. „Mrs. Marquez, ich empfehle Ihnen...“
Doch Rosa hatte das Zimmer bereits verlassen und verlieà eilig die Arztpraxis. Der Stiegenabgang begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie stützte sich mit einer Hand am Geländer ab und wischte mit der anderen hektisch über ihre Wangen. Rosa stolperte zweimal beinahe, als sie die knarrende Treppe hinunterlief. Sie riss die schwere Tür auf und rang nach Luft. Doch das Bild, welches sich ihr vor dem Gebäude bot, schien ihre blutenden Wunden nur noch mit Salz zu füllen. Die Verschwörer hatten sich versammelt, um sie zu sehen, um mit ihren Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen auf ihren fehlerhaften Körper zu weisen.
„Ist sie denn immer noch nicht schwanger?“, fragte Consuela Moldavo, gierig darauf an neue Informationen zu kommen, welche sie, wie ein Raubtier ihr Opfer, gnadenlos verschlingen würde.
Ana senkte die Stimme,, um die schlafende Tochter im Nebenraum nicht zu wecken. „Wenn die Zeit reif ist, wird sie ein Kind gebären.“
Consuelas Stimme wurde nun ebenfalls leiser. „Hat sie sich schon einmal untersuchen lassen? Vielleicht stimmt ja irgendetwas nicht...“
Anas Stimme bekam einen wütenden Unterton. „Was redest du da schon wieder? Mit dem Körper meiner Tochter ist alles in bester Ordnung! Sieh sie dir doch an! Die Jugend und Schönheit in Person, vor Gesundheit nur so strotzend.“
Doch Rosa schlief nicht. Sie hatte jedes Wort verstanden.
Die junge Frau ging durch den verschneiten Park. Sie fröstelte, wusste aber, dass die Ursache dafür nicht das Wetter war. Neben ihr gingen zwei Frauen etwa in ihrem Alter. Eine schluchzte herzzerreiÃend. Rosa erkannte sie als eine der Patientinnen, welche kurz vor ihr dran gewesen waren. „Was soll ich nur machen? Verdammt! Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Wir haben doch an alles gedacht. Mike wird ausflippen. Was ist mit meinem Studium, dem Job? Ich möchte das alles nicht aufgeben! Verdammt, ich bin erst einundzwanzig und möchte auch noch etwas leben, bevor ich ein schreiendes Balg am Hals habe!“
Rosa warf ihr einen ungläubigen Seitenblick zu. Erneut musste sie lernen, wie ungerecht diese Welt doch zu sein schien. Sie verspürte einen Moment die Lust einen harten Schneeball nach der undankbaren Frau zu werfen. SchlieÃlich besann sie sich aber wieder. Diese Frau konnte immerhin nichts für Rosas Schmerz. Rosa verlieà den kleinen Park eilig und dachte über die Untersuchungsergebnisse nach. Hatte es möglicherweise einen Irrtum gegeben? So etwas kam schlieÃlich vor. Dr. White mochte zwar der beste Gynäkologe Brooklyns sein, aber auch er war nicht fehlerfrei. Vielleicht sollte sie eine zweite und auch dritte Meinung einholen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer erleichterte den erstickenden Schmerz ihres Herzens. Es war noch nicht alles verloren. Gewiss würde sie eines Tages mit ihrem Baby im Arm Kopf schüttelnd an diesen schwarzen Tag denken. Weder Jorge noch Ana wussten, dass die Ergebnisse bereits da waren. Dabei würde es Rosa auch belassen, bevor sie nicht eindeutige Gewissheit hatte. Aufgrund des Planes schon etwas optimistischer gestimmt, verwischte sie ihre letzten Tränen und betrat das nächste Cafe an der StraÃenecke. Das war es, was sie nun dringend brauchte. Schwarzen Kaffee und ein Stück Torte, welche ihrem Körper zeigten, wie lebendig und stark er in Wirklichkeit war. Sie setzte sich an einen gemütlichen kleinen Tisch gegenüber der Eingangstür. Während sie das heiÃe Getränk an ihre Lippen setzte, blätterte sie in einer Zeitung. Als sie auf einen Artikel über Fehldiagnosen in Krankenhäusern stieÃ, fühlte sie sich in ihrem Selbstbetrug bestätigt. Denn auch wenn Rosa es sich oberflächlich erfolgreich eingeredet zu haben schien, kannte ihr Herz die Wahrheit.
