03.06.2007, 08:20
Die Stunden der mondhellen Nacht schienen nicht zu vergehen. Die Stille schien Sarahs Herz immer mehr zu quälen. Sie erhob sich langsam und schlich den dunklen Flur entlang, die Stufen hinunter. Ihre Hand zitterte, als sie den Telefonhörer ergriff und die Nummer zu wählen begann. Der Rezeptionist verband sie mürrisch mit Eduardos Zimmer. Dieser hob tatsächlich nach kaum einer Minute ab.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Flüsterte Sarah unter Tränen.
„Nein.“
„Es...es tut mir leid. Ich würde es verstehen, wenn du wieder nachhause fliegen möchtest...“
Eduardo seufzte. „Dir braucht nichts Leid zu tun. Es ist nicht deine Schuld.“
„Wirst du dich von mir verabschieden?“ Sarahs Herz schien mit jedem Schlag mehr zu schmerzen. Sie fasste sich leise schluchzend an die Brust.
„Nein.“
„Vielleicht ist es besser so. Ohne Abschied.“ Sie hielt sich am Telefonhörer fest, als würden ihre Beine sonst nachgeben.
„Sarah, ich habe dir mein Wort gegeben. Ich werde nicht ohne dich gehen. Ich liebe dich. Ich wüsste nicht, wie ich je wieder ohne dich leben sollte.“
Sie atmete tief durch. Eine kurze Erleichterung erfasste ihr Herz. „Ich liebe dich auch.“
„Ich werde nicht so schnell aufgeben.“
„Ich auch nicht.“ Sie lächelte leicht.
„Glaubst du, schaffst du es morgen zu mir ins Hotel?“
„Ãbermorgen wäre es besser. Aber ich werde versuchen anzurufen.“
Sie verabschiedeten sich leise. Sarah legte den Hörer auf. Sie wandte sich zum Stiegenaufgang und erstarrte, als sie eine Gestalt erblickte.
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Noah drehte das Flurlicht auf. „Möchtest du auch eine Tasse Tee?“
Sarah wusste selbst nicht, warum sie ihm in die Küche folgte.
„Du hast Eduardo angerufen, nicht?“ Fragte er, während er das Wasser aufsetzte.
Sie setzte sich seufzend zum Küchentisch und betrachtete die altmodische Blumenvase, ein Erbstück Ilses GroÃmutter. „Nein. Um diese Zeit telefoniere ich immer mit Svenja.“
Noah runzelte die Stirn. „Wie geht es ihm?“
„Was denkst du?“
Er drehte sich zu ihr. „So wie es mir in diesem Haus beinahe täglich geht?“
„Das ist etwas anderes.“
Noah öffnete den kleinen Kasten neben dem Herd. „Orange, Himbeere oder Kamille?“
„Wie bitte?“
„Welchen Tee möchtest du?“
Sarah fixierte die gehäkelte Tischdecke. „Das wüsstest du, wärst du je da gewesen.“
„Kamille?“
„Orange.“
Er nickte. „Das wäre auch meine Wahl gewesen.“
„Die meisten Menschen mögen Orangentee.“
„Ich kann verstehen, wieso.“ Noah lehrte heiÃes Wasser in zwei Tassen und tunkte zwei Teebeutel in jede. SchlieÃlich setzte er sich Sarah gegenüber und reichte ihr das dampfende Getränk. „Wie hoch stehen wohl die Chancen, dass du je wieder ein normales Gespräch mit mir führen wirst?“
Sarah umfasste die heiÃe Tasse mit ihren Händen. „Worüber willst du denn mit mir sprechen? Willst du mir wertvolle Tipps für mein Leben geben? Vielleicht, dass ich niemals mit meinen Affären schlafen sollte, wenn meine elfjährige Tochter jede Sekunde das Zimmer betreten könnte?“
„Es geht also noch immer darum?“
„Worum genau meinst du? Dass ich im zarten Alter erfahren musste wie schnell zwei Menschen wieder in Kleidung schlüpfen können? Oder wie sehr man leiden muss, wenn man nicht auf sein Schicksal hört? Wusstest du von Mutters wildromantischer Beziehung vor dir? Ich wünschte um ihrer Willen, sie hätte auf ihr Schicksal gehört! Nur weil ihr die Liebe nur Schmerz gebracht hat, denkt sie, ich wäre genauso dumm mich in mein Unglück zu stürzen. Aber ich möchte meine Liebe leben und nicht davor davon laufen um an einen Mann zu geraten, der vielleicht in das Vorstellungsbild meiner Umwelt passt, aber mich nicht glücklich macht! Sie will gar nicht, dass ich glücklich bin!“ Sarah biss sich auf die Unterlippe. Die Tränen tropften auf den Rand der Teetasse.
