02.09.2006, 16:10
...
âDanke.â Er lächelte leicht. âDu erwähntest einmal, dass deine Eltern geschieden wären. Hast du viel Kontakt zu deinem Vater?â
Sarah seufzte leise und senkte den Blick.
Eduardo berührte ihre Hand sanft. Trotz des innerlichen Schmerzes fühlte sie, wie ein warmes Gefühl erneut ihr Herz umschloss. Sie hob den Kopf zaghaft und versank ein weiteres Mal in seinen Augen.
âSarah?â Er strich sanft über ihren Handrücken. âEs tut mir leid. Ich wollte keine Wunden aufreiÃenâ¦â
Sarah schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Berührungen. Sie hoffte, dass er niemals damit aufhören möge.
Eduardo beobachtete sie Stirn runzelnd. Mit dem Glauben, dass es ihr Vater gewesen war, welcher sie so schweigsam gestimmt hatte, wechselte er das Thema. âMöchtest du noch ein Eis? Ich habe genug Geld bei mir. Tu dir also keinen Zwang an.â
Ihre Augen weiteten sich. âDu willst das alles zahlen? Nein, das geht nicht. Ich werde selbst zahlen.â
âDu wolltest doch eingeladen werden. AuÃerdem lasse ich Frauen niemals bezahlen.â
âIch wollteâ¦?â Sie runzelte verwirrt die Stirn, entsann sich schlieÃlich ihrer genauen Worte. Wenn du möchtest, spiele ich morgen deine Stadtführerin. Dafür lädst du mich danach auf eine Pizza ein und erzählst mir von Kolumbien. âDas Buch!â
âWie bitte?â Eduardo musterte sie irritiert.
âIchâ¦ich wusste nicht, was ich sagen sollteâ¦da ist mir der Satz aus dem Buch eingefallen. Da gibt es so ein Mädchen namens Megan, welche den sympathischen Studenten Mike besser kennen lernen möchte. Sie hat dasselbe gefragt. Nur, dass er ihr vom College erzählen sollteâ¦das war furchtbar kindisch, ich weiÃ. Normalerweise kann ich meine Sätze selbst bilden oder ich schweige einfach. Obwohl mir schweigen nicht so liegt, wie du wahrscheinlich gemerkt hast.â Sarah hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. âEntschuldige. Du musst mich für eine komplette Idiotin halten. Am besten du verwindest ganz schnell, bevor ich noch mehr Unsinn rede.â
âWas, wenn ich aber nicht verschwinden möchte?â
âIch könnte es dir nicht verübeln. Du hast bestimmt schon gemerkt, dass ich wenig Erfahrung mit Gesprächen zwischen Männern und Frauen habe.â
âDafür schlägst du dich aber schon verdammt gut. Wie ist denn diese Geschichte mit Megan und Mike ausgegangen?â
Sarah strich eine Haarsträhne hinters Ohr. âNa ja, sie zeigte ihm die Stadt, anschlieÃend waren sie Pizza essen und er erzählte ihr währenddessen vom College. Sie trafen sich ein paar Mal bevor sie schlieÃlich zusammen kamen. Dumme Geschichte, ich weiÃ, ist nur ein Nebenhandlungsstrang. Aber das Buch ist sehr gut. Es geht ums Erwachsenwerden. Die Hauptperson ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Melissa. In dem Buch werden zehn Jahre ihres Lebens beschrieben. Meine GroÃmutter hat keine sehr hohe Meinung von dem Buch.â
âEs muss auch dir gefallen, nicht ihr.â
âJa. Das stimmt. Liest du auch gerne?â
âJa, aber ich komme leider nur selten dazu.â