Sie versank in einen anderen Artikel, als plötzlich die Tür geöffnet wurde und ein Mädchen das Cafe betrat. Rosa betrachtete es aufmerksam. Es trug sein längeres, blondes Haar zu einem Zopf gebunden. Seine blauen Augen blitzen unsicher, als es sich zögernd umsah.
In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, schenkte Rosa ihm ein Lächeln. Das Mädchen erwiderte es dankbar und näherte sich ihrem Tisch. „Entschuldige, mir ist etwas richtig Dummes passiert...“ Ihre Stimme war hell und melodisch, der Akzent verlieh ihr nur noch einen verlockenderen Charme. „...ich...ich habe mich verlaufen und auch noch meinen Stadtplan in irgendeinem Geschäft verloren...oder auch schon in der U-Bahn...“ Das Mädchen runzelte unsicher die Stirn.
„Wohin willst du denn?“, fragte Rosa.
Das Mädchen nannte ihm den Namen eines Restaurants sowie die StraÃe, in welchem sich dieses befand.
Rosa nickte und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Das ist ganz in der Nähe. Du gehst einfach die StraÃe hinunter, biegst dann die dritte nach links und dann die erste nach rechts.“, erklärte sie. „Ein sehr gutes Restaurant übrigens.“
Das Mädchen lächelte erleichtert. „Vielen Dank. Du bist ein Engel...“ Als Rosa eine abwehrende Geste mit der Hand machte, fuhr es fort. „Doch, ich meine das vollkommen erst. Nicht auszudenken, was möglicherweise passiert wäre, hätte ich mich noch weiter verlaufen...“ Es runzelte die Stirn. „New York ist toll und aufregend, aber eindeutig viel zu groà für mich.“
Rosa lächelte. „Das wird schon, je länger du da bist, desto besser wirst du dich auch auskennen. Oder verbringst du hier nur deine Weihnachtsferien?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein...meine Flitterwochen...“ Es lächelte etwas verlegen, als Rosas Augen einen irritierten Ausdruck bekamen. „Ich muss los, er wartet bestimmt schon auf mich. Danke nochmals.“
Rosa nickte. „Ich freue mich, dass ich dir helfen konnte. Eine gute Tat versüÃt so schwarze Tage wie diesen.“ Dies war keine Floskel, Rosa meinte es von Herzen. Denn das Lächeln des Mädchens, das strahlende Leben in seinen Augen, hatte ihr etwas gegeben, etwas mitgeteilt. Es schien, als wäre die Fremde mit ihrer sanften Stimme zu ihrem Herzen durchgedrungen.
Das Mädchen runzelte die Stirn. „WeiÃt du, meine GroÃmutter sagte immer, es gäbe nur schwarze Tage, wenn wir sie zu diesen machen. Du kannst aus fast allem Positives ziehen, wenn du es nur möchtest. Wenn sich eine Tür schlieÃt, öffnen sich zwei neue. Du musst nur hindurch gehen.“ Es lächelte aufmunternd. „Ich wünsche dir alles Gute.“
Rosa erwiderte das Lächeln. „GenieÃe deine Zeit in New York und alles Gute für die Zukunft!“
Ihre Blicke begegneten sich nochmals, als das Mädchen lächelnd das kleine Cafe verlieÃ. Rosa wollte es sich zuerst nicht eingestehen, aber es war die Fremde gewesen, welche den trügerischen Hoffnungsschimmer in ihrem Herzen zumindest für eine gewisse Zeit zu Realität werden lieÃ. Alles würde sich zum Guten wenden.
Als Rosa sich auf dem Heimweg befand und das Mädchen den ersten Löffel der Suppe im Restaurant zu sich nahm, dachten sie schon nicht mehr aneinander. Ihre Begegnung war nur sehr kurz gewesen, zwar von positivem Nutzen für beide, doch schien sie weiter nicht bedeutend. Man traf täglich schlieÃlich auf Hunderte von Menschen, von welchen man den GroÃteil nicht einmal wirklich wahrnahm und auch nicht wieder sah. Auch Rosa und das Mädchen sollten sich nie wieder begegnen, dennoch würden sie Jahre später durch das Schicksal miteinander verbunden werden.
