21.08.2006, 10:23
Hallo ihr Lieben :knuddel:
@Noir-Girl:
Aber die nächsten beiden sind zur Abwechslung mal sehr kurz.
@alle: Obwohl ich nicht gerade das Gefühl habe, dass an dieser Geschichte groÃes Interesse besteht, stelle ich zwei neue Teile rein. Bin aber ehrlich gesagt unschlüssig, ob ich die zukünftigen Kapiteln überhaupt noch in diesem Forum posten werde. Würd mich sehr freuen, eine Rückmeldung und Feedback von den noch interessierten Lesern zu bekommen. Freue mich, wie gesagt, genauso über konstruktive Kritik wie über Lob.
Bussi Selene
11. Teil
Boston
Oksana schenkte sich etwas Rotwein nach und sank auf den weichen Lehnstuhl im Wohnzimmer. Sie griff nach der Fernbedienung für die Musikanlage, welche auf dem kleinen Marmortisch lag. Die sanften Klänge klassischer Musik brachten ihren Körper zu entspannen. Sie schloss die Augen. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Die Arbeit im Krankenhaus machte ihr immer mehr zu schaffen, obwohl sie diese gleichzeitig liebte. Oksana war nun achtunddreiÃig Jahre alt und hatte ihren Traum, eine eigene Praxis zu eröffnen, längst aufgegeben. Sie hatte bereits in jungen Jahren als Art Assistentin in einem Krankenhaus gearbeitet, tat es nun als Ãrztin immer noch. Dabei war eines ihrer Hauptmotive ihr Heimatland zu verlassen und in die Staaten zu gehen, die Hoffnung auf bessere Chancen eine eigene Praxis zu eröffnen, gewesen. Die Patienten vertrauten ihr und liebten sie, das gab ihr täglich neuen Antrieb. Dennoch blieb diese kleine Schwermut, welche nicht einmal Alex mit seinen aufmunternden Worten zu lindern vermochte. Ihr geliebter Ehemann, welcher ihr ohne zu zögern in das groÃe Land gefolgt war, versicherte ihr beinahe täglich wie jung und talentiert sie wäre, und dass sie ihre Chance schon noch bekommen würde. Oksanas Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Sie hatte Alex vor über achtzehn Jahren in dem Krankenhaus, in welchem ihre Mutter damals gearbeitet hatte, kennen gelernt. Er hatte neue Computer für die Datenbank installiert. Sie war dazu aufgefordert worden ihn mit Wasser und Gebäck zu versorgen sowie sich einige technische Fakten erklären zu lassen. Nun waren sie seit fünfzehn Jahren verheiratet und lebten in einem schönen Bostoner Vorort.
Oksana warf einen Blick auf die groÃe Standuhr. Es war bereits nach neun Uhr. Alex hatte vor zwei Stunde angerufen, dass die Besprechung noch etwas länger dauern würde. Seine Stimme hatte einen müden und genervten Unterton gehabt. Oksana hatte ihn ein wenig besänftigt und ihn an den nahe bevorstehenden Urlaub erinnert. Nach dem Telefonat hatte sie das Essen wieder ins Rohr gestellt und die Kerzen ausgeblasen. Kurz darauf hatte das Telefon erneut geklingelt. Es war Marina, eine alte Freundin und Kollegin aus der Heimat gewesen. Sie rief einmal wöchentlich an um über alte Zeiten zu sprechen und Oksana zu fragen, wann sie denn nun endlich zu Besuch kommen würde. Diesmal hatte ihr Anruf jedoch einen anderen Grund gehabt. Oksana hatte geglaubt den Boden unter den FüÃen zu verlieren, als sie diesen erfahren hatte.
Das energische Zuschlagen der Haustür riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaltete die Musik aus und erhob sich eilig.
„Oksana, Liebes. Es tut mir leid…“ Alex wirkte gestresst und müde.
Oksana stellte das Glas Rotwein ab und umarmte ihn. Augenblicklich schien ein groÃer Teil seiner Last abzufallen. Er zog sie lächelnd an sich und küsste sie. „Ich hätte schon längst aufgegeben, gäbe es dich nicht.“ Flüsterte er dankbar.