Sarah, welche sich Eduardos Leben aufgrund seiner Erzählungen bereits in schillerndsten Farben ausgemalt hatte, nickte verständnisvoll. Er war im Unternehmen seines Vaters tätig und musste oft geschäftlich verreisen. In Bogotá wartete neben viel Arbeit auch noch eine groÃe Familie und ein womöglich noch gröÃerer Freundeskreis auf ihn. Er konnte gar keine Zeit haben um zu lesen. Trotzdem schien ihr sein Leben so viel reizvoller als ihr eigenes. Es begann bei seiner paradiesischen Heimat und dem Gemeinschaftsgefühl innerhalb seiner Familie und endete bei seinen zahlreichen Reisen. Eduardo schien ein Leben zu führen, welches sich in jeder Hinsicht von Sarahs unterschied. Vielleicht war auch das einer der Punkte, welche ihn so anziehend auf sie wirken lieÃen. Auf jeden fall glaubte sie spätestens seit ihren ersten gemeinsamen Stunden in dem kleinen Stockholmer StraÃencafe zu wissen, dass er der einzig Richtige für sie war und sie ihr Leben mit ihm verbringen wollte. Noch Jahre später würde kaum ein Tag vergehen, an dem sie nicht an jenen Nachmittag würde denken müssen. An jenem Donnerstag, Anfang Juni 1977, unterhielten sie sich noch weitere zwei Stunden, bevor sie sich schlieÃlich für den nächsten Tag verabredeten und Sarah zum Kino, wo bereits ihre Freundinnen ungeduldig auf sie warteten, aufbrach. Als sie in das weiche Leder des Kinosessels sank, fühlte sie, dass sie gerade am Beginn eines neuen Lebensabschnittes stand. Sie musste lediglich die Tür öffnen und das würde sie auch mit Vorfreuden tun, noch nicht ahnend, was sich dahinter verbarg.
15. Teil
Lillian
Spanish Harlem, 2000
Arturo musterte Lillian nachdenklich. Sie hatte sich von ihm abgewandt und fixierte die Parkbank gegenüber. Er wusste nicht, ob sie eine Antwort von ihm erwartete, ob er ihr überhaupt eine geben konnte. Am Montag hatte er stundenlang auf sie gewartet, doch sie war nicht gekommen, hatte ihn abends nur kurz angerufen. Es waren noch zwei weitere Tage vergangen, ehe sie sich an diesem Tag wieder sahen. Lillian war zuerst nicht gesprächig gewesen, hatte nur erwähnt, dass sie diese Woche noch nicht in der Schule gewesen wäre. Ohne scheinbaren Zusammenhang war danach alles aus ihr herausgeplatzt. Ihre Stimme hatte sich dabei weder gehoben noch gesunken, als hätte sie über das Wetter gesprochen. Arturo kannte sie gut genug, dass er wusste, dass dies nur ihre Art von Selbstschutz war. Er musterte sie prüfend, als könnte er in ihrem Gesicht die richtigen Worte für eine Antwort ablesen. Am liebsten hätte er sie einfach in die Arme genommen. Doch sie hatte nicht ihm ihr Herz geöffnet, sondern Elena. Ihm hatte sie es lediglich mitgeteilt. Er hielt es für richtig auf Lillians Art und Weise zu reagieren. âHast du diese Oksana schon angerufen?â Fragte er beinahe wie beiläufig und ärgerte sich zugleich über seine Reaktion. SchlieÃlich ahnte er trotz Lillians starrer Maske, wie es in ihrem Innerem tatsächlich aussehen musste.
âIch hab es vorhin versucht, es hat niemand abgehobenâ¦â Sie deutete auf eine Telefonzelle ganz in der Nähe. âIch werde es ein wenig später wieder versuchen.â
Er nickte. âWenn du willst, warte ich bis du sie erreicht hast.â
Lillian zuckte mit den Schultern und schenkte ihm nur einen kurzen Blick. âWenn du nichts Besseres vor hastâ¦â
âNein, heute nicht.â
âOkay.â Sie seufzte leise.
âGehst du morgen wieder zur Schule?â
âWas denn, willst ausgerechnet du mir jetzt Vorwürfe machen?â Erwiderte sie spitz.
Arturo seufzte. âDu willst aber den Abschluss machen, ein College besuchen und die Welt beherrschen, schon vergessen?â
Lillian zuckte mit den Schultern und blickte auf ihre Schuhspitzen. Es kam ihr vor, als hätten beinahe alle Dinge, welche ihr noch vor wenigen Tagen so wichtig gewesen waren, an Bedeutung verloren.
