03.10.2006, 14:47
Hallo :knuddel:
Freut mich, dass dir der Teil gefallen hat. Vielen Dank für dein tolles Feedback!
Zu deiner Frage: Nein, John kam davor noch nicht vor. Er ist aber eigentlich eher eine Randperson.
@alle: Ich hab noch einen kleinen Teil für euch. Hoffe, er gefällt euch.
Freu mich - wie immer - über FBs!
Bussi Selene
19. Teil
Lillian
Spanish Harlem, 2000
Auf den StraÃen hatten sich bereits breite Schlammpfützen gebildet. Lillian schlüpfte eilig aus den nassen Schuhen und betrat das kalte Wohnhaus. Sie stellte diese schlieÃlich auf die alte braune Matte vor der Wohnungstür. Lillian wühlte in ihrem Rucksack nach dem Schlüssel, als die Tür plötzlich geöffnet wurde.
âMein Gott, Lillian! Endlich!â Ana fasste sich erleichtert an die Brust. âSchon wieder so ein Unwetter. Ich habe mir schon groÃe Sorgen um dich gemacht! Nimm die Schuhe mit herein! Consuela Moldavo hatte ihre gestern nur für eine Stunde zum Abtropfen drauÃen stehen gelassen. Als sie diese holen wollte, waren sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Heilige María, diese Welt wird immer schlechter! Jetzt werden sogar schon arme alte Frauen ihrer Schuhe beraubt.â
Lillian folgte ihrer GroÃmutter in die Wohnung. Ein warmer Duft strömte ihr entgegen.
âIch habe uns Hühnersuppe gekocht.â Ana lächelte. âHeute wirst du dir Zeit zum Essen nehmen, sonst wirst du noch krank. Immer diese jungen Dinger mit ihrem Schlankheitswahn. Glaubst du, dass du diesem Taugenichts als dürre Bohnenstange besser gefällst?â
Lillian seufzte. âIch möchte gar nicht abnehmen, GroÃmutter. Ich bin diese Woche lediglich wenig zum Essen gekommen. Meine Abschlussprüfungen stehen unmittelbar bevor.â
âDein Körper sollte dir aber wichtiger sein. Jetzt ist Wochenende, Kind. Ruhe dich doch ein wenig aus. Was macht Arturo denn heute Abend?â
Lillians Augen weiteten sich überrascht. Ana musste sich tatsächlich ernsthaft um sie sorgen, wenn sie sogar wollte, dass sie sich mit Arturo traf. âIch werde ihn anrufen.â
âMach das, Kind. Die Suppe braucht ohnehin noch ein wenig.â
âJetzt gleich?â
âNatürlich. Sonst verabredet er sich noch mit einer anderen.â Ana beobachtete Kopf schüttelnd, wie gemächlich ihre Enkeltochter den Telefonhörer des alten Telefons ergriff und die Nummer wählte.
âHallo Arturo.â Lillian schenkte ihrer GroÃmutter einen kurzen Blick. âGroÃmutter wollte, dass ich dich während deiner Arbeit störe und um ein Treffen heute Abend bitte, damit du keine andere mir vorziehst...â Sie zwinkerte Ana zu.
Diese stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte Stirn runzelnd den Kopf. Gleichzeitig freute sie sich aber auch, dass Lillian endlich etwas besser gelaunt klang. Ihre Enkeltochter war seit ihrem Gespräch vor bald zwei Wochen sehr einsilbig und stets in ihren Schulbüchern versunken gewesen.
âJa, das klingt gut. Ich habe die ganze Clique ohnehin schon lange nicht mehr gesehen...Elena? Ja, ich kann sie fragen. Eine gute Idee. Auch sie sollte wieder einmal raus. Aber es kommt darauf an, ob sie einen Babysitter für den Kleinen bekommt...â
âSie soll Emilio zu mir bringen!â Mischte sich Ana in das Gespräch ein. Sie liebte Elena beinahe wie eine zweite Enkeltochter und vergötterte ihren kleinen Sohn.
âGroÃmutter, ich spreche gerade mit Arturo, nicht mit Elena. Aber sie freut sich gewiss über das Angebot, ich werde es ihr nachher sagen...Arturo? Ja, ich bin wieder da...Halb acht? Wo treffen wir uns?â
âEr soll Elena und dich abholen! Es ist nachts sehr gefährlich für junge Frauen!â Mischte sich Ana erneut ein.