Sie löste sich sanft aus seinen Armen und blickte ihn streng an. „Sag so etwas nicht.“
Alex fuhr ihr durchs Haar. „Wenn es doch stimmt. Mir wird jeden Tag erneut bewusst, was für ein Glück ich doch mit meiner wundervollen und schönen Frau habe.“
Oksana lachte. „Hör auf. Sonst werde ich noch rot wie ein kleines Schulmädchen. Möchtest du Wein?“ Sie kannte die Antwort schon längst und holte ein zweites Glas aus der Vitrine.
Alex beobachtete lächelnd, wie sie ihm Wein einschenkte und das Glas reichte. Die harten Jahre hatten Oksana nichts von ihrer Anmut genommen. Trotz der langen gemeinsamen Zeit konnte er sich nicht an ihr satt sehen. Das schlechte Gewissen und das Gefühl, dass er sie eigentlich gar nicht verdient hatte, überschatteten die Gefühle des Glücks jedoch immer noch.
Er schüttelte den Kopf als würden damit auch diese Gedanken von ihm abfallen und nippte an seinem Wein.
„Ich werde das Essen aufwärmen.“ Oksana wollte schon in die Küche gehen, als er sie sanft festhielt.
„Das werde ich dann machen. Setzen wir uns ein paar Minuten.“
Sie lächelte und folgte ihm auf die groÃe Ledercouch.
Alex musterte sie prüfend. Oksana versuchte stets fröhlich zu sein, wenn er einen anstrengenden Tag gehabt hatte. Er spürte jedoch, dass etwas passiert sein musste.
„Wie war denn dein Tag, Liebste?“
Sie versuchte immer noch zu lächeln. „Es gab viel Arbeit.“
Alex nickte und nahm ihr das Glas aus der Hand. Er stellte beide Weingläser auf den Tisch. „Ich bin so egoistisch. Zuerst muss ich unseren Urlaub schon wieder um eine Woche verschieben, dann lasse ich dich erneut mit dem Essen warten und jetzt bin ich noch nicht einmal fähig zu erkennen, dass auch du einen schlimmen Tag hattest.“ Seine Hände wanderten zu ihrem Nacken und begannen diesen sanft zu massieren.
Sie schloss lächelnd die Augen. „Du bist der Beste.“ Alle Lasten schienen sich unter seinen Händen für einen Moment in Luft aufzulösen.
„Oksana, war heute noch irgendetwas auÃer der vielen Arbeit?“
Sie seufzte leise. „Marina hat angerufen…“
„Geht es ihr gut?“ Alex interessierte es in Wirklichkeit nicht, wie es der Freundin Oksanas ging. Hätte es in seiner Entscheidungsgewalt gelegen, gäbe es nun nichts mehr, was sie beide mit ihrem früheren Leben verbinden würde.
„Ja…ich denke schon. Oh Alex, ich habe sie nicht einmal gefragt, wie es ihr geht!“
Alex seufzte innerlich. Marina nervte ihn schon seit er sie damals kennen gelernt hatte. Oksana war einfach zu gut für diese Welt. „Lade sie doch mit ihrer Familie über Weihnachten zu uns ein, wenn du möchtest.“ Schlug er schlieÃlich vor.
„Das wäre wunderbar.“ Sie lächelte. „Danke.“
„Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.“
Oksanas Miene änderte sich plötzlich. Sie zog die Stirn kraus und atmete tief durch.
„Was hast du denn, mein Engel? Ist etwas passiert?“ Alex musterte sie prüfend. Wie immer wenn sie sich minutenlang vollkommen vor ihm verschloss, spürte er eine Angst in sich aufsteigen. Er hatte immer gewusst, dass ihm sein Glück nicht für immer vergönnt sein würde.
„Eine junge Frau hat heute Nachmittag in dem Krankenhaus angerufen, in dem ich früher arbeitete und sich nach mir erkundigt.“
„Tatsächlich. Wer denn?“
„Marina hat ihr meine Nummer gegeben. Wahrscheinlich wird sie mich in den nächsten Tagen anrufen…“ Oksana begann zu zittern, worauf Alex sie in die Arme schloss.