âKann ich irgendetwas für dich tun?â Seine Stimme war ungewohnt sanft geworden.
Sie schenkte ihm ein zartes, beinahe unsichtbares, Lächeln. âKannst du die Zeit zurückdrehen?â
Er legte den Arm um sie. âDas würde ich sofort, könnte ich es.â Antwortete er leise.
Lillian erhob sich zögernd. âIch werde es nochmals versuchen. Hebt wieder niemand ab, gehe ich nachhause, mein Kopf schmerzt.â
Arturo nickte.
Sie warf ihm noch einen letzten Blick zu, bevor sie die Münzen in den Schlitz warf. Die Nummer kannte sie bereits auswendig. Ihre Finger zitterten, als sie diese wählte. Wenige Sekunden später vernahm sie das erste Geräusch. Sie trommelte unruhig auf die verglaste Tür und wollte schon wieder auflegen, als sich plötzlich eine weibliche Stimme meldete. Lillian verstand den Namen nicht. Ihre Stimme stockte. âMs. Oksana Miller?â Sie vernahm ein leises Geräusch vom anderen Ende der Leitung. Die Frau schien sich gesetzt zu haben.
âDas ist schon einige Jahre her.â Sie lachte freundlich. âCohen, Mrs. Oksana Cohen.â
Lillian nickte leicht. Die Krankenschwester hatte ihr den neuen Namen mitgeteilt, sie hatte ihn jedoch wieder vergessen gehabt.
âSind Sie noch da?â
âWas? Ja, natürlichâ¦â Lillian räusperte sich. âMein Name ist Lillian Marquezâ¦â Sie vernahm ein leises Seufzen. Hatte Oksana gewusst, dass sie anrufen würde?
âLillianâ¦â Oksanas Stimme überschlug sich.
âAlles in Ordnung?â Lillian runzelte die Stirn. Eine innere Unruhe erfasste sie plötzlich.
âJa, entschuldigen Sie bitte.â
âMrs. Cohen, Ihr Name steht auf meiner Adoptionsunterlageâ¦â Lillian hielt inne. âIch meine, ich habe jetzt erst erfahren, dass ich adoptiert bin. Meine GroÃmutter hat mir das Dokument gezeigt. Auf diesem waren nur Sie vermerkt. Ich will Sie gar nicht weiters belästigen. Ichâ¦ich möchte Sie nur fragen, ob Sie mir irgendetwas über meine leibliche Mutter sagen können? Das alles klingt verrückt, ich weiÃ. Aberâ¦â
âSchon gut, ganz ruhig.â Oksanas sanfte Stimme beruhigte Lillian. âErst mal, nenne mich bitte Oksana. Was deine Mutter betrifftâ¦â Sie holte tief Luft. âDa ist etwas, das ich dir geben muss. Lass uns nicht am Telefon darüber sprechen. Du lebst noch in New York City, sagte Marina. Hör mal, wenn du das wirklich möchtest, treffen wir uns am Wochenende persönlichâ¦â
Lillian runzelte die Stirn. âWas musst du mir geben? Ich verstehe das nichtâ¦â
âIch würde gerne mit dir persönlich über deine Mutter sprechen. Ich weià leider nur sehr, sehr wenig, aber du hast das Recht dazu das zu erfahren. Sie gab mir auÃerdem einen Umschlag für dich. Den sollst du bekommen. Wäre das für dich in Ordnung, wenn wir uns am Samstag in New York City treffen würden?â
Lillian kaute auf ihrer Unterlippe. âJaâ¦okay. Bei Carrieâs in der dreiundvierzigsten, Ecke Mainstreet?â
âWarte, ich muss das nur schnell notieren.â
Lillian vernahm ein leises Rascheln.
âWelche Uhrzeit wäre dir angenehm?â
âElf Uhr?â
âOkay. Ich gebe dir noch meine Handynummer, falls wir uns nicht finden sollten.â
Lillian zog einen kleinen Block und Stift aus ihrer Tasche und notierte die Nummer.