Lillian seufzte genervt. âKönntest du uns um halb acht abholen? Danke.â
âEr soll tanken!â
âMeine GroÃmutter möchte, dass du davor auftankst...okay...â Lillians Mund zog sich zu einem Schmunzeln. âAlso bis dann...ja, ich denke daran.â Sie lachte. âBye.â
âWoran sollst du denken?â
Lillian legte auf und wählte Elenas Nummer. âAn Spitzenunterwäsche.â
âWie bitte?â Ana musterte ihre scheinbar zur Unzucht verführte Enkeltochter schockiert.
Lillian lachte. âNur an ein Buch, das er mir schon vor Ewigkeiten geborgt hat...Hi Elena, ich bin es, Lillian...â Nach einem kurzen Gespräch setzte sie sich zu Ana auf das Sofa. Diese hatte den Tisch bereits gedeckt und Suppe in die Schüsseln gefüllt.
âEmpfindest du solche Witze als amüsant?â
âNein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.â Lillian kostete von der Suppe. âDie Suppe schmeckt sehr gut, danke.â
âDas ist ein Rezept deiner UrgroÃmutter, sie war eine begnadete Köchin. Kommt Elena mit euch?â
âJa. Sie nimmt dein Angebot dankend an.â
âDas freut mich. Ich hab den Kleinen schon lange nicht mehr gesehen.â
âEr ist wirklich goldig.â Lillian lächelte.
âWer kommt denn heute noch mit euch?â
âNur ein paar Freunde Arturos.â Antwortete Lillian wahrheitsgemäÃ, bereute aber sogleich ehrlich gewesen zu sein.
Auf Anas Stirn bildete sich eine Falte. âMir gefällt dieser Umgang nicht.â
âDu wolltest, dass ich Arturo anrufe. Er hatte sich bereits mit seinen Freunden verabredet, jetzt unternehmen wir eben alle etwas gemeinsam. Keine Sorge GroÃmutter, wenn sie auf den Gedanken kommen Consuela Moldavos letztes Paar Schuhe zu stehlen, werde ich sie persönlich davon abhalten.â
Ana lächelte milde. âDer Junge bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?â
âWas? Von wem sprichst du?â
âNatürlich von Arturo. Ich versuche seit zwei Wochen dich wieder aus deinem Schneckenhaus zu locken und dich ein wenig aufzuheitern. Vergeblich. Dann telefonierst du mit Arturo und bist wieder beinahe meine vorlaute Enkeltochter.â
âIch stehe zurzeit nur unter groÃem Stress. Sei unbesorgt, GroÃmutter. Wenn die Prüfungen vorbei sind, wird alles wieder sein wie früher.â Dies hoffte Lillian zumindest. Ihre Bedrücktheit und Zurückgezogenheit hatte noch andere Ursachen, welche sie jedoch zu verdrängen versuchte. âIch bin es Arturo eigentlich schuldig, dass ich mich heute mit ihm treffe. SchlieÃlich habe ich unser Treffen letzte Woche so kurzfristig abgesagt.â
âDas erklärt aber immer noch nicht, warum er es war, der dich aufheitern konnte.â
Lillian seufzte. âDu solltest da nicht zu viel hineininterpretieren.â
âNein? Die Leute reden schon...â
âDas tun sie doch immer! Was sagen sie denn diesmal?â
Ana senkte den Blick. Sie hatte ihrer Enkeltochter eigentlich noch nicht von den Worten Consuela Moldavos erzählen wollen. SchlieÃlich hatte Lillian gerade genügend andere Sorgen.
âGroÃmutter?â
âSie behaupten, Arturo und du würdet euch in aller Ãffentlichkeit unzüchtig benehmen...â Ana blickte auf ihren Tellerrand.
âWas?â Lillians Augen weiteten sich. âWann und wo soll das geschehen sein?â
âDas weià ich nicht, Kind.â
âDu glaubst das doch nicht?â
Ana seufzte. âAn diesem Gerede ist meist ein Körnchen Wahrheit...â
Lillian runzelte wütend die Stirn. âAch ja? Demnach war auch ein Körnchen Wahrheit an dem Gerücht, dass meine Mutter ständig fremdgegangen ist? Oder dass du eine verbitterte alte Junger mit bösen Gedanken bist?â
Ana fasste sich an die Brust. âOh mein Gott. Lillian, so spricht man nicht über Verstorbene schon gar nicht über seine eigene Mutter - möge sie in Frieden ruhen...Hast du mit ihm geschlafen?â
âWas wäre daran so schlimm?â
âIhr seid nicht verheiratet, nicht verlobt, nicht einmal liiert!â
âWir sind Freunde, GroÃmutter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.â Lillian seufzte genervt.