„Was will sie von dir?“
Der Druck auf ihrem Herzen begann ihr zunehmend die Luft zu nehmen. „Ihr Name ist Lillian Marquez. Sie wohnt in New York City…“
„Kennst du sie von früher?“
„Sie war noch ein Baby, noch kein halbes Jahr alt. Sie…sie war eines…“ Sie hielt einen Moment inne. „…dieser Babys.“
Alex nickte. „Aber was will sie von dir? Alle Daten befinden sich auf den Computern im Krankenhaus…“
Oksana kniff die Augen zusammen. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Liebes, was hast du denn?“ Er hob ihr Kinn und verwischte die Tränen.
„Ich…ich habe niemals die verzweifelten Augen ihrer Mutter vergessen. Ãber Jahre habe ich mir die Frage gestellt, was ihr wohl zugestoÃen sein musste…und was danach mit ihr passiert ist. Oh Alex…“ Sie presste den Kopf an seine Brust. „Da lag so viel Angst in ihren Augen. Diese Augen haben mich jahrelang in meinen Träumen verfolgt. Vielleicht war das einer der Gründe warum ich so schnell weg wollte von meiner Heimat.“
„Wann war das? Wann ist ihre Mutter zu euch gekommen?“
„1982. Im November 1982.“
„Du hast mir nie davon erzählt.“
„Ach Alex, ich hatte es ihr versprochen. Sie wollte anonym bleiben und verschwand so schnell wie sie gekommen war. Es schien als…als flüchtete sie vor jemanden. Aber sie gab mir einen dicken Umschlag. Für den Fall, dass ihre Tochter eines Tages nach ihr suchen sollte. Das…das Dokument haben wir gefälscht…viele Dokumente wurden damals gefälscht…es wurde jedoch mein Name vermerkt. Damit sie zumindest mich finden konnte. Ich weiÃ, es klingt furchtbar, aber ich hatte inständig gebeten, dass sie mich niemals suchen möge. Was…was soll ich ihr denn sagen?“ Oksana schluchzte. „Ich weià doch nichts.“
„Hast du diesen Umschlag noch?“ Fragte er ruhig.
Sie atmete tief durch. „Ja. Ich hätte es mir nie verziehen, hätte ich ihn verloren.“
„Okay. Dann triffst du dich mit ihr und gibst ihn ihr. Mehr kannst du nicht für sie tun.“ Alex strich ihr sanft über die Wange.
„Ich hätte aber vielleicht mehr für ihre Mutter - und somit auch für sie - tun können. Wir…wir haben sie einfach gehen gelassen. Ich hätte sie daran hindern müssen…“
„Was hättest du denn machen wollen? Sie zwanghaft im Krankenhaus festhalten? Sie hatte gewiss Gründe für ihr Verhalten. Ihr habt alles für ihre Tochter getan, was ihr konntet. Du hast dir nichts vorzuwerfen, Oksana. Rein gar nichts.“ Er strich ihr beruhigend über den Rücken.
„Ein Teil meines Herzens weià das. Der andere macht mir jedoch noch immer groÃe Vorwürfe.“
„Oh Oksana…“ Er küsste sie sanft auf die Wange. „Du kannst nicht jeden retten. AuÃerdem weiÃt du doch gar nicht, wie es ihrer Mutter heute geht. Vielleicht hat sie irgendwo ein neues Leben beginnen können. WeiÃt du etwas über den Vater des Mädchens?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“
Alex seufzte leise und küsste sie. „Was haltest du davon, wenn ich unser Essen aufwärme und dir, nachdem wir gegessen haben, ein heiÃes Bad einlasse?“
Oksana lächelte leicht. „Das klingt wundervoll. Danke.“ Sie umarmte ihn.
Er drückte sie nochmals kurz fest an sich, bevor er sich aus ihren Armen löste. „Ich hole dich dann, wenn alles fertig ist. Möchtest du Musik hören?“
„Ja, danke.“
Er erhob sich und schaltete die Musikanlage ein. „Bevor ich es vergesse: Ich soll dich herzlich von James grüÃen. Seine Mutter hat gesagt, sie hätte sich bei noch keiner Ãrztin so gut aufgehoben gefühlt.“
Der Gedanke an die ältere Mrs. Cooper zauberte ein Lächeln auf Oksanas Lippen.