Noah runzelte die Stirn. „Maja sorgt sich um dich. Du musst versuchen das alles von ihrer Seite aus zu betrachten. Du bist unser einziges Kind. Sie hat Angst um dich.“
„Ich muss meine eigenen Erfahrungen machen! Zudem ist meine Mutter wohl die letzte, die als mein Vorbild dienen könnte. Ihre Urteilskraft ist nicht gerade die beste...“
„Sarah, ich verstehe, dass du wütend auf sie bist. Aber sie meint es nur gut. Sie will nur dein Bestes.“
„Wie kann es mein Bestes sein, wenn ich nicht bei Eduardo sein kann? Ich liebe ihn, ich liebe ihn so sehr, dass es schmerzt. Ich will nicht warten.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Alles was ich will, ist bei ihm zu sein. Ein Leben ohne ihn...das wäre kein Leben. Alles wäre nur noch farblos, kalt.“
Noah betrachtete sie aufmerksam. „Du musst ihn wirklich sehr lieben.“
„Mehr als alles andere. Ich wünsche mir nichts anderes als bei ihm zu sein.“
„Aber warum müsst ihr schon jetzt heiraten und nicht erst in zwei Jahren?“
Sarah schüttelte den Kopf. „Ich ertrage es nicht mehr. Die Sehnsucht frisst mich auf. Das lange Warten auf seine Besuche. Die Briefe und Anrufe. Gibt es einen gröÃeren Liebesbeweis als das? Eduardo ist der attraktivste Mann, der mir jemals begegnet ist. Er ist charmant und einfach unglaublich.“ Sarahs Augen begannen erneut zu tränen. „Es wäre ihm ein leichtes eine andere zu finden. Eine, die viel schöner und klüger ist als ich. Doch er will mich. Nur mich. Sonst würde er das nicht alles auf sich nehmen. Weder die wöchentlichen Briefe, noch die teuren Anrufe und Reisen. Er wäre auch nicht so ruhig geblieben, als Mutter und GroÃmama ihn mit so viel Verachtung behandelten. Aber er ist es. Für mich. Für uns. Er ist alles für mich. Eduardo hat mir eine neue Seite des Lebens gezeigt. Ich...ich gehöre nicht hier her. Mein Platz ist bei ihm...in Kolumbien. Ich...ich würde mich nicht aufgeben und untätig herumsitzen. Ich würde eine Ausbildung machen und arbeiten. Würde mich auch ehrenamtlich betätigen. Ich würde ihn nicht ausnützen, genauso wenig wie er mich jemals ausnützen würde. Wir brauchen einander. Er braucht mich und ich brauche ihn. Mehr als alles andere. Er ist mein Atem, meine Seele...“ Sarah hielt inne. Noah betrachtete sie noch immer konzentriert. Sie räusperte sich leise und trank von ihrem Tee. Warum hatten sie ihre Emotionen so überwältigt? Ihr Vater sollte sich keinesfalls als Teil ihres Lebens betrachten.
„Danke.“
Sie runzelte die Stirn.
Noah lächelte leicht. „Danke, dass du so ehrlich warst. Ich freue mich wirklich für dich, dass du so eine Liebe gefunden hast. Und ich finde Eduardo sehr nett, er ist mir sympathisch, und das nicht nur, weil deine GroÃmutter ihn nicht leiden kann...“ Er zwinkerte. „Ich habe gespürt, wie du die letzten Monate gelitten hast. Ich wusste, dass da mehr dahinter steckt. Ich wollte dir so gerne helfen, doch du hast mich nicht an dich heran gelassen...“ Noah seufzte leise. „Sarah...du bist meine Tochter, ob dir das gefällt oder nicht, seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Ich weiÃ, ich bin nicht perfekt, habe viele Fehler gemacht. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Chance, oder zumindest ein kleines Lächeln. Es tut mir leid, wie sehr ihr damals meinetwegen gelitten habt. Vor allem du. Ich war ein Feigling. Hatte Angst dich anzurufen, mich mit all dem auseinanderzusetzen. Doch du bist mir immer wichtig gewesen. Bitte glaub mir das.“ Er betrachtete ihre unveränderten Gesichtszüge. „Ich weiÃ, es ist zu spät. Alles, was ich möchte, ist, dass du mit mir Frieden schlieÃt. Dass du mir vergibst, kann ich nicht verlangen. So etwas braucht Zeit.“
Sarah atmete tief durch. „Ich werde es versuchen...wenn du mir versprichst, und es muss dir ernst sein, dass du ihr nie wieder Schmerz zufügen wirst.“
Er nickte. „Ich weiÃ, dass ich nicht ihre groÃe Liebe bin...es niemals war...doch sie ist es für mich.“
Sarah wollte etwas erwidern, biss sich jedoch schweigend auf die Unterlippe. Sie glaubte seinen Worten nicht. Doch zu jener Stunde schloss sie nicht aus, dass er möglicherweise wirklich daran glaubte. Noah würde Maja erneut verletzen, früher oder später. So war es immer gewesen und würde es immer sein. Doch diesmal würden Sarah und ihre GroÃmutter nicht mehr darunter leiden. Wie auch Ilse gesagt hatte, musste Maja lernen, dass es nichts half, gegen ihr Schicksal zu kämpfen. Denn dann würde es sich wenden, wie ein Blatt im Wind. Und niemals zum Guten. Wie Ilse gesagt hatte. Du hast nur eine gewisse Anzahl an Chancen. Läufst du stets davon, hast du eines Tages verloren. Maika und Maja hielten diese Dinge für blanken Unsinn. Sie vertraten die Meinung, dass man selbst allein Macht über seine Zukunft hätte. Sarahs Mutter hatte sogar ein paar Mal behauptet, Sarah verbrächte zu viel Zeit mit ihrer GroÃmutter. „So, du kannst also den ganzen lieben Tag einfach herumsitzen, da dir deine Bestimmung sowieso zufliegt?“
„Nein, so ist es nicht. Aber uns allen ist ein gewisser Lebensweg vorgegeben. Es gibt mehrere Pfade, wir müssen den richtigen finden um glücklich werden zu können. Das Schicksal gibt uns immer wieder Zeichen, Hinweise.“
„Du sprichst darüber, als wäre es eine Person.“ Hatte ihre Mutter erwidert.