âDu hast mir noch immer nicht geantwortet.â
âJa, wir haben miteinander geschlafen. Am liebsten machen wir es vor Kirchen!â
Ana schlug die Hände zusammen. âOh mein Gott! Was würde deine Mutter sagen? Möge sie in Frieden ruhen.â
Lillian seufzte. Ihre Stimme wurde sanfter. âGroÃmama, Arturo schätzt und respektiert mich. Wir sind uns tatsächlich näher gekommen, aber - wie es sich gehört - in einem geschlossenen Raum, weit entfernt und abgeschirmt von Blicken der Ãffentlichkeit.â
Ana begann sich ein wenig zu entspannen. Sie hatte natürlich gewusst, dass dieses Gerücht nicht stimmte, hatte sich aber davor gefürchtet, wieviel Wahrheit tatsächlich dahinter steckte. âAber trotzdem ist es moralisch nicht korrekt. Woher willst du wissen, ob er dich nicht ausnützt?â
âDas weià ich, GroÃmutter. Vertrau mir, bitte.â
Ana wischte sich über die Stirn. âIch habe Kopfschmerzen und werde mich hinlegen. Wasch bitte das Geschirr ab und wecke mich rechtzeitig.â Sie stützte sich beim Tisch ab um sich leichter erheben zu können.
âGroÃmama?â
Ana seufzte leise und sah ihre Enkeltochter an.
âSoll ich dir einen Tee kochen?â
âNein, danke. Ich brauche nur ein wenig Schlaf.â
Lillian beobachtete Ana besorgt, als diese in ihr Zimmer ging. Zum ersten Mal fiel ihr bewusst auf, wie sehr die Frau in den letzten Jahren tatsächlich gealtert war. Lillian stellte das Geschirr nachdenklich auf die kleine Ablagefläche beim Waschbecken und setzte sich wieder. Hatte sie genügend Rücksicht auf Ana genommen oder wurde sie dieser zunehmend zur Last? Warum hatte sie sich bei ihrem vorigen Gespräch nicht anders verhalten? Auch wenn Ana sehr konservativ und oftmals schwierig war, war sie doch eine herzensgute Frau, welche stets für sie da gewesen war. Und wie hatte sie es ihr gedankt? Lillian seufzte leise. Sie war noch immer wütend, weil ihre Eltern und ihre GroÃmutter ihr die Adoption verschwiegen hatten. Lillian wollte es nicht zugeben, aber tief in ihrem Herzen war die Enttäuschung und Wut noch immer vorhanden. Wann würden diese Gefühle endlich nachlassen? Sie musste sich anderem widmen. Lillian beschloss den Abwasch später zu erledigen und zog ein Schulbuch aus dem Rucksack. Die letzten beiden Wochen hatte sie sich bemüht ihre Zeit ausschlieÃlich dem Lernen zu widmen. Doch sie war aufgrund ihres Konzentrationsmangels schon froh gewesen, wenn sie nur ein einziges Kapitel pro Tag geschafft hatte. Das Gespräch mit Oksana hatte sie noch mehr verwirrt. Ein unübersichtlicher Schwarm von Gefühlen schien sie regelrecht zu erdrücken, sie glaubte zeitweise nicht mehr atmen zu können. Lillian legte das Buch zur Seite und erhob sich zögernd. Die Tasche stand noch immer in dem kleinen Schrank. Sie hatte sie seit letzter Woche nicht mehr angefasst. Ihre Hände zitterten, als sie den dicken Umschlag herauszog. Er war dunkelgrau und hatte A4-Format. Sie atmete tief durch. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich. Ihre Knie zitterten, als sie auf das alte Sofa sank. Lillian blickte aus dem Fenster. Der Regen war stärker geworden. Aus dem Schlafzimmer Anas war ein gleichmäÃiges, leises Schnarchen zu vernehmen. Wie viele Kopfschmerztabletten hatte sie wohl diesmal geschluckt? Lillian verdrängte den Gedanken und fixierte den Umschlag. Er war auf der Seite zugeklebt. Sie strich mit dem rechten Zeigefinger über die Klebestelle. Lillian griff zögernd nach ihrem kleinen Taschenmesser und setzte es langsam an. Sollte sie den Umschlag tatsächlich öffnen? Was versprach sie sich davon? Sie glaubte der Druck auf ihrem Herzen würde sie ersticken, als ihre Finger in den Umschlag glitten. Sie spürte ein zusammengefaltetes Blatt Papier und einen dicken Stoà Zetteln, welche sich offenbar in einem Art Schnellhefter befanden, darunter. Sie zog das Papier zögernd heraus. Es war dreimal zusammen gefaltet worden. Sie faltete es langsam auseinander. Ihre Finger zitterten, sie war jeglicher Gedanken unfähig.