Alex warf seiner Frau noch einen letzten Blick zu, bevor er in die Küche ging. Dort fiel schlieÃlich die Maske von ihm herab. Er sank auf die Küchenbank und seufzte schwer. November 1982. Hallten die Worte Oksanas wider. Handelte es sich hier nur um einen Zufall? Lediglich um einen, zugegebenermaÃen, sehr merkwürdigen Zufall? Alex zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und musterte es unentschlossen. Auch diese Sache würde letztendlich nicht in seiner Entscheidungsgewalt liegen.
12. Teil
1981
Meine liebe Mummy,
vor wenigen Minuten ist die Nacht dem neuen Tag gewichen. Heute ist der erste Jänner. Wir schreiben bereits das Jahr 1981.
WeiÃt du noch, wie wir an Silvester immer die Raketen beobachteten und unsere Wünsche für das neue Jahr auf Zetteln schrieben, die wir dann verbrannten? Einige unserer Anliegen erfüllten sich tatsächlich.
Bei euch ist es nun schon einige Stunden später als hier. Ich habe vorhin die Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie GroÃmama und du Silvester gefeiert habt. Es geht ihr doch schon besser? Ich hoffe es so sehr!
Ach, Mummy, ich wünschte, ich wäre bei euch. Hier gibt es weder Raketen, noch Menschen, die mit mir feiern. Silvester wurde einfach vergessen, genau wie mein achtzehnter Geburtstag im Dezember.
Meine Glieder schmerzen so sehr. Das Blut pocht in den Adern.
Doch die Schmerzen machen mir nichts mehr aus. Sie zeigen mir nur noch, dass mein Körper lebt.
Meine Seele ist dieser Welt schon längst gewichen.
Neben mir liegt ein Foto von uns drei. Ich war etwa dreizehn. Links von mir stehst du, so wunderschön in deinem blauen Lieblingskostüm. Rechts GroÃmama, edel gekleidet wie die Königinmutter. Wir besuchten an diesem Tag die Oper. Ich war so stolz, fühlte mich richtig erwachsen. Ach Mummy, ich würde alles dafür geben, wäre heute dieser Tag. Ich würde alles dafür geben, könnte ich wieder einschlafen und erwachen mit dem sicheren Gefühl, euch wieder zu sehen.
Von Menschen umgeben zu sein, welche man liebt und die diese Gefühle bedingungslos erwidern, ist keine Selbstverständlichkeit. Doch das begreift man nicht ehe es schon zu spät ist.
WeiÃt du, was ich mir an unserem letzten gemeinsamen Silvester gewünscht hatte? Mummy, ich wünschte mir, dass er mich mitnehmen möge.
Mummy, vergib mir. Bitte vergib mir, wenn du es kannst.
Mummy, geliebte Mummy, vergiss deine Tochter niemals.
Denke an mich, wenn du dir die Sterne ansiehst. Denke an die vielen Male, als wir das noch gemeinsam taten.
In ewiger Liebe, Sarah
Die Tränen verwischten die schwarze Tinte. Sarah erhob sich langsam und öffnete die Balkontür. Das Holz knarrte, während sie die schmale Brust betrat. Ihre Hände zitterten, als sie das Feuerzeug aus der Hosentasche zog. Sie beobachtete wie das Papier langsam verbrannte. Es war nur eines von vielen.
Einer von vielen Briefen, welche sie schon geschrieben hatte. Briefe, die den Adressaten niemals erreichen würden.
Sarah sank schluchzend auf den kalten Holzboden. Es war eine warme Sommernacht, dennoch fröstelte sie. Nach einigen Minuten schaffte sie es schlieÃlich wieder aufzustehen. Sie lehnte sich an die hölzerne Brüstung und richtete ihre schmerzenden Augen auf den klaren Sternenhimmel. War es derselbe, den ihre Mutter und ihre GroÃmutter nun sehen würden? Sarah bezweifelte es. GleichermaÃen glaubte sie nicht, dass die beiden täglich von derselben Sonne geweckt wurden, wie sie selbst.