Auch wenn noch kein Feedback kam, möchte ich das neue Kapitel schon posten, da ich in nächster Zeit sowohl für das Forum, als auch fürs Scheiben, weniger Zeit haben werde, und es deshalb länger bis zu einem neuen Kapitel dauern könnte.
Freu mich schon auf eure Feedbacks, aber stresst euch nicht, ich weià ja, dass ihr momentan genauso unter Stress steht wie ich.
Schönen Abend noch und gute Nacht!
Bussi Selene
46. Teil
Rosa
Die lachsfarbenen Wände des Raumes wurden von eingerahmten Fotografien und Kreidezeichnungen geschmückt. Rosa hatte sie in der vergangenen Stunde sechs Mal gezählt. Die fünfzehn Fotografien zeigten Frauen verschiedenen Alters mit ihren Kindern oder einzelne Aufnahmen von Babys. Dazwischen und daneben zeigten Naturzeichnungen die Schönheit fiktiver Welten. Auf der Wand gegenüber von Rosa, links neben der Tür zum Empfangsraum und Ausgang, hingen diverse Informationsplakate. Im Warteraum standen drei Tische mit mehreren Stapeln mehr oder weniger aktueller Zeitschriften und Magazine, welche hauptsächlich medizinische Themen beinhalteten. An den Wänden und um die Tische standen zwanzig Stühle, von welchen nun nur mehr fünf besetzt waren. Neben Rosa saà eine Frau etwa Mitte vierzig, welche in einer Zeitung blätterte. Ihre Augen wanderten eilig über die Zeilen, ihre Finger zitterten unruhig, als sie die Seite wendete. Das Medium schien für die Frau lediglich als Täuschung zu dienen. Als Täuschung vor den anderen Patientinnen, aber auch vor ihr selbst. Sie schien ihre Nervosität mit solcher Verzweiflung verbergen zu wollen, dass sie nur noch offensichtlicher wurde. Die Frau versagte in ihrer erwählten Rolle. Rosa lieà den Blick zu einer etwa Fünfzehnjährigen schweifen, welche scheinbar gelangweilt einen Punkt auf dem Boden fixierte. Welche Rolle mochte sie wohl zu spielen? Wer waren diese Frauen in dem Wartezimmer jener gynäkologischen Praxis? Welche Geschichten hatten sie wohl erlebt? Was ging tatsächlich in ihrem Inneren vor? Rosa liebte es seit ihrer Kindheit Menschen zu beobachten und sich aus verschiedenen Details ihre Geschichten zusammenzuweben. Eine vollkommen unnötige und unhöfliche Angewohnheit., hatte ausgerechnet ihre Mutter getadelt, welche glaubte, die Bewohner Spanish Harlems besser zu kennen, als jeder andere. Rosas Lust an dem Gedankenspiel hatte jedoch mit den Jahren nachgelassen, weshalb sie es kaum mehr spielte. An jenem Tag diente es lediglich ihrer eigenen Ablenkung von dem Schicksal, welches sich noch in der nächsten Stunde entscheiden sollte. Auch Rosa spielte nur eine Rolle.
Sie sah irritiert hoch, als die Tür zum Behandlungsraum geöffnet wurde. Eine ältere Frau trat mit einem zumindest scheinbar gleichgültigen Gesichtsausdruck heraus. Wenige Minuten später ertönte eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher, welche Rosa aufforderte einzutreten. Die junge Frau erhob sich eilig, wurde jedoch mit einem Mal von einem Schwindel erfasst, welcher sie dazu zwang, nochmals auf den Stuhl zu sinken. Sie blickte sich unsicher um, doch niemand schien etwas registriert zu haben. Zögernd erhob sie sich schlieÃlich und näherte sich der Tür auf der rechten Seite. Rosa glaubte ihren Herzschlag zu hören, als sie die Türklinge hinunter drückte und den hellen Raum betrat.
Dr. White sah nur kurz hoch und widmete sich wieder einem Formular, welches er gerade ausfüllte. Rosa schloss langsam die Tür.
„Setzen Sie sich.“ Der Arzt legte den Kugelschreiber zur Seite und wies auf den Stuhl ihm gegenüber.