„Es ist mehr als das. Das tiefste Innere unserer Seele. Es weià mehr als unser Verstand. Wir müssen lernen es zu hören.“
Sarah gefiel der tiefe Glaube an das Schicksal und die Kraft der Seelen. Er gab ihr Hoffnung. Und sie war sich sicher dadurch schneller erwachsen geworden zu sein. Sarah sehnte sich nicht nach den Dingen, nach welchen sich die meisten sechzehnjährigen Mädchen sehnten.
Auch wenn Ilse sich vehement dagegen sträubte, musste sie verstehen, dass ihre Enkeltochter ihr Schicksal anzunehmen hatte. Sich nichts sehnlicher wünschte als das. Sie liebte Eduardo und würde mit ihm gehen, möge geschehen, was wolle. Sarah fixierte die Teetasse.
„Sarah?“
Sie sah hoch.
„Sei nicht wütend auf deine Mutter...und deine GroÃmutter. Möglicherweise hast du Recht und sie versuchen deinem Schicksal im Wege zu stehen. Doch sie machen dies gewiss nur aus Sorge und aus keiner bösen Absicht heraus. Gib ihnen Zeit. Sprich nochmals mit ihnen. Ich werde dich unterstützen. Du hattest Recht, ich habe noch nie etwas für dich getan, doch ich verspreche dir, dass ich diesmal für dich da sein werde. Und ich bin mir sicher, wenn die beiden Eduardo erst besser kennen gelernt haben, werden sie ihn mögen und nicht mehr gegen eure Beziehung sein. Sie sind keine schlechten Menschen...“
„Sie verstehen es nicht...sie verstehen mich einfach nicht...“ Sarah vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Sie vernahm die leisen Schritte kaum. Sarah zuckte zusammen, als er sich neben sie auf die Küchenbank setzte und sie in seine Arme schloss. Sie presste ihr Gesicht kraftlos an seine Brust und gab der Flut salziger Tränen nach. Noah strich ihr sanft durchs Haar. „Meine Kleine...“
Die kommenden Tage verliefen schleppend und schmerzhaft. Sarah versuchte mehrmals mit Maja und Ilse zu sprechen, die beiden blieben jedoch bei ihrem Standpunkt und verboten ihr sich mit Eduardo zu treffen. Sarah traf ihn dennoch, vor der Schule, danach oder in Pausen. Sie redeten lange, oder lagen einfach nur in den Armen des anderen. Die Situation schien sie stärker zusammenzuschweiÃen als alles zuvor. Eduardo rief seinen Vater an und teilte ihm mit, dass er vor Jänner nicht zurück kommen würde.
Noah hielt Wort und versuchte mit Maja zu sprechen, die beiden stritten immer öfters. SchlieÃlich kam es soweit, dass er ein Abendessen in einem Restaurant arrangierte, zu welchem er auch Ilse und Eduardo einlud. Es war ein feines Restaurant, die sehr auf ihren Ruf bedachten Frauen mussten zumindest mit ruhiger Stimme kommunizieren. Dies führte schlieÃlich zu einer weiteren groÃen Auseinandersetzung nach dem Essen, vor dem Lokal. Sarah verfiel immer mehr. Sie aà und sprach kaum mehr. Die Situation eskalierte schlieÃlich endgültig, als Eduardo eines stürmischen Abends spontan und überraschend an der Haustür läutete. Maja lieà ihn ein, kühl, aber auch ein wenig erleichtert, da Sarah beinahe die ganze Woche in ihrem Bett verbracht hatte und nur mehr ein Schatten ihrer selbst zu sein schien. Der Abend begann ungewöhnlich positiv, endete jedoch in der heftigsten und für Jahre letzten Auseinandersetzung Majas und Eduardos. Während Sarah laut schluchzend auf den Teppichboden des Vorzimmers sank und ihm nachrief, verlieà er das Haus und lieà die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Sarah wollte ihm nach, ihre Mutter rief sie jedoch zurück. Majas Stimme klang kälter als jemals zuvor. Sarah blickte aus dem Fenster wenige Meter neben der Tür, welches Aussicht auf den Vorgarten bot. Eduardo stieà am Gartentor fast mit Noah, der gerade von der Arbeit kam, zusammen.