@Noir-Girl:
Zitat:oi...ist das wieder viel*gg* Ja, so endlos lange Teile sind ein Markenzeichen von mir
Aber die nächsten beiden sind zur Abwechslung mal sehr kurz.
Zitat:ich mal erstmal nen platzhalterOk, freu mich schon auf dein Feedback
@alle: Obwohl ich nicht gerade das Gefühl habe, dass an dieser Geschichte groÃes Interesse besteht, stelle ich zwei neue Teile rein. Bin aber ehrlich gesagt unschlüssig, ob ich die zukünftigen Kapiteln überhaupt noch in diesem Forum posten werde. Würd mich sehr freuen, eine Rückmeldung und Feedback von den noch interessierten Lesern zu bekommen. Freue mich, wie gesagt, genauso über konstruktive Kritik wie über Lob.
Bussi Selene
11. Teil
Boston
Oksana schenkte sich etwas Rotwein nach und sank auf den weichen Lehnstuhl im Wohnzimmer. Sie griff nach der Fernbedienung für die Musikanlage, welche auf dem kleinen Marmortisch lag. Die sanften Klänge klassischer Musik brachten ihren Körper zu entspannen. Sie schloss die Augen. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Die Arbeit im Krankenhaus machte ihr immer mehr zu schaffen, obwohl sie diese gleichzeitig liebte. Oksana war nun achtunddreiÃig Jahre alt und hatte ihren Traum, eine eigene Praxis zu eröffnen, längst aufgegeben. Sie hatte bereits in jungen Jahren als Art Assistentin in einem Krankenhaus gearbeitet, tat es nun als Ãrztin immer noch. Dabei war eines ihrer Hauptmotive ihr Heimatland zu verlassen und in die Staaten zu gehen, die Hoffnung auf bessere Chancen eine eigene Praxis zu eröffnen, gewesen. Die Patienten vertrauten ihr und liebten sie, das gab ihr täglich neuen Antrieb. Dennoch blieb diese kleine Schwermut, welche nicht einmal Alex mit seinen aufmunternden Worten zu lindern vermochte. Ihr geliebter Ehemann, welcher ihr ohne zu zögern in das groÃe Land gefolgt war, versicherte ihr beinahe täglich wie jung und talentiert sie wäre, und dass sie ihre Chance schon noch bekommen würde. Oksanas Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Sie hatte Alex vor über achtzehn Jahren in dem Krankenhaus, in welchem ihre Mutter damals gearbeitet hatte, kennen gelernt. Er hatte neue Computer für die Datenbank installiert. Sie war dazu aufgefordert worden ihn mit Wasser und Gebäck zu versorgen sowie sich einige technische Fakten erklären zu lassen. Nun waren sie seit fünfzehn Jahren verheiratet und lebten in einem schönen Bostoner Vorort.
Oksana warf einen Blick auf die groÃe Standuhr. Es war bereits nach neun Uhr. Alex hatte vor zwei Stunde angerufen, dass die Besprechung noch etwas länger dauern würde. Seine Stimme hatte einen müden und genervten Unterton gehabt. Oksana hatte ihn ein wenig besänftigt und ihn an den nahe bevorstehenden Urlaub erinnert. Nach dem Telefonat hatte sie das Essen wieder ins Rohr gestellt und die Kerzen ausgeblasen. Kurz darauf hatte das Telefon erneut geklingelt. Es war Marina, eine alte Freundin und Kollegin aus der Heimat gewesen. Sie rief einmal wöchentlich an um über alte Zeiten zu sprechen und Oksana zu fragen, wann sie denn nun endlich zu Besuch kommen würde. Diesmal hatte ihr Anruf jedoch einen anderen Grund gehabt. Oksana hatte geglaubt den Boden unter den FüÃen zu verlieren, als sie diesen erfahren hatte.
Das energische Zuschlagen der Haustür riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaltete die Musik aus und erhob sich eilig.
„Oksana, Liebes. Es tut mir leid…“ Alex wirkte gestresst und müde.
Oksana stellte das Glas Rotwein ab und umarmte ihn. Augenblicklich schien ein groÃer Teil seiner Last abzufallen. Er zog sie lächelnd an sich und küsste sie. „Ich hätte schon längst aufgegeben, gäbe es dich nicht.“ Flüsterte er dankbar.