Rosa folgte seinen Worten. „Guten Tag...“ Sie reichte ihm die Hand.
„Wie geht es Ihnen, Mrs. Marquez?“
Ihre Lippen wurden trocken, sie räusperte sich leise. „Den Umständen entsprechend. Ich muss gestehen, dass ich sehr nervös bin.“
Dr. White nickte und musterte sie konzentriert. „Wollen Sie ein Glas Wasser?“
Rosa schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich...ich möchte es nur endlich wissen...“
Der Arzt schlug einen schwarzen Ordner auf und zog zwei Blätter aus einer Glassichtfolie. „Hat Sie jemand begleitet oder sind Sie alleine gekommen?“, fragte er nachdenklich.
Rosa runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage? Waren die Ergebnisse so schlecht, dass er annahm, sie würde es vorziehen, ihrem Leben mit einem Sprung aus dem Fenster seiner Praxis ein Ende zu setzen? „Ich bin alleine gekommen. Mein Mann arbeitet heute lange.“
„Verstehe.“ Dr. White nickte langsam.
„Dr. White, ich möchte nicht unhöflich sein, aber...“ Rosa vollendete den Satz nicht. Es war auch gar nicht notwendig. Der Arzt nickte erneut, diesmal entschlossener. Seine Augen bekamen einen sanften Ausdruck, er senkte seine Stimme. „Mrs. Marquez, ihre Eierstöcke sind unterentwickelt.“ Er räusperte sich und begann Rosa ihre physische Situation genauer zu erklären. Doch sie konnte dem Schwall an Fremdworten bald nicht mehr folgen. Eine rasende Unruhe machte sich in ihrem Herzen breit. Sie spürte eine aufkeimende Ãbelkeit.
„Was bedeutet das?“ Sie wusste nicht, ob sie ihn gerade unterbrochen hatte. „Werde ich niemals Kinder bekommen können?“ Rosa kannte die Antwort, als sie in seine Augen sah. Augen voller Mitgefühl, und Mitleid.
„Mrs. Marquez...“
Rosa versuchte die heraufkeimenden Tränen zurückzuhalten. Sie begann zu zittern.
„Um ehrlich zu sein, ist die Wahrscheinlichkeit vom jetzigen medizinischen Standpunkt aus äuÃerst gering, dass Sie jemals Kinder gebären werden...“ Dr. White biss sich auf seine Unterlippe. Als er die Tränen auf Rosas Wangen bemerkte, ergriff er ihre Hand. Doch Rosa bemerkte die tröstende Geste, die sanften Worte, mit welchen er sie zu beruhigen versuchte, nicht. Ihre Seele schien die körperliche Hülle verlassen zu haben. Sie fand sich wieder in einer fernen Vergangenheit. Rosa als Fünfjährige, wie sie auf die Nachbarskinder aufpasste. Als Siebenjährige mit ihrer Lieblingspuppe. Vor bunten Zeichnungen sitzend, alle zeigten sie mit ihren zukünftigen Kindern. Rosa hatte schon von eigenem Nachwuchs geträumt, bevor sie sich noch für Jungs interessiert hatte. Plötzlich befand sie sich in einer ungewissen, dunkelgrauen Zukunft, in welcher sie Ana würde erklären müssen, dass etwas mit ihrer Tochter nicht stimmte. Dass ihr Körper fehlerhaft war. Jorge würde sich von ihr abwenden und nach einer Frau suchen, welche ihm ein Kind schenken könnte. Eine ferne Stimme drang plötzlich zu Rosa durch. Sie wehrte sich zuerst widerwillig, kehrte aber schlieÃlich zurück in den matten, fehlerhaften Körper in der groÃen Arztpraxis in Brooklyn.
„Mrs. Marquez, ich verstehe, dass das ein groÃer Schock für Sie ist, doch Sie dürfen nicht vergessen...“
Rosa erhob sich langsam. „Entschuldigen Sie, ich...ich muss raus hier...“ Sie glaubte in dem Raum, der nun nichts Freundliches mehr zu haben schien, zu ersticken.