âAlles in Ordnung?â Arturo runzelte misstrauisch die Stirn, als Lillian wieder zu ihm zurückgekommen war. âAnscheinend war sie daâ¦â
âJaâ¦sie möchte mit mir persönlich sprechen. Wir treffen uns übermorgen in einem Cafe in der dreiundvierzigsten.â
âSoll ich mitkommen?â Bot er an.
âWieso das denn?â Sie runzelte die Stirn.
âKeine Ahnung. Vielleicht ist sie ja eine Verrückte.â
Lillian lachte. âNein, das glaub ich nicht. Aber keine Angst, ich kann schon auf mich selbst aufpassen. AuÃerdem ist die Gegend bei Carrieâs sehr sicher.â
âOkay, wie du möchtest. Leistest du mir dann am Samstagabend wieder einmal Gesellschaft?â
Sie betrachtete ihn nachdenklich. âIch weià noch nicht. Mal sehenâ¦â
Arturo begann sanft an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.
âDieser billige Bestechungsversuch wird dir rein gar nichts nützen.â Meinte Lillian.
âNein?â Hauchte er in ihr Ohr.
Sie spürte einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. âNein. Ganz und gar nichts.â
âTja, dannâ¦â Er vergröÃerte die Distanz zwischen ihnen. ââ¦kann ich daran wohl nichts ändern.â
âIch werde dich diesbezüglich noch anrufen.â Meinte sie gnädig.
âMach das.â Arturo warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. âWann erwartet dich denn deine GroÃmutter zurück?â
Lillian zuckte mit den Schultern. âWir haben nicht darüber gesprochen.â
âFahren wir nach Brooklyn?â
âWas?â Sie runzelte die Stirn. âWozu?â
âDu könntest mir zeigen, wo du mit deinen Eltern gewohnt hast.â
Lillian senkte den Blick. âNein.â Sie schüttelte den Kopf. âIch war seit damals nicht mehr dort und habe auch nicht vor, unser altes Haus jemals wieder zu sehen. Ich weià nicht einmal, ob es noch steht oder abgerissen worden ist.â
âDas war eine dämliche Idee, tut mir leid.â
âNein, die Idee war toll.â Sie hob den Kopf und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. âAber ich bin noch nicht so weit.â
Arturo nickte. âKomm her.â Er zog sie in seine Arme. âHast du Lust ziellos durch Manhattan zu fahren? Das hat dir früher so viel Spaà gemacht.â
Lillian lehnte sich an ihn. âGleichzeitig war es aber auch immer so deprimierend.â
âIn zehn Jahren wirst du anders darüber denken. Da wirst du deinen NYU Abschluss schon längst haben, irgendwo in Downtown arbeiten und dich liebend gern an unsere stundenlangen Fahrten erinnern.â
Lillian lachte. âDie NYUâ¦die sind sich sogar zu gut, mir eine Ablehnung zu schickenâ¦â Sie seufzte. âAber das alles scheint im Moment so unwichtig. Ich weià gar nicht, ob ich überhaupt noch studieren möchte. Ich weià rein gar nichts mehrâ¦â
Er strich ihr sanft durchs Haar. âDafür weià ich, dass du auch mit dieser Situation fertig werden wirst. Du wirst deinen Weg gehen, wie dieser auch aussehen mag.â
âEs ist schön zu wissen, dass jemand an dich glaubt, wenn du den Glauben an dich selbst schon lange verloren hast.â Sie umarmte ihn. âIch habe Angst vor Samstag. Mich mit dieser Frau zu treffen bedeutet nicht nur zu realisieren, dass ich mich in der wirklichen Welt und nicht in einem Alptraum befinde. Es bedeutet auch die wiederholte Bestätigung, dass ich die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, welche ich liebe und als Eltern bezeichnete, niemals gekannt habe. Genauso wenig wie mich selbst. Es ist die Konfrontation mit der Tatsache, dass ich weder weiÃ, wer ich bin noch wer ich einmal war. Undâ¦â Sie atmete tief ein. ââ¦vielleicht will ich das auch gar nicht wissen.â
âDanke.â Er lächelte leicht. âDu erwähntest einmal, dass deine Eltern geschieden wären. Hast du viel Kontakt zu deinem Vater?â
Sarah seufzte leise und senkte den Blick.