„Sarah?“ Maja deutete ihr mit in die Küche zu kommen, doch Sarah lief die Treppe hoch und sperrte sich in ihr Zimmer. Nach fast einer Stunde vernahm sie die Hauseingangstür. Im selben Moment klopfte es an ihre Tür. Majas Stimme war erst laut und wütend, wurde schlieÃlich sanfter, weinerlich, fast hysterisch.
Sarah presste das Gesicht an das Polster und schluchzte leise. Erst als es still im Haus geworden war, ging sie zu ihrem Schreibtisch. Unter dem schwachen Schein ihrer Lampe schrieb sie einen langen Brief. Sie steckte ihn in ein Kuvert, welches sie auf ihr Kissen legte.
Sarah stopfte wenig Kleidung, ihr gesamtes Geld, ihren Reisepass und wenig Erinnerungsstücke in einen Rucksack und sperrte die Zimmertür leise auf. Sie schlich die Treppe hinunter. Als sie zur Tür laufen wollte, stellte sie mit Schrecken fest, dass in der Küche Licht brannte. Ihr Herz begann zu rasen, ein Schwindel erfüllte sie. Sie blickte von der Haustür zu dem Gang, welcher zur Küche führte. Sarah atmete tief durch. SchlieÃlich näherte sie sich leise dem beleuchteten Raum. Noah saà am Küchentisch. Sein Gesicht auf die Hände gestützt. Er wirkte nachdenklich. Vor ihm stand ein kleines Glas mit Flüssigkeit. Daneben eine Flasche. Wodka. Ilses Wodka. Sarah runzelte die Stirn und betrat den Raum. Er sah nur kurz hoch, fixierte das Glas. „Möchtest du weglaufen?“ Fragte er.
Sie biss sich zögernd auf die Unterlippe. Es war offensichtlich. Doch er erwartete keine Antwort. „Du liebst diesen Eduardo?“
„Mehr als alles andere.“
Noah wandte sich zu ihr. Seine Augen waren gerötet von seiner Schlaflosigkeit. „Du möchtest ihn wirklich heiraten und mit ihm gehen?“
Sarah runzelte die Stirn. „Mehr als alles andere...“ Antwortete sie erneut. „Von ganzem Herzen.“
Noah nickte leicht und fixierte erneut das Glas, welches er nun in seiner rechten Hand drehte. „Du versprichst mir, dich zu melden, sollte sich dein Schicksal doch als ein anderes erweisen? Du weiÃt, dass du hier Menschen hast, die dich jeder Zeit wieder willkommen heiÃen und dich unterstützen werden?“
Sarah musterte ihn verwirrt.
„Morgen...“ Noah seufzte leise und trank den letzten Rest aus dem Glas. Er wandte sich wieder zu ihr. „Deine Mutter beginnt morgen bereits um sieben zu arbeiten. Wir treffen Eduardo um neun Uhr.“
Sarahs Herzschlag wurde schneller. Sie kniff sich am Arm um zu prüfen, ob sie träumte. „Mutter und GroÃmama würden mich dafür hassen...“
Ihr Vater wandte sich wieder von ihr ab und goss sich neuen Wodka in das Glas.
„Sie werden mich dafür hassen. Dir werden sie vergeben, sie werden es verstehen. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einem Monat. Aber sie werden es verstehen.“ Er leerte das Glas in einem Zug.
„Vater...“ Sarah runzelte die Stirn.
Noah erhob sich langsam und musterte sie mit einem leichten Lächeln. „Du hast mich schon lange nicht mehr so genannt.“
„Warum...warum tust du das?“
„Weil es dich glücklich macht.“
„Bist du für unsere Hochzeit?“
„Ich bin gegen eine unglückliche Tochter. Eduardo und ich trafen uns heute zufällig, als er gerade gehen wollte. Ich lud ihn in das Cafe an der nächsten Kreuzung ein. Wir unterhielten uns lange. Er versicherte mir, wie sehr er dich liebe und dass er dir der beste Mann sein würde.“ Noah lächelte. „Entweder er ist der beste Schauspieler der Welt, oder es ist ihm tatsächlich ernst. Nun liegt es an dir...“
Am Freitag, den 22. Dezember 1978, um zehn Uhr Vormittag unterschrieb Noah Carlson das Dokument, welches seiner sechzehnjährigen Tochter Sarah Turunen die Berechtigung gab zu heiraten. Die junge Frau verabschiedete sich danach von ihrem Vater und gab ihm drei Briefe, welche er versprach abends, nach seiner Arbeit, mit welcher er an jenem Vormittag später beginnen würde, auszuhändigen: an Maja, Ilse und Maika.