Dr. White nickte verständnisvoll. „Mrs. Marquez, ich empfehle Ihnen...“
Doch Rosa hatte das Zimmer bereits verlassen und verlieà eilig die Arztpraxis. Der Stiegenabgang begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie stützte sich mit einer Hand am Geländer ab und wischte mit der anderen hektisch über ihre Wangen. Rosa stolperte zweimal beinahe, als sie die knarrende Treppe hinunterlief. Sie riss die schwere Tür auf und rang nach Luft. Doch das Bild, welches sich ihr vor dem Gebäude bot, schien ihre blutenden Wunden nur noch mit Salz zu füllen. Die Verschwörer hatten sich versammelt, um sie zu sehen, um mit ihren Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen auf ihren fehlerhaften Körper zu weisen.
„Ist sie denn immer noch nicht schwanger?“, fragte Consuela Moldavo, gierig darauf an neue Informationen zu kommen, welche sie, wie ein Raubtier ihr Opfer, gnadenlos verschlingen würde.
Ana senkte die Stimme,, um die schlafende Tochter im Nebenraum nicht zu wecken. „Wenn die Zeit reif ist, wird sie ein Kind gebären.“
Consuelas Stimme wurde nun ebenfalls leiser. „Hat sie sich schon einmal untersuchen lassen? Vielleicht stimmt ja irgendetwas nicht...“
Anas Stimme bekam einen wütenden Unterton. „Was redest du da schon wieder? Mit dem Körper meiner Tochter ist alles in bester Ordnung! Sieh sie dir doch an! Die Jugend und Schönheit in Person, vor Gesundheit nur so strotzend.“
Doch Rosa schlief nicht. Sie hatte jedes Wort verstanden.
Die junge Frau ging durch den verschneiten Park. Sie fröstelte, wusste aber, dass die Ursache dafür nicht das Wetter war. Neben ihr gingen zwei Frauen etwa in ihrem Alter. Eine schluchzte herzzerreiÃend. Rosa erkannte sie als eine der Patientinnen, welche kurz vor ihr dran gewesen waren. „Was soll ich nur machen? Verdammt! Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Wir haben doch an alles gedacht. Mike wird ausflippen. Was ist mit meinem Studium, dem Job? Ich möchte das alles nicht aufgeben! Verdammt, ich bin erst einundzwanzig und möchte auch noch etwas leben, bevor ich ein schreiendes Balg am Hals habe!“
Rosa warf ihr einen ungläubigen Seitenblick zu. Erneut musste sie lernen, wie ungerecht diese Welt doch zu sein schien. Sie verspürte einen Moment die Lust einen harten Schneeball nach der undankbaren Frau zu werfen. SchlieÃlich besann sie sich aber wieder. Diese Frau konnte immerhin nichts für Rosas Schmerz. Rosa verlieà den kleinen Park eilig und dachte über die Untersuchungsergebnisse nach. Hatte es möglicherweise einen Irrtum gegeben? So etwas kam schlieÃlich vor. Dr. White mochte zwar der beste Gynäkologe Brooklyns sein, aber auch er war nicht fehlerfrei. Vielleicht sollte sie eine zweite und auch dritte Meinung einholen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer erleichterte den erstickenden Schmerz ihres Herzens. Es war noch nicht alles verloren. Gewiss würde sie eines Tages mit ihrem Baby im Arm Kopf schüttelnd an diesen schwarzen Tag denken. Weder Jorge noch Ana wussten, dass die Ergebnisse bereits da waren. Dabei würde es Rosa auch belassen, bevor sie nicht eindeutige Gewissheit hatte. Aufgrund des Planes schon etwas optimistischer gestimmt, verwischte sie ihre letzten Tränen und betrat das nächste Cafe an der StraÃenecke. Das war es, was sie nun dringend brauchte. Schwarzen Kaffee und ein Stück Torte, welche ihrem Körper zeigten, wie lebendig und stark er in Wirklichkeit war. Sie setzte sich an einen gemütlichen kleinen Tisch gegenüber der Eingangstür. Während sie das heiÃe Getränk an ihre Lippen setzte, blätterte sie in einer Zeitung. Als sie auf einen Artikel über Fehldiagnosen in Krankenhäusern stieÃ, fühlte sie sich in ihrem Selbstbetrug bestätigt. Denn auch wenn Rosa es sich oberflächlich erfolgreich eingeredet zu haben schien, kannte ihr Herz die Wahrheit.