Sie löste sich sanft aus seinen Armen und blickte ihn streng an. „Sag so etwas nicht.“
Alex fuhr ihr durchs Haar. „Wenn es doch stimmt. Mir wird jeden Tag erneut bewusst, was für ein Glück ich doch mit meiner wundervollen und schönen Frau habe.“
Oksana lachte. „Hör auf. Sonst werde ich noch rot wie ein kleines Schulmädchen. Möchtest du Wein?“ Sie kannte die Antwort schon längst und holte ein zweites Glas aus der Vitrine.
Alex beobachtete lächelnd, wie sie ihm Wein einschenkte und das Glas reichte. Die harten Jahre hatten Oksana nichts von ihrer Anmut genommen. Trotz der langen gemeinsamen Zeit konnte er sich nicht an ihr satt sehen. Das schlechte Gewissen und das Gefühl, dass er sie eigentlich gar nicht verdient hatte, überschatteten die Gefühle des Glücks jedoch immer noch.
Er schüttelte den Kopf als würden damit auch diese Gedanken von ihm abfallen und nippte an seinem Wein.
„Ich werde das Essen aufwärmen.“ Oksana wollte schon in die Küche gehen, als er sie sanft festhielt.
„Das werde ich dann machen. Setzen wir uns ein paar Minuten.“
Sie lächelte und folgte ihm auf die groÃe Ledercouch.
Alex musterte sie prüfend. Oksana versuchte stets fröhlich zu sein, wenn er einen anstrengenden Tag gehabt hatte. Er spürte jedoch, dass etwas passiert sein musste.
„Wie war denn dein Tag, Liebste?“
Sie versuchte immer noch zu lächeln. „Es gab viel Arbeit.“
Alex nickte und nahm ihr das Glas aus der Hand. Er stellte beide Weingläser auf den Tisch. „Ich bin so egoistisch. Zuerst muss ich unseren Urlaub schon wieder um eine Woche verschieben, dann lasse ich dich erneut mit dem Essen warten und jetzt bin ich noch nicht einmal fähig zu erkennen, dass auch du einen schlimmen Tag hattest.“ Seine Hände wanderten zu ihrem Nacken und begannen diesen sanft zu massieren.
Sie schloss lächelnd die Augen. „Du bist der Beste.“ Alle Lasten schienen sich unter seinen Händen für einen Moment in Luft aufzulösen.
„Oksana, war heute noch irgendetwas auÃer der vielen Arbeit?“
Sie seufzte leise. „Marina hat angerufen…“
„Geht es ihr gut?“ Alex interessierte es in Wirklichkeit nicht, wie es der Freundin Oksanas ging. Hätte es in seiner Entscheidungsgewalt gelegen, gäbe es nun nichts mehr, was sie beide mit ihrem früheren Leben verbinden würde.
„Ja…ich denke schon. Oh Alex, ich habe sie nicht einmal gefragt, wie es ihr geht!“
Alex seufzte innerlich. Marina nervte ihn schon seit er sie damals kennen gelernt hatte. Oksana war einfach zu gut für diese Welt. „Lade sie doch mit ihrer Familie über Weihnachten zu uns ein, wenn du möchtest.“ Schlug er schlieÃlich vor.
„Das wäre wunderbar.“ Sie lächelte. „Danke.“
„Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.“
Oksanas Miene änderte sich plötzlich. Sie zog die Stirn kraus und atmete tief durch.
„Was hast du denn, mein Engel? Ist etwas passiert?“ Alex musterte sie prüfend. Wie immer wenn sie sich minutenlang vollkommen vor ihm verschloss, spürte er eine Angst in sich aufsteigen. Er hatte immer gewusst, dass ihm sein Glück nicht für immer vergönnt sein würde.
„Eine junge Frau hat heute Nachmittag in dem Krankenhaus angerufen, in dem ich früher arbeitete und sich nach mir erkundigt.“
„Tatsächlich. Wer denn?“
„Marina hat ihr meine Nummer gegeben. Wahrscheinlich wird sie mich in den nächsten Tagen anrufen…“ Oksana begann zu zittern, worauf Alex sie in die Arme schloss.