Eduardo berührte ihre Hand sanft. Trotz des innerlichen Schmerzes fühlte sie, wie ein warmes Gefühl erneut ihr Herz umschloss. Sie hob den Kopf zaghaft und versank ein weiteres Mal in seinen Augen.
âSarah?â Er strich sanft über ihren Handrücken. âEs tut mir leid. Ich wollte keine Wunden aufreiÃenâ¦â
Sarah schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Berührungen. Sie hoffte, dass er niemals damit aufhören möge.
Eduardo beobachtete sie Stirn runzelnd. Mit dem Glauben, dass es ihr Vater gewesen war, welcher sie so schweigsam gestimmt hatte, wechselte er das Thema. âMöchtest du noch ein Eis? Ich habe genug Geld bei mir. Tu dir also keinen Zwang an.â
Ihre Augen weiteten sich. âDu willst das alles zahlen? Nein, das geht nicht. Ich werde selbst zahlen.â
âDu wolltest doch eingeladen werden. AuÃerdem lasse ich Frauen niemals bezahlen.â
âIch wollteâ¦?â Sie runzelte verwirrt die Stirn, entsann sich schlieÃlich ihrer genauen Worte. Wenn du möchtest, spiele ich morgen deine Stadtführerin. Dafür lädst du mich danach auf eine Pizza ein und erzählst mir von Kolumbien. âDas Buch!â
âWie bitte?â Eduardo musterte sie irritiert.
âIchâ¦ich wusste nicht, was ich sagen sollteâ¦da ist mir der Satz aus dem Buch eingefallen. Da gibt es so ein Mädchen namens Megan, welche den sympathischen Studenten Mike besser kennen lernen möchte. Sie hat dasselbe gefragt. Nur, dass er ihr vom College erzählen sollteâ¦das war furchtbar kindisch, ich weiÃ. Normalerweise kann ich meine Sätze selbst bilden oder ich schweige einfach. Obwohl mir schweigen nicht so liegt, wie du wahrscheinlich gemerkt hast.â Sarah hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. âEntschuldige. Du musst mich für eine komplette Idiotin halten. Am besten du verwindest ganz schnell, bevor ich noch mehr Unsinn rede.â
âWas, wenn ich aber nicht verschwinden möchte?â
âIch könnte es dir nicht verübeln. Du hast bestimmt schon gemerkt, dass ich wenig Erfahrung mit Gesprächen zwischen Männern und Frauen habe.â
âDafür schlägst du dich aber schon verdammt gut. Wie ist denn diese Geschichte mit Megan und Mike ausgegangen?â
Sarah strich eine Haarsträhne hinters Ohr. âNa ja, sie zeigte ihm die Stadt, anschlieÃend waren sie Pizza essen und er erzählte ihr währenddessen vom College. Sie trafen sich ein paar Mal bevor sie schlieÃlich zusammen kamen. Dumme Geschichte, ich weiÃ, ist nur ein Nebenhandlungsstrang. Aber das Buch ist sehr gut. Es geht ums Erwachsenwerden. Die Hauptperson ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Melissa. In dem Buch werden zehn Jahre ihres Lebens beschrieben. Meine GroÃmutter hat keine sehr hohe Meinung von dem Buch.â
âEs muss auch dir gefallen, nicht ihr.â
âJa. Das stimmt. Liest du auch gerne?â
âJa, aber ich komme leider nur selten dazu.â
Sarah, welche sich Eduardos Leben aufgrund seiner Erzählungen bereits in schillerndsten Farben ausgemalt hatte, nickte verständnisvoll. Er war im Unternehmen seines Vaters tätig und musste oft geschäftlich verreisen. In Bogotá wartete neben viel Arbeit auch noch eine groÃe Familie und ein womöglich noch gröÃerer Freundeskreis auf ihn. Er konnte gar keine Zeit haben um zu lesen. Trotzdem schien ihr sein Leben so viel reizvoller als ihr eigenes. Es begann bei seiner paradiesischen Heimat und dem Gemeinschaftsgefühl innerhalb seiner Familie und endete bei seinen zahlreichen Reisen. Eduardo schien ein Leben zu führen, welches sich in jeder Hinsicht von Sarahs unterschied. Vielleicht war auch das einer der Punkte, welche ihn so anziehend auf sie wirken lieÃen. Auf jeden fall glaubte sie spätestens seit ihren ersten gemeinsamen Stunden in dem kleinen Stockholmer StraÃencafe zu wissen, dass er der einzig Richtige für sie war und sie ihr Leben mit ihm verbringen wollte. Noch Jahre später würde kaum ein Tag vergehen, an dem sie nicht an jenen Nachmittag würde denken müssen. An jenem Donnerstag, Anfang Juni 1977, unterhielten sie sich noch weitere zwei Stunden, bevor sie sich schlieÃlich für den nächsten Tag verabredeten und Sarah zum Kino, wo bereits ihre Freundinnen ungeduldig auf sie warteten, aufbrach. Als sie in das weiche Leder des Kinosessels sank, fühlte sie, dass sie gerade am Beginn eines neuen Lebensabschnittes stand. Sie musste lediglich die Tür öffnen und das würde sie auch mit Vorfreuden tun, noch nicht ahnend, was sich dahinter verbarg.
15. Teil
Lillian
Spanish Harlem, 2000
Arturo musterte Lillian nachdenklich. Sie hatte sich von ihm abgewandt und fixierte die Parkbank gegenüber. Er wusste nicht, ob sie eine Antwort von ihm erwartete, ob er ihr überhaupt eine geben konnte. Am Montag hatte er stundenlang auf sie gewartet, doch sie war nicht gekommen, hatte ihn abends nur kurz angerufen. Es waren noch zwei weitere Tage vergangen, ehe sie sich an diesem Tag wieder sahen. Lillian war zuerst nicht gesprächig gewesen, hatte nur erwähnt, dass sie diese Woche noch nicht in der Schule gewesen wäre. Ohne scheinbaren Zusammenhang war danach alles aus ihr herausgeplatzt. Ihre Stimme hatte sich dabei weder gehoben noch gesunken, als hätte sie über das Wetter gesprochen. Arturo kannte sie gut genug, dass er wusste, dass dies nur ihre Art von Selbstschutz war. Er musterte sie prüfend, als könnte er in ihrem Gesicht die richtigen Worte für eine Antwort ablesen. Am liebsten hätte er sie einfach in die Arme genommen. Doch sie hatte nicht ihm ihr Herz geöffnet, sondern Elena. Ihm hatte sie es lediglich mitgeteilt. Er hielt es für richtig auf Lillians Art und Weise zu reagieren. âHast du diese Oksana schon angerufen?â Fragte er beinahe wie beiläufig und ärgerte sich zugleich über seine Reaktion. SchlieÃlich ahnte er trotz Lillians starrer Maske, wie es in ihrem Innerem tatsächlich aussehen musste.
âIch hab es vorhin versucht, es hat niemand abgehobenâ¦â Sie deutete auf eine Telefonzelle ganz in der Nähe. âIch werde es ein wenig später wieder versuchen.â
Er nickte. âWenn du willst, warte ich bis du sie erreicht hast.â
Lillian zuckte mit den Schultern und schenkte ihm nur einen kurzen Blick. âWenn du nichts Besseres vor hastâ¦â
âNein, heute nicht.â
âOkay.â Sie seufzte leise.
âGehst du morgen wieder zur Schule?â
âWas denn, willst ausgerechnet du mir jetzt Vorwürfe machen?â Erwiderte sie spitz.
Arturo seufzte. âDu willst aber den Abschluss machen, ein College besuchen und die Welt beherrschen, schon vergessen?â
Lillian zuckte mit den Schultern und blickte auf ihre Schuhspitzen. Es kam ihr vor, als hätten beinahe alle Dinge, welche ihr noch vor wenigen Tagen so wichtig gewesen waren, an Bedeutung verloren.
âKann ich irgendetwas für dich tun?â Seine Stimme war ungewohnt sanft geworden.
Sie schenkte ihm ein zartes, beinahe unsichtbares, Lächeln. âKannst du die Zeit zurückdrehen?â
Er legte den Arm um sie. âDas würde ich sofort, könnte ich es.â Antwortete er leise.
Lillian erhob sich zögernd. âIch werde es nochmals versuchen. Hebt wieder niemand ab, gehe ich nachhause, mein Kopf schmerzt.â
Arturo nickte.
Sie warf ihm noch einen letzten Blick zu, bevor sie die Münzen in den Schlitz warf. Die Nummer kannte sie bereits auswendig. Ihre Finger zitterten, als sie diese wählte. Wenige Sekunden später vernahm sie das erste Geräusch. Sie trommelte unruhig auf die verglaste Tür und wollte schon wieder auflegen, als sich plötzlich eine weibliche Stimme meldete. Lillian verstand den Namen nicht. Ihre Stimme stockte. âMs. Oksana Miller?â Sie vernahm ein leises Geräusch vom anderen Ende der Leitung. Die Frau schien sich gesetzt zu haben.
âDas ist schon einige Jahre her.â Sie lachte freundlich. âCohen, Mrs. Oksana Cohen.â
Lillian nickte leicht. Die Krankenschwester hatte ihr den neuen Namen mitgeteilt, sie hatte ihn jedoch wieder vergessen gehabt.
âSind Sie noch da?â
âWas? Ja, natürlichâ¦â Lillian räusperte sich. âMein Name ist Lillian Marquezâ¦â Sie vernahm ein leises Seufzen. Hatte Oksana gewusst, dass sie anrufen würde?
âLillianâ¦â Oksanas Stimme überschlug sich.
âAlles in Ordnung?â Lillian runzelte die Stirn. Eine innere Unruhe erfasste sie plötzlich.
âJa, entschuldigen Sie bitte.â
âMrs. Cohen, Ihr Name steht auf meiner Adoptionsunterlageâ¦â Lillian hielt inne. âIch meine, ich habe jetzt erst erfahren, dass ich adoptiert bin. Meine GroÃmutter hat mir das Dokument gezeigt. Auf diesem waren nur Sie vermerkt. Ich will Sie gar nicht weiters belästigen. Ichâ¦ich möchte Sie nur fragen, ob Sie mir irgendetwas über meine leibliche Mutter sagen können? Das alles klingt verrückt, ich weiÃ. Aberâ¦â
âSchon gut, ganz ruhig.â Oksanas sanfte Stimme beruhigte Lillian. âErst mal, nenne mich bitte Oksana. Was deine Mutter betrifftâ¦â Sie holte tief Luft. âDa ist etwas, das ich dir geben muss. Lass uns nicht am Telefon darüber sprechen. Du lebst noch in New York City, sagte Marina. Hör mal, wenn du das wirklich möchtest, treffen wir uns am Wochenende persönlichâ¦â
Lillian runzelte die Stirn. âWas musst du mir geben? Ich verstehe das nichtâ¦â
âIch würde gerne mit dir persönlich über deine Mutter sprechen. Ich weià leider nur sehr, sehr wenig, aber du hast das Recht dazu das zu erfahren. Sie gab mir auÃerdem einen Umschlag für dich. Den sollst du bekommen. Wäre das für dich in Ordnung, wenn wir uns am Samstag in New York City treffen würden?â
Lillian kaute auf ihrer Unterlippe. âJaâ¦okay. Bei Carrieâs in der dreiundvierzigsten, Ecke Mainstreet?â
âWarte, ich muss das nur schnell notieren.â
Lillian vernahm ein leises Rascheln.
âWelche Uhrzeit wäre dir angenehm?â
âElf Uhr?â
âOkay. Ich gebe dir noch meine Handynummer, falls wir uns nicht finden sollten.â
Lillian zog einen kleinen Block und Stift aus ihrer Tasche und notierte die Nummer.
âAlles in Ordnung?â Arturo runzelte misstrauisch die Stirn, als Lillian wieder zu ihm zurückgekommen war. âAnscheinend war sie daâ¦â
âJaâ¦sie möchte mit mir persönlich sprechen. Wir treffen uns übermorgen in einem Cafe in der dreiundvierzigsten.â
âSoll ich mitkommen?â Bot er an.
âWieso das denn?â Sie runzelte die Stirn.
âKeine Ahnung. Vielleicht ist sie ja eine Verrückte.â
Lillian lachte. âNein, das glaub ich nicht. Aber keine Angst, ich kann schon auf mich selbst aufpassen. AuÃerdem ist die Gegend bei Carrieâs sehr sicher.â
âOkay, wie du möchtest. Leistest du mir dann am Samstagabend wieder einmal Gesellschaft?â
Sie betrachtete ihn nachdenklich. âIch weià noch nicht. Mal sehenâ¦â
Arturo begann sanft an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.
âDieser billige Bestechungsversuch wird dir rein gar nichts nützen.â Meinte Lillian.
âNein?â Hauchte er in ihr Ohr.
Sie spürte einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. âNein. Ganz und gar nichts.â
âTja, dannâ¦â Er vergröÃerte die Distanz zwischen ihnen. ââ¦kann ich daran wohl nichts ändern.â
âIch werde dich diesbezüglich noch anrufen.â Meinte sie gnädig.
âMach das.â Arturo warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. âWann erwartet dich denn deine GroÃmutter zurück?â
Lillian zuckte mit den Schultern. âWir haben nicht darüber gesprochen.â
âFahren wir nach Brooklyn?â
âWas?â Sie runzelte die Stirn. âWozu?â
âDu könntest mir zeigen, wo du mit deinen Eltern gewohnt hast.â
Lillian senkte den Blick. âNein.â Sie schüttelte den Kopf. âIch war seit damals nicht mehr dort und habe auch nicht vor, unser altes Haus jemals wieder zu sehen. Ich weià nicht einmal, ob es noch steht oder abgerissen worden ist.â
âDas war eine dämliche Idee, tut mir leid.â
âNein, die Idee war toll.â Sie hob den Kopf und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. âAber ich bin noch nicht so weit.â
Arturo nickte. âKomm her.â Er zog sie in seine Arme. âHast du Lust ziellos durch Manhattan zu fahren? Das hat dir früher so viel Spaà gemacht.â
Lillian lehnte sich an ihn. âGleichzeitig war es aber auch immer so deprimierend.â
âIn zehn Jahren wirst du anders darüber denken. Da wirst du deinen NYU Abschluss schon längst haben, irgendwo in Downtown arbeiten und dich liebend gern an unsere stundenlangen Fahrten erinnern.â
Lillian lachte. âDie NYUâ¦die sind sich sogar zu gut, mir eine Ablehnung zu schickenâ¦â Sie seufzte. âAber das alles scheint im Moment so unwichtig. Ich weià gar nicht, ob ich überhaupt noch studieren möchte. Ich weià rein gar nichts mehrâ¦â
Er strich ihr sanft durchs Haar. âDafür weià ich, dass du auch mit dieser Situation fertig werden wirst. Du wirst deinen Weg gehen, wie dieser auch aussehen mag.â
âEs ist schön zu wissen, dass jemand an dich glaubt, wenn du den Glauben an dich selbst schon lange verloren hast.â Sie umarmte ihn. âIch habe Angst vor Samstag. Mich mit dieser Frau zu treffen bedeutet nicht nur zu realisieren, dass ich mich in der wirklichen Welt und nicht in einem Alptraum befinde. Es bedeutet auch die wiederholte Bestätigung, dass ich die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, welche ich liebe und als Eltern bezeichnete, niemals gekannt habe. Genauso wenig wie mich selbst. Es ist die Konfrontation mit der Tatsache, dass ich weder weiÃ, wer ich bin noch wer ich einmal war. Undâ¦â Sie atmete tief ein. ââ¦vielleicht will ich das auch gar nicht wissen.â