Sie versank in einen anderen Artikel, als plötzlich die Tür geöffnet wurde und ein Mädchen das Cafe betrat. Rosa betrachtete es aufmerksam. Es trug sein längeres, blondes Haar zu einem Zopf gebunden. Seine blauen Augen blitzen unsicher, als es sich zögernd umsah.
In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, schenkte Rosa ihm ein Lächeln. Das Mädchen erwiderte es dankbar und näherte sich ihrem Tisch. „Entschuldige, mir ist etwas richtig Dummes passiert...“ Ihre Stimme war hell und melodisch, der Akzent verlieh ihr nur noch einen verlockenderen Charme. „...ich...ich habe mich verlaufen und auch noch meinen Stadtplan in irgendeinem Geschäft verloren...oder auch schon in der U-Bahn...“ Das Mädchen runzelte unsicher die Stirn.
„Wohin willst du denn?“, fragte Rosa.
Das Mädchen nannte ihm den Namen eines Restaurants sowie die StraÃe, in welchem sich dieses befand.
Rosa nickte und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Das ist ganz in der Nähe. Du gehst einfach die StraÃe hinunter, biegst dann die dritte nach links und dann die erste nach rechts.“, erklärte sie. „Ein sehr gutes Restaurant übrigens.“
Das Mädchen lächelte erleichtert. „Vielen Dank. Du bist ein Engel...“ Als Rosa eine abwehrende Geste mit der Hand machte, fuhr es fort. „Doch, ich meine das vollkommen erst. Nicht auszudenken, was möglicherweise passiert wäre, hätte ich mich noch weiter verlaufen...“ Es runzelte die Stirn. „New York ist toll und aufregend, aber eindeutig viel zu groà für mich.“
Rosa lächelte. „Das wird schon, je länger du da bist, desto besser wirst du dich auch auskennen. Oder verbringst du hier nur deine Weihnachtsferien?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein...meine Flitterwochen...“ Es lächelte etwas verlegen, als Rosas Augen einen irritierten Ausdruck bekamen. „Ich muss los, er wartet bestimmt schon auf mich. Danke nochmals.“
Rosa nickte. „Ich freue mich, dass ich dir helfen konnte. Eine gute Tat versüÃt so schwarze Tage wie diesen.“ Dies war keine Floskel, Rosa meinte es von Herzen. Denn das Lächeln des Mädchens, das strahlende Leben in seinen Augen, hatte ihr etwas gegeben, etwas mitgeteilt. Es schien, als wäre die Fremde mit ihrer sanften Stimme zu ihrem Herzen durchgedrungen.
Das Mädchen runzelte die Stirn. „WeiÃt du, meine GroÃmutter sagte immer, es gäbe nur schwarze Tage, wenn wir sie zu diesen machen. Du kannst aus fast allem Positives ziehen, wenn du es nur möchtest. Wenn sich eine Tür schlieÃt, öffnen sich zwei neue. Du musst nur hindurch gehen.“ Es lächelte aufmunternd. „Ich wünsche dir alles Gute.“
Rosa erwiderte das Lächeln. „GenieÃe deine Zeit in New York und alles Gute für die Zukunft!“
Ihre Blicke begegneten sich nochmals, als das Mädchen lächelnd das kleine Cafe verlieÃ. Rosa wollte es sich zuerst nicht eingestehen, aber es war die Fremde gewesen, welche den trügerischen Hoffnungsschimmer in ihrem Herzen zumindest für eine gewisse Zeit zu Realität werden lieÃ. Alles würde sich zum Guten wenden.
Als Rosa sich auf dem Heimweg befand und das Mädchen den ersten Löffel der Suppe im Restaurant zu sich nahm, dachten sie schon nicht mehr aneinander. Ihre Begegnung war nur sehr kurz gewesen, zwar von positivem Nutzen für beide, doch schien sie weiter nicht bedeutend. Man traf täglich schlieÃlich auf Hunderte von Menschen, von welchen man den GroÃteil nicht einmal wirklich wahrnahm und auch nicht wieder sah. Auch Rosa und das Mädchen sollten sich nie wieder begegnen, dennoch würden sie Jahre später durch das Schicksal miteinander verbunden werden.