Am frühen Nachmittag desselben Tages saà Sarah Turunen de Dominguez in der Flughafenhalle, den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Als der Flug nach New York, wo sie umsteigen würden, aufgerufen wurde, nahm Eduardo sie an der Hand und küsste sie sanft auf die geröteten Wangen, ehe sie sich der Menschenschlange anschlossen. Kurz bevor sie an der Reihe waren, sah Sarah aus dem Fenster und schien geradewegs in die Augen eines geradezu anmutigen Vogels zu blicken. Erneut schienen diese zu ihr zu sprechen. Tröstend. Mut zusprechend. Vielleicht auch hoffnungsvoll. Sarah lächelte, eine Wärme erfüllte ihr Herz, als das Tier plötzlich die Flügel ausbreitete und von dem verschneiten Ast in den tiefblauen Himmel abhob. Tränen der Freude brannten in ihren Augen. Sarah wandte sich ab und kuschelte sich an Eduardo. Niemals war sie sicherer gewesen, das Richtige zu tun. Dem richtigen Pfad, ihrem Schicksal, ihrer groÃen und einzigen Liebe, zu folgen.
Die Federn des Vogels waren geschunden von der Kälte und Kraft des Schneeballs, welchen ein kleines Kind auf ihn geworfen hatte. Er verlieà seinen Ast, seinen Baum, sein zuhause um sich vor weiteren Attacken der lachenden Kinder im Park gegenüber dem Flughafen zu schützen.
Manche Dinge sind anders, als sie scheinen. Auch das Offensichtliche scheint für den Menschen oft unsichtbar. Oft sieht er es aber auch nicht, weil er es nicht sehen möchte.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Flüsterte Sarah unter Tränen.
„Nein.“
„Es...es tut mir leid. Ich würde es verstehen, wenn du wieder nachhause fliegen möchtest...“
Eduardo seufzte. „Dir braucht nichts Leid zu tun. Es ist nicht deine Schuld.“
„Wirst du dich von mir verabschieden?“ Sarahs Herz schien mit jedem Schlag mehr zu schmerzen. Sie fasste sich leise schluchzend an die Brust.
„Nein.“
„Vielleicht ist es besser so. Ohne Abschied.“ Sie hielt sich am Telefonhörer fest, als würden ihre Beine sonst nachgeben.
„Sarah, ich habe dir mein Wort gegeben. Ich werde nicht ohne dich gehen. Ich liebe dich. Ich wüsste nicht, wie ich je wieder ohne dich leben sollte.“
Sie atmete tief durch. Eine kurze Erleichterung erfasste ihr Herz. „Ich liebe dich auch.“
„Ich werde nicht so schnell aufgeben.“
„Ich auch nicht.“ Sie lächelte leicht.
„Glaubst du, schaffst du es morgen zu mir ins Hotel?“
„Ãbermorgen wäre es besser. Aber ich werde versuchen anzurufen.“
Sie verabschiedeten sich leise. Sarah legte den Hörer auf. Sie wandte sich zum Stiegenaufgang und erstarrte, als sie eine Gestalt erblickte.
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Noah drehte das Flurlicht auf. „Möchtest du auch eine Tasse Tee?“
Sarah wusste selbst nicht, warum sie ihm in die Küche folgte.
„Du hast Eduardo angerufen, nicht?“ Fragte er, während er das Wasser aufsetzte.