„Was will sie von dir?“
Der Druck auf ihrem Herzen begann ihr zunehmend die Luft zu nehmen. „Ihr Name ist Lillian Marquez. Sie wohnt in New York City…“
„Kennst du sie von früher?“
„Sie war noch ein Baby, noch kein halbes Jahr alt. Sie…sie war eines…“ Sie hielt einen Moment inne. „…dieser Babys.“
Alex nickte. „Aber was will sie von dir? Alle Daten befinden sich auf den Computern im Krankenhaus…“
Oksana kniff die Augen zusammen. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Liebes, was hast du denn?“ Er hob ihr Kinn und verwischte die Tränen.
„Ich…ich habe niemals die verzweifelten Augen ihrer Mutter vergessen. Ãber Jahre habe ich mir die Frage gestellt, was ihr wohl zugestoÃen sein musste…und was danach mit ihr passiert ist. Oh Alex…“ Sie presste den Kopf an seine Brust. „Da lag so viel Angst in ihren Augen. Diese Augen haben mich jahrelang in meinen Träumen verfolgt. Vielleicht war das einer der Gründe warum ich so schnell weg wollte von meiner Heimat.“
„Wann war das? Wann ist ihre Mutter zu euch gekommen?“
„1982. Im November 1982.“
„Du hast mir nie davon erzählt.“
„Ach Alex, ich hatte es ihr versprochen. Sie wollte anonym bleiben und verschwand so schnell wie sie gekommen war. Es schien als…als flüchtete sie vor jemanden. Aber sie gab mir einen dicken Umschlag. Für den Fall, dass ihre Tochter eines Tages nach ihr suchen sollte. Das…das Dokument haben wir gefälscht…viele Dokumente wurden damals gefälscht…es wurde jedoch mein Name vermerkt. Damit sie zumindest mich finden konnte. Ich weiÃ, es klingt furchtbar, aber ich hatte inständig gebeten, dass sie mich niemals suchen möge. Was…was soll ich ihr denn sagen?“ Oksana schluchzte. „Ich weià doch nichts.“
„Hast du diesen Umschlag noch?“ Fragte er ruhig.
Sie atmete tief durch. „Ja. Ich hätte es mir nie verziehen, hätte ich ihn verloren.“
„Okay. Dann triffst du dich mit ihr und gibst ihn ihr. Mehr kannst du nicht für sie tun.“ Alex strich ihr sanft über die Wange.
„Ich hätte aber vielleicht mehr für ihre Mutter - und somit auch für sie - tun können. Wir…wir haben sie einfach gehen gelassen. Ich hätte sie daran hindern müssen…“
„Was hättest du denn machen wollen? Sie zwanghaft im Krankenhaus festhalten? Sie hatte gewiss Gründe für ihr Verhalten. Ihr habt alles für ihre Tochter getan, was ihr konntet. Du hast dir nichts vorzuwerfen, Oksana. Rein gar nichts.“ Er strich ihr beruhigend über den Rücken.
„Ein Teil meines Herzens weià das. Der andere macht mir jedoch noch immer groÃe Vorwürfe.“
„Oh Oksana…“ Er küsste sie sanft auf die Wange. „Du kannst nicht jeden retten. AuÃerdem weiÃt du doch gar nicht, wie es ihrer Mutter heute geht. Vielleicht hat sie irgendwo ein neues Leben beginnen können. WeiÃt du etwas über den Vater des Mädchens?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“
Alex seufzte leise und küsste sie. „Was haltest du davon, wenn ich unser Essen aufwärme und dir, nachdem wir gegessen haben, ein heiÃes Bad einlasse?“
Oksana lächelte leicht. „Das klingt wundervoll. Danke.“ Sie umarmte ihn.
Er drückte sie nochmals kurz fest an sich, bevor er sich aus ihren Armen löste. „Ich hole dich dann, wenn alles fertig ist. Möchtest du Musik hören?“
„Ja, danke.“
Er erhob sich und schaltete die Musikanlage ein. „Bevor ich es vergesse: Ich soll dich herzlich von James grüÃen. Seine Mutter hat gesagt, sie hätte sich bei noch keiner Ãrztin so gut aufgehoben gefühlt.“
Der Gedanke an die ältere Mrs. Cooper zauberte ein Lächeln auf Oksanas Lippen.