Meine liebste Tochter,
Lillian starrte auf die Zeile. Die Schrift war fein und geschwungen. Eine junge Frau hatte den Brief vor Jahren an sie geschrieben. Die Frau, welche ihre leibliche Mutter war. Lillian atmete tief durch. Was konnte sie ihr mitteilen wollen? Wollte sie es überhaupt wissen? Diese Frau hatte sie nicht gewollt. Gab es dafür eine Entschuldigung? Was sollten diese Zeilen auÃerdem schon an ihrem Leben ändern? Sie wollte den Brief schon weglegen, entschloss sich aber schlieÃlich ihn weiter zu lesen.
Du ahnst nicht, wie schwer es mir fällt diesen Brief zu schreiben, während du - mein kleines Mädchen - gegenüber in dem kleinen Gitterbett liegst und friedlich schläfst.
Ich hoffe jeden Tag aufs Neue, diesen Brief niemals beenden zu müssen. Doch es ist das Beste für dich, auch wenn du es jetzt noch nicht verstehen magst.
Jedes weitere Wort, jeder Satz, welchen ich diesem Brief hinzufüge, scheint mein Herz ein wenig mehr zu brechen.
Ich frage mich, wie alt du wohl sein wirst, wenn du dies liest. Wie du aussehen wirst. Wo du leben wirst.
Du bist vorhin erwacht und hast mich mit deinen wunderschönen Augen angelächelt. Du hast die Augen deines Vaters. Dein Haar ist im Moment noch so hell wie meines, es wird aber wahrscheinlich noch dunkler werden.
Ich habe dir ein Lied vorgesungen und du bist in meinen wiegenden Armen wieder eingeschlafen. Meine eigene Mutter wog mich auch immer mit dieser Melodie in den Schlaf.
Meine liebste Tochter, du bist mein Ein und Alles. Mein Herz, mein Atem, meine Seele.
Ich habe dich von dem Moment an geliebt, als ich erfuhr, dass du in mir heranwächst. Das sollst du wissen, es ist wichtig.
Du bist so zart, deine Haut ist wie Porzellan.
Du bist noch keine fünf Monate alt, aber du bist schon jetzt wunderschön.
Meine liebste Tochter, hasse mich nicht für das, was ich tun muss. Denn ich habe keine andere Wahl.
Ich habe meine Geschichte in den letzten Monaten niedergeschrieben und lege sie dir in den Umschlag bei. Es steht dir frei, sie zu lesen. Fühle dich keinesfalls dazu verpflichtet. Ich möchte dich nicht aufwühlen, du sollst nicht meinetwegen leiden müssen. Aber es ist meine Pflicht als die Frau, die dich der Welt gegeben hat, es dir zu ermöglichen meine Geschichte zu erfahren.
Damit du es verstehst.
Lillian, meine liebste Tochter. Mein Herz wird dich begleiten, wohin auch immer dich dein Weg führen mag. Ich werde immer bei dir sein.
Sei stark und lebe dein Leben aus tiefstem Herzen, mit Lust und Freude, aber auch Bedacht. Lebe im Hier und Jetzt und gehe deinen Weg. Sieh nicht zurück, blicke stets nach vorn.
Ich liebe dich, mein kleines Mädchen, und hoffe, dass eines Tages der Moment kommen wird, in dem du mir wirst verzeihen können.
Ich werde für immer bei dir sein.
In ewiger Liebe,
deine Mutter,
Sarah
Freut mich, dass dir der Teil gefallen hat. Vielen Dank für dein tolles Feedback!
Zu deiner Frage: Nein, John kam davor noch nicht vor. Er ist aber eigentlich eher eine Randperson.
@alle: Ich hab noch einen kleinen Teil für euch. Hoffe, er gefällt euch.
Freu mich - wie immer - über FBs!
Bussi Selene
19. Teil
Lillian
Spanish Harlem, 2000
Auf den StraÃen hatten sich bereits breite Schlammpfützen gebildet. Lillian schlüpfte eilig aus den nassen Schuhen und betrat das kalte Wohnhaus. Sie stellte diese schlieÃlich auf die alte braune Matte vor der Wohnungstür. Lillian wühlte in ihrem Rucksack nach dem Schlüssel, als die Tür plötzlich geöffnet wurde.
âMein Gott, Lillian! Endlich!â Ana fasste sich erleichtert an die Brust. âSchon wieder so ein Unwetter. Ich habe mir schon groÃe Sorgen um dich gemacht! Nimm die Schuhe mit herein! Consuela Moldavo hatte ihre gestern nur für eine Stunde zum Abtropfen drauÃen stehen gelassen. Als sie diese holen wollte, waren sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Heilige María, diese Welt wird immer schlechter! Jetzt werden sogar schon arme alte Frauen ihrer Schuhe beraubt.â
Lillian folgte ihrer GroÃmutter in die Wohnung. Ein warmer Duft strömte ihr entgegen.
âIch habe uns Hühnersuppe gekocht.â Ana lächelte. âHeute wirst du dir Zeit zum Essen nehmen, sonst wirst du noch krank. Immer diese jungen Dinger mit ihrem Schlankheitswahn. Glaubst du, dass du diesem Taugenichts als dürre Bohnenstange besser gefällst?â
Lillian seufzte. âIch möchte gar nicht abnehmen, GroÃmutter. Ich bin diese Woche lediglich wenig zum Essen gekommen. Meine Abschlussprüfungen stehen unmittelbar bevor.â
âDein Körper sollte dir aber wichtiger sein. Jetzt ist Wochenende, Kind. Ruhe dich doch ein wenig aus. Was macht Arturo denn heute Abend?â
Lillians Augen weiteten sich überrascht. Ana musste sich tatsächlich ernsthaft um sie sorgen, wenn sie sogar wollte, dass sie sich mit Arturo traf. âIch werde ihn anrufen.â
âMach das, Kind. Die Suppe braucht ohnehin noch ein wenig.â
âJetzt gleich?â
âNatürlich. Sonst verabredet er sich noch mit einer anderen.â Ana beobachtete Kopf schüttelnd, wie gemächlich ihre Enkeltochter den Telefonhörer des alten Telefons ergriff und die Nummer wählte.
âHallo Arturo.â Lillian schenkte ihrer GroÃmutter einen kurzen Blick. âGroÃmutter wollte, dass ich dich während deiner Arbeit störe und um ein Treffen heute Abend bitte, damit du keine andere mir vorziehst...â Sie zwinkerte Ana zu.
Diese stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte Stirn runzelnd den Kopf. Gleichzeitig freute sie sich aber auch, dass Lillian endlich etwas besser gelaunt klang. Ihre Enkeltochter war seit ihrem Gespräch vor bald zwei Wochen sehr einsilbig und stets in ihren Schulbüchern versunken gewesen.
âJa, das klingt gut. Ich habe die ganze Clique ohnehin schon lange nicht mehr gesehen...Elena? Ja, ich kann sie fragen. Eine gute Idee. Auch sie sollte wieder einmal raus. Aber es kommt darauf an, ob sie einen Babysitter für den Kleinen bekommt...â
âSie soll Emilio zu mir bringen!â Mischte sich Ana in das Gespräch ein. Sie liebte Elena beinahe wie eine zweite Enkeltochter und vergötterte ihren kleinen Sohn.
âGroÃmutter, ich spreche gerade mit Arturo, nicht mit Elena. Aber sie freut sich gewiss über das Angebot, ich werde es ihr nachher sagen...Arturo? Ja, ich bin wieder da...Halb acht? Wo treffen wir uns?â
âEr soll Elena und dich abholen! Es ist nachts sehr gefährlich für junge Frauen!â Mischte sich Ana erneut ein.