Sie setzte sich seufzend zum Küchentisch und betrachtete die altmodische Blumenvase, ein Erbstück Ilses GroÃmutter. „Nein. Um diese Zeit telefoniere ich immer mit Svenja.“
Noah runzelte die Stirn. „Wie geht es ihm?“
„Was denkst du?“
Er drehte sich zu ihr. „So wie es mir in diesem Haus beinahe täglich geht?“
„Das ist etwas anderes.“
Noah öffnete den kleinen Kasten neben dem Herd. „Orange, Himbeere oder Kamille?“
„Wie bitte?“
„Welchen Tee möchtest du?“
Sarah fixierte die gehäkelte Tischdecke. „Das wüsstest du, wärst du je da gewesen.“
„Kamille?“
„Orange.“
Er nickte. „Das wäre auch meine Wahl gewesen.“
„Die meisten Menschen mögen Orangentee.“
„Ich kann verstehen, wieso.“ Noah lehrte heiÃes Wasser in zwei Tassen und tunkte zwei Teebeutel in jede. SchlieÃlich setzte er sich Sarah gegenüber und reichte ihr das dampfende Getränk. „Wie hoch stehen wohl die Chancen, dass du je wieder ein normales Gespräch mit mir führen wirst?“
Sarah umfasste die heiÃe Tasse mit ihren Händen. „Worüber willst du denn mit mir sprechen? Willst du mir wertvolle Tipps für mein Leben geben? Vielleicht, dass ich niemals mit meinen Affären schlafen sollte, wenn meine elfjährige Tochter jede Sekunde das Zimmer betreten könnte?“
„Es geht also noch immer darum?“
„Worum genau meinst du? Dass ich im zarten Alter erfahren musste wie schnell zwei Menschen wieder in Kleidung schlüpfen können? Oder wie sehr man leiden muss, wenn man nicht auf sein Schicksal hört? Wusstest du von Mutters wildromantischer Beziehung vor dir? Ich wünschte um ihrer Willen, sie hätte auf ihr Schicksal gehört! Nur weil ihr die Liebe nur Schmerz gebracht hat, denkt sie, ich wäre genauso dumm mich in mein Unglück zu stürzen. Aber ich möchte meine Liebe leben und nicht davor davon laufen um an einen Mann zu geraten, der vielleicht in das Vorstellungsbild meiner Umwelt passt, aber mich nicht glücklich macht! Sie will gar nicht, dass ich glücklich bin!“ Sarah biss sich auf die Unterlippe. Die Tränen tropften auf den Rand der Teetasse.
Noah runzelte die Stirn. „Maja sorgt sich um dich. Du musst versuchen das alles von ihrer Seite aus zu betrachten. Du bist unser einziges Kind. Sie hat Angst um dich.“
„Ich muss meine eigenen Erfahrungen machen! Zudem ist meine Mutter wohl die letzte, die als mein Vorbild dienen könnte. Ihre Urteilskraft ist nicht gerade die beste...“
„Sarah, ich verstehe, dass du wütend auf sie bist. Aber sie meint es nur gut. Sie will nur dein Bestes.“
„Wie kann es mein Bestes sein, wenn ich nicht bei Eduardo sein kann? Ich liebe ihn, ich liebe ihn so sehr, dass es schmerzt. Ich will nicht warten.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Alles was ich will, ist bei ihm zu sein. Ein Leben ohne ihn...das wäre kein Leben. Alles wäre nur noch farblos, kalt.“
Noah betrachtete sie aufmerksam. „Du musst ihn wirklich sehr lieben.“
„Mehr als alles andere. Ich wünsche mir nichts anderes als bei ihm zu sein.“
„Aber warum müsst ihr schon jetzt heiraten und nicht erst in zwei Jahren?“
Sarah schüttelte den Kopf. „Ich ertrage es nicht mehr. Die Sehnsucht frisst mich auf. Das lange Warten auf seine Besuche. Die Briefe und Anrufe. Gibt es einen gröÃeren Liebesbeweis als das? Eduardo ist der attraktivste Mann, der mir jemals begegnet ist. Er ist charmant und einfach unglaublich.“ Sarahs Augen begannen erneut zu tränen. „Es wäre ihm ein leichtes eine andere zu finden. Eine, die viel schöner und klüger ist als ich. Doch er will mich. Nur mich. Sonst würde er das nicht alles auf sich nehmen. Weder die wöchentlichen Briefe, noch die teuren Anrufe und Reisen. Er wäre auch nicht so ruhig geblieben, als Mutter und GroÃmama ihn mit so viel Verachtung behandelten. Aber er ist es. Für mich. Für uns. Er ist alles für mich. Eduardo hat mir eine neue Seite des Lebens gezeigt. Ich...ich gehöre nicht hier her. Mein Platz ist bei ihm...in Kolumbien. Ich...ich würde mich nicht aufgeben und untätig herumsitzen. Ich würde eine Ausbildung machen und arbeiten. Würde mich auch ehrenamtlich betätigen. Ich würde ihn nicht ausnützen, genauso wenig wie er mich jemals ausnützen würde. Wir brauchen einander. Er braucht mich und ich brauche ihn. Mehr als alles andere. Er ist mein Atem, meine Seele...“ Sarah hielt inne. Noah betrachtete sie noch immer konzentriert. Sie räusperte sich leise und trank von ihrem Tee. Warum hatten sie ihre Emotionen so überwältigt? Ihr Vater sollte sich keinesfalls als Teil ihres Lebens betrachten.
„Danke.“
Sie runzelte die Stirn.