Alex warf seiner Frau noch einen letzten Blick zu, bevor er in die Küche ging. Dort fiel schlieÃlich die Maske von ihm herab. Er sank auf die Küchenbank und seufzte schwer. November 1982. Hallten die Worte Oksanas wider. Handelte es sich hier nur um einen Zufall? Lediglich um einen, zugegebenermaÃen, sehr merkwürdigen Zufall? Alex zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und musterte es unentschlossen. Auch diese Sache würde letztendlich nicht in seiner Entscheidungsgewalt liegen.
12. Teil
1981
Meine liebe Mummy,
vor wenigen Minuten ist die Nacht dem neuen Tag gewichen. Heute ist der erste Jänner. Wir schreiben bereits das Jahr 1981.
WeiÃt du noch, wie wir an Silvester immer die Raketen beobachteten und unsere Wünsche für das neue Jahr auf Zetteln schrieben, die wir dann verbrannten? Einige unserer Anliegen erfüllten sich tatsächlich.
Bei euch ist es nun schon einige Stunden später als hier. Ich habe vorhin die Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie GroÃmama und du Silvester gefeiert habt. Es geht ihr doch schon besser? Ich hoffe es so sehr!
Ach, Mummy, ich wünschte, ich wäre bei euch. Hier gibt es weder Raketen, noch Menschen, die mit mir feiern. Silvester wurde einfach vergessen, genau wie mein achtzehnter Geburtstag im Dezember.
Meine Glieder schmerzen so sehr. Das Blut pocht in den Adern.
Doch die Schmerzen machen mir nichts mehr aus. Sie zeigen mir nur noch, dass mein Körper lebt.
Meine Seele ist dieser Welt schon längst gewichen.
Neben mir liegt ein Foto von uns drei. Ich war etwa dreizehn. Links von mir stehst du, so wunderschön in deinem blauen Lieblingskostüm. Rechts GroÃmama, edel gekleidet wie die Königinmutter. Wir besuchten an diesem Tag die Oper. Ich war so stolz, fühlte mich richtig erwachsen. Ach Mummy, ich würde alles dafür geben, wäre heute dieser Tag. Ich würde alles dafür geben, könnte ich wieder einschlafen und erwachen mit dem sicheren Gefühl, euch wieder zu sehen.
Von Menschen umgeben zu sein, welche man liebt und die diese Gefühle bedingungslos erwidern, ist keine Selbstverständlichkeit. Doch das begreift man nicht ehe es schon zu spät ist.
WeiÃt du, was ich mir an unserem letzten gemeinsamen Silvester gewünscht hatte? Mummy, ich wünschte mir, dass er mich mitnehmen möge.
Mummy, vergib mir. Bitte vergib mir, wenn du es kannst.
Mummy, geliebte Mummy, vergiss deine Tochter niemals.
Denke an mich, wenn du dir die Sterne ansiehst. Denke an die vielen Male, als wir das noch gemeinsam taten.
In ewiger Liebe, Sarah
Die Tränen verwischten die schwarze Tinte. Sarah erhob sich langsam und öffnete die Balkontür. Das Holz knarrte, während sie die schmale Brust betrat. Ihre Hände zitterten, als sie das Feuerzeug aus der Hosentasche zog. Sie beobachtete wie das Papier langsam verbrannte. Es war nur eines von vielen.
Einer von vielen Briefen, welche sie schon geschrieben hatte. Briefe, die den Adressaten niemals erreichen würden.
Sarah sank schluchzend auf den kalten Holzboden. Es war eine warme Sommernacht, dennoch fröstelte sie. Nach einigen Minuten schaffte sie es schlieÃlich wieder aufzustehen. Sie lehnte sich an die hölzerne Brüstung und richtete ihre schmerzenden Augen auf den klaren Sternenhimmel. War es derselbe, den ihre Mutter und ihre GroÃmutter nun sehen würden? Sarah bezweifelte es. GleichermaÃen glaubte sie nicht, dass die beiden täglich von derselben Sonne geweckt wurden, wie sie selbst.