Lillian seufzte genervt. âKönntest du uns um halb acht abholen? Danke.â
âEr soll tanken!â
âMeine GroÃmutter möchte, dass du davor auftankst...okay...â Lillians Mund zog sich zu einem Schmunzeln. âAlso bis dann...ja, ich denke daran.â Sie lachte. âBye.â
âWoran sollst du denken?â
Lillian legte auf und wählte Elenas Nummer. âAn Spitzenunterwäsche.â
âWie bitte?â Ana musterte ihre scheinbar zur Unzucht verführte Enkeltochter schockiert.
Lillian lachte. âNur an ein Buch, das er mir schon vor Ewigkeiten geborgt hat...Hi Elena, ich bin es, Lillian...â Nach einem kurzen Gespräch setzte sie sich zu Ana auf das Sofa. Diese hatte den Tisch bereits gedeckt und Suppe in die Schüsseln gefüllt.
âEmpfindest du solche Witze als amüsant?â
âNein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.â Lillian kostete von der Suppe. âDie Suppe schmeckt sehr gut, danke.â
âDas ist ein Rezept deiner UrgroÃmutter, sie war eine begnadete Köchin. Kommt Elena mit euch?â
âJa. Sie nimmt dein Angebot dankend an.â
âDas freut mich. Ich hab den Kleinen schon lange nicht mehr gesehen.â
âEr ist wirklich goldig.â Lillian lächelte.
âWer kommt denn heute noch mit euch?â
âNur ein paar Freunde Arturos.â Antwortete Lillian wahrheitsgemäÃ, bereute aber sogleich ehrlich gewesen zu sein.
Auf Anas Stirn bildete sich eine Falte. âMir gefällt dieser Umgang nicht.â
âDu wolltest, dass ich Arturo anrufe. Er hatte sich bereits mit seinen Freunden verabredet, jetzt unternehmen wir eben alle etwas gemeinsam. Keine Sorge GroÃmutter, wenn sie auf den Gedanken kommen Consuela Moldavos letztes Paar Schuhe zu stehlen, werde ich sie persönlich davon abhalten.â
Ana lächelte milde. âDer Junge bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?â
âWas? Von wem sprichst du?â
âNatürlich von Arturo. Ich versuche seit zwei Wochen dich wieder aus deinem Schneckenhaus zu locken und dich ein wenig aufzuheitern. Vergeblich. Dann telefonierst du mit Arturo und bist wieder beinahe meine vorlaute Enkeltochter.â
âIch stehe zurzeit nur unter groÃem Stress. Sei unbesorgt, GroÃmutter. Wenn die Prüfungen vorbei sind, wird alles wieder sein wie früher.â Dies hoffte Lillian zumindest. Ihre Bedrücktheit und Zurückgezogenheit hatte noch andere Ursachen, welche sie jedoch zu verdrängen versuchte. âIch bin es Arturo eigentlich schuldig, dass ich mich heute mit ihm treffe. SchlieÃlich habe ich unser Treffen letzte Woche so kurzfristig abgesagt.â
âDas erklärt aber immer noch nicht, warum er es war, der dich aufheitern konnte.â
Lillian seufzte. âDu solltest da nicht zu viel hineininterpretieren.â
âNein? Die Leute reden schon...â
âDas tun sie doch immer! Was sagen sie denn diesmal?â
Ana senkte den Blick. Sie hatte ihrer Enkeltochter eigentlich noch nicht von den Worten Consuela Moldavos erzählen wollen. SchlieÃlich hatte Lillian gerade genügend andere Sorgen.
âGroÃmutter?â
âSie behaupten, Arturo und du würdet euch in aller Ãffentlichkeit unzüchtig benehmen...â Ana blickte auf ihren Tellerrand.
âWas?â Lillians Augen weiteten sich. âWann und wo soll das geschehen sein?â
âDas weià ich nicht, Kind.â
âDu glaubst das doch nicht?â
Ana seufzte. âAn diesem Gerede ist meist ein Körnchen Wahrheit...â
Lillian runzelte wütend die Stirn. âAch ja? Demnach war auch ein Körnchen Wahrheit an dem Gerücht, dass meine Mutter ständig fremdgegangen ist? Oder dass du eine verbitterte alte Junger mit bösen Gedanken bist?â
Ana fasste sich an die Brust. âOh mein Gott. Lillian, so spricht man nicht über Verstorbene schon gar nicht über seine eigene Mutter - möge sie in Frieden ruhen...Hast du mit ihm geschlafen?â
âWas wäre daran so schlimm?â
âIhr seid nicht verheiratet, nicht verlobt, nicht einmal liiert!â
âWir sind Freunde, GroÃmutter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.â Lillian seufzte genervt.