Noah lächelte leicht. „Danke, dass du so ehrlich warst. Ich freue mich wirklich für dich, dass du so eine Liebe gefunden hast. Und ich finde Eduardo sehr nett, er ist mir sympathisch, und das nicht nur, weil deine GroÃmutter ihn nicht leiden kann...“ Er zwinkerte. „Ich habe gespürt, wie du die letzten Monate gelitten hast. Ich wusste, dass da mehr dahinter steckt. Ich wollte dir so gerne helfen, doch du hast mich nicht an dich heran gelassen...“ Noah seufzte leise. „Sarah...du bist meine Tochter, ob dir das gefällt oder nicht, seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Ich weiÃ, ich bin nicht perfekt, habe viele Fehler gemacht. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Chance, oder zumindest ein kleines Lächeln. Es tut mir leid, wie sehr ihr damals meinetwegen gelitten habt. Vor allem du. Ich war ein Feigling. Hatte Angst dich anzurufen, mich mit all dem auseinanderzusetzen. Doch du bist mir immer wichtig gewesen. Bitte glaub mir das.“ Er betrachtete ihre unveränderten Gesichtszüge. „Ich weiÃ, es ist zu spät. Alles, was ich möchte, ist, dass du mit mir Frieden schlieÃt. Dass du mir vergibst, kann ich nicht verlangen. So etwas braucht Zeit.“
Sarah atmete tief durch. „Ich werde es versuchen...wenn du mir versprichst, und es muss dir ernst sein, dass du ihr nie wieder Schmerz zufügen wirst.“
Er nickte. „Ich weiÃ, dass ich nicht ihre groÃe Liebe bin...es niemals war...doch sie ist es für mich.“
Sarah wollte etwas erwidern, biss sich jedoch schweigend auf die Unterlippe. Sie glaubte seinen Worten nicht. Doch zu jener Stunde schloss sie nicht aus, dass er möglicherweise wirklich daran glaubte. Noah würde Maja erneut verletzen, früher oder später. So war es immer gewesen und würde es immer sein. Doch diesmal würden Sarah und ihre GroÃmutter nicht mehr darunter leiden. Wie auch Ilse gesagt hatte, musste Maja lernen, dass es nichts half, gegen ihr Schicksal zu kämpfen. Denn dann würde es sich wenden, wie ein Blatt im Wind. Und niemals zum Guten. Wie Ilse gesagt hatte. Du hast nur eine gewisse Anzahl an Chancen. Läufst du stets davon, hast du eines Tages verloren. Maika und Maja hielten diese Dinge für blanken Unsinn. Sie vertraten die Meinung, dass man selbst allein Macht über seine Zukunft hätte. Sarahs Mutter hatte sogar ein paar Mal behauptet, Sarah verbrächte zu viel Zeit mit ihrer GroÃmutter. „So, du kannst also den ganzen lieben Tag einfach herumsitzen, da dir deine Bestimmung sowieso zufliegt?“
„Nein, so ist es nicht. Aber uns allen ist ein gewisser Lebensweg vorgegeben. Es gibt mehrere Pfade, wir müssen den richtigen finden um glücklich werden zu können. Das Schicksal gibt uns immer wieder Zeichen, Hinweise.“
„Du sprichst darüber, als wäre es eine Person.“ Hatte ihre Mutter erwidert.
„Es ist mehr als das. Das tiefste Innere unserer Seele. Es weià mehr als unser Verstand. Wir müssen lernen es zu hören.“
Sarah gefiel der tiefe Glaube an das Schicksal und die Kraft der Seelen. Er gab ihr Hoffnung. Und sie war sich sicher dadurch schneller erwachsen geworden zu sein. Sarah sehnte sich nicht nach den Dingen, nach welchen sich die meisten sechzehnjährigen Mädchen sehnten.
Auch wenn Ilse sich vehement dagegen sträubte, musste sie verstehen, dass ihre Enkeltochter ihr Schicksal anzunehmen hatte. Sich nichts sehnlicher wünschte als das. Sie liebte Eduardo und würde mit ihm gehen, möge geschehen, was wolle. Sarah fixierte die Teetasse.
„Sarah?“
Sie sah hoch.
„Sei nicht wütend auf deine Mutter...und deine GroÃmutter. Möglicherweise hast du Recht und sie versuchen deinem Schicksal im Wege zu stehen. Doch sie machen dies gewiss nur aus Sorge und aus keiner bösen Absicht heraus. Gib ihnen Zeit. Sprich nochmals mit ihnen. Ich werde dich unterstützen. Du hattest Recht, ich habe noch nie etwas für dich getan, doch ich verspreche dir, dass ich diesmal für dich da sein werde. Und ich bin mir sicher, wenn die beiden Eduardo erst besser kennen gelernt haben, werden sie ihn mögen und nicht mehr gegen eure Beziehung sein. Sie sind keine schlechten Menschen...“
„Sie verstehen es nicht...sie verstehen mich einfach nicht...“ Sarah vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Sie vernahm die leisen Schritte kaum. Sarah zuckte zusammen, als er sich neben sie auf die Küchenbank setzte und sie in seine Arme schloss. Sie presste ihr Gesicht kraftlos an seine Brust und gab der Flut salziger Tränen nach. Noah strich ihr sanft durchs Haar. „Meine Kleine...“
Die kommenden Tage verliefen schleppend und schmerzhaft. Sarah versuchte mehrmals mit Maja und Ilse zu sprechen, die beiden blieben jedoch bei ihrem Standpunkt und verboten ihr sich mit Eduardo zu treffen. Sarah traf ihn dennoch, vor der Schule, danach oder in Pausen. Sie redeten lange, oder lagen einfach nur in den Armen des anderen. Die Situation schien sie stärker zusammenzuschweiÃen als alles zuvor. Eduardo rief seinen Vater an und teilte ihm mit, dass er vor Jänner nicht zurück kommen würde.