âDu hast mir noch immer nicht geantwortet.â
âJa, wir haben miteinander geschlafen. Am liebsten machen wir es vor Kirchen!â
Ana schlug die Hände zusammen. âOh mein Gott! Was würde deine Mutter sagen? Möge sie in Frieden ruhen.â
Lillian seufzte. Ihre Stimme wurde sanfter. âGroÃmama, Arturo schätzt und respektiert mich. Wir sind uns tatsächlich näher gekommen, aber - wie es sich gehört - in einem geschlossenen Raum, weit entfernt und abgeschirmt von Blicken der Ãffentlichkeit.â
Ana begann sich ein wenig zu entspannen. Sie hatte natürlich gewusst, dass dieses Gerücht nicht stimmte, hatte sich aber davor gefürchtet, wieviel Wahrheit tatsächlich dahinter steckte. âAber trotzdem ist es moralisch nicht korrekt. Woher willst du wissen, ob er dich nicht ausnützt?â
âDas weià ich, GroÃmutter. Vertrau mir, bitte.â
Ana wischte sich über die Stirn. âIch habe Kopfschmerzen und werde mich hinlegen. Wasch bitte das Geschirr ab und wecke mich rechtzeitig.â Sie stützte sich beim Tisch ab um sich leichter erheben zu können.
âGroÃmama?â
Ana seufzte leise und sah ihre Enkeltochter an.
âSoll ich dir einen Tee kochen?â
âNein, danke. Ich brauche nur ein wenig Schlaf.â
Lillian beobachtete Ana besorgt, als diese in ihr Zimmer ging. Zum ersten Mal fiel ihr bewusst auf, wie sehr die Frau in den letzten Jahren tatsächlich gealtert war. Lillian stellte das Geschirr nachdenklich auf die kleine Ablagefläche beim Waschbecken und setzte sich wieder. Hatte sie genügend Rücksicht auf Ana genommen oder wurde sie dieser zunehmend zur Last? Warum hatte sie sich bei ihrem vorigen Gespräch nicht anders verhalten? Auch wenn Ana sehr konservativ und oftmals schwierig war, war sie doch eine herzensgute Frau, welche stets für sie da gewesen war. Und wie hatte sie es ihr gedankt? Lillian seufzte leise. Sie war noch immer wütend, weil ihre Eltern und ihre GroÃmutter ihr die Adoption verschwiegen hatten. Lillian wollte es nicht zugeben, aber tief in ihrem Herzen war die Enttäuschung und Wut noch immer vorhanden. Wann würden diese Gefühle endlich nachlassen? Sie musste sich anderem widmen. Lillian beschloss den Abwasch später zu erledigen und zog ein Schulbuch aus dem Rucksack. Die letzten beiden Wochen hatte sie sich bemüht ihre Zeit ausschlieÃlich dem Lernen zu widmen. Doch sie war aufgrund ihres Konzentrationsmangels schon froh gewesen, wenn sie nur ein einziges Kapitel pro Tag geschafft hatte. Das Gespräch mit Oksana hatte sie noch mehr verwirrt. Ein unübersichtlicher Schwarm von Gefühlen schien sie regelrecht zu erdrücken, sie glaubte zeitweise nicht mehr atmen zu können. Lillian legte das Buch zur Seite und erhob sich zögernd. Die Tasche stand noch immer in dem kleinen Schrank. Sie hatte sie seit letzter Woche nicht mehr angefasst. Ihre Hände zitterten, als sie den dicken Umschlag herauszog. Er war dunkelgrau und hatte A4-Format. Sie atmete tief durch. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich. Ihre Knie zitterten, als sie auf das alte Sofa sank. Lillian blickte aus dem Fenster. Der Regen war stärker geworden. Aus dem Schlafzimmer Anas war ein gleichmäÃiges, leises Schnarchen zu vernehmen. Wie viele Kopfschmerztabletten hatte sie wohl diesmal geschluckt? Lillian verdrängte den Gedanken und fixierte den Umschlag. Er war auf der Seite zugeklebt. Sie strich mit dem rechten Zeigefinger über die Klebestelle. Lillian griff zögernd nach ihrem kleinen Taschenmesser und setzte es langsam an. Sollte sie den Umschlag tatsächlich öffnen? Was versprach sie sich davon? Sie glaubte der Druck auf ihrem Herzen würde sie ersticken, als ihre Finger in den Umschlag glitten. Sie spürte ein zusammengefaltetes Blatt Papier und einen dicken Stoà Zetteln, welche sich offenbar in einem Art Schnellhefter befanden, darunter. Sie zog das Papier zögernd heraus. Es war dreimal zusammen gefaltet worden. Sie faltete es langsam auseinander. Ihre Finger zitterten, sie war jeglicher Gedanken unfähig.
Meine liebste Tochter,
Lillian starrte auf die Zeile. Die Schrift war fein und geschwungen. Eine junge Frau hatte den Brief vor Jahren an sie geschrieben. Die Frau, welche ihre leibliche Mutter war. Lillian atmete tief durch. Was konnte sie ihr mitteilen wollen? Wollte sie es überhaupt wissen? Diese Frau hatte sie nicht gewollt. Gab es dafür eine Entschuldigung? Was sollten diese Zeilen auÃerdem schon an ihrem Leben ändern? Sie wollte den Brief schon weglegen, entschloss sich aber schlieÃlich ihn weiter zu lesen.
Du ahnst nicht, wie schwer es mir fällt diesen Brief zu schreiben, während du - mein kleines Mädchen - gegenüber in dem kleinen Gitterbett liegst und friedlich schläfst.
Ich hoffe jeden Tag aufs Neue, diesen Brief niemals beenden zu müssen. Doch es ist das Beste für dich, auch wenn du es jetzt noch nicht verstehen magst.
Jedes weitere Wort, jeder Satz, welchen ich diesem Brief hinzufüge, scheint mein Herz ein wenig mehr zu brechen.
Ich frage mich, wie alt du wohl sein wirst, wenn du dies liest. Wie du aussehen wirst. Wo du leben wirst.
Du bist vorhin erwacht und hast mich mit deinen wunderschönen Augen angelächelt. Du hast die Augen deines Vaters. Dein Haar ist im Moment noch so hell wie meines, es wird aber wahrscheinlich noch dunkler werden.
Ich habe dir ein Lied vorgesungen und du bist in meinen wiegenden Armen wieder eingeschlafen. Meine eigene Mutter wog mich auch immer mit dieser Melodie in den Schlaf.
Meine liebste Tochter, du bist mein Ein und Alles. Mein Herz, mein Atem, meine Seele.
Ich habe dich von dem Moment an geliebt, als ich erfuhr, dass du in mir heranwächst. Das sollst du wissen, es ist wichtig.
Du bist so zart, deine Haut ist wie Porzellan.
Du bist noch keine fünf Monate alt, aber du bist schon jetzt wunderschön.
Meine liebste Tochter, hasse mich nicht für das, was ich tun muss. Denn ich habe keine andere Wahl.
Ich habe meine Geschichte in den letzten Monaten niedergeschrieben und lege sie dir in den Umschlag bei. Es steht dir frei, sie zu lesen. Fühle dich keinesfalls dazu verpflichtet. Ich möchte dich nicht aufwühlen, du sollst nicht meinetwegen leiden müssen. Aber es ist meine Pflicht als die Frau, die dich der Welt gegeben hat, es dir zu ermöglichen meine Geschichte zu erfahren.
Damit du es verstehst.
Lillian, meine liebste Tochter. Mein Herz wird dich begleiten, wohin auch immer dich dein Weg führen mag. Ich werde immer bei dir sein.
Sei stark und lebe dein Leben aus tiefstem Herzen, mit Lust und Freude, aber auch Bedacht. Lebe im Hier und Jetzt und gehe deinen Weg. Sieh nicht zurück, blicke stets nach vorn.
Ich liebe dich, mein kleines Mädchen, und hoffe, dass eines Tages der Moment kommen wird, in dem du mir wirst verzeihen können.
Ich werde für immer bei dir sein.
In ewiger Liebe,
deine Mutter,
Sarah