Noah hielt Wort und versuchte mit Maja zu sprechen, die beiden stritten immer öfters. SchlieÃlich kam es soweit, dass er ein Abendessen in einem Restaurant arrangierte, zu welchem er auch Ilse und Eduardo einlud. Es war ein feines Restaurant, die sehr auf ihren Ruf bedachten Frauen mussten zumindest mit ruhiger Stimme kommunizieren. Dies führte schlieÃlich zu einer weiteren groÃen Auseinandersetzung nach dem Essen, vor dem Lokal. Sarah verfiel immer mehr. Sie aà und sprach kaum mehr. Die Situation eskalierte schlieÃlich endgültig, als Eduardo eines stürmischen Abends spontan und überraschend an der Haustür läutete. Maja lieà ihn ein, kühl, aber auch ein wenig erleichtert, da Sarah beinahe die ganze Woche in ihrem Bett verbracht hatte und nur mehr ein Schatten ihrer selbst zu sein schien. Der Abend begann ungewöhnlich positiv, endete jedoch in der heftigsten und für Jahre letzten Auseinandersetzung Majas und Eduardos. Während Sarah laut schluchzend auf den Teppichboden des Vorzimmers sank und ihm nachrief, verlieà er das Haus und lieà die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Sarah wollte ihm nach, ihre Mutter rief sie jedoch zurück. Majas Stimme klang kälter als jemals zuvor. Sarah blickte aus dem Fenster wenige Meter neben der Tür, welches Aussicht auf den Vorgarten bot. Eduardo stieà am Gartentor fast mit Noah, der gerade von der Arbeit kam, zusammen.
„Sarah?“ Maja deutete ihr mit in die Küche zu kommen, doch Sarah lief die Treppe hoch und sperrte sich in ihr Zimmer. Nach fast einer Stunde vernahm sie die Hauseingangstür. Im selben Moment klopfte es an ihre Tür. Majas Stimme war erst laut und wütend, wurde schlieÃlich sanfter, weinerlich, fast hysterisch.
Sarah presste das Gesicht an das Polster und schluchzte leise. Erst als es still im Haus geworden war, ging sie zu ihrem Schreibtisch. Unter dem schwachen Schein ihrer Lampe schrieb sie einen langen Brief. Sie steckte ihn in ein Kuvert, welches sie auf ihr Kissen legte.
Sarah stopfte wenig Kleidung, ihr gesamtes Geld, ihren Reisepass und wenig Erinnerungsstücke in einen Rucksack und sperrte die Zimmertür leise auf. Sie schlich die Treppe hinunter. Als sie zur Tür laufen wollte, stellte sie mit Schrecken fest, dass in der Küche Licht brannte. Ihr Herz begann zu rasen, ein Schwindel erfüllte sie. Sie blickte von der Haustür zu dem Gang, welcher zur Küche führte. Sarah atmete tief durch. SchlieÃlich näherte sie sich leise dem beleuchteten Raum. Noah saà am Küchentisch. Sein Gesicht auf die Hände gestützt. Er wirkte nachdenklich. Vor ihm stand ein kleines Glas mit Flüssigkeit. Daneben eine Flasche. Wodka. Ilses Wodka. Sarah runzelte die Stirn und betrat den Raum. Er sah nur kurz hoch, fixierte das Glas. „Möchtest du weglaufen?“ Fragte er.
Sie biss sich zögernd auf die Unterlippe. Es war offensichtlich. Doch er erwartete keine Antwort. „Du liebst diesen Eduardo?“
„Mehr als alles andere.“
Noah wandte sich zu ihr. Seine Augen waren gerötet von seiner Schlaflosigkeit. „Du möchtest ihn wirklich heiraten und mit ihm gehen?“
Sarah runzelte die Stirn. „Mehr als alles andere...“ Antwortete sie erneut. „Von ganzem Herzen.“
Noah nickte leicht und fixierte erneut das Glas, welches er nun in seiner rechten Hand drehte. „Du versprichst mir, dich zu melden, sollte sich dein Schicksal doch als ein anderes erweisen? Du weiÃt, dass du hier Menschen hast, die dich jeder Zeit wieder willkommen heiÃen und dich unterstützen werden?“
Sarah musterte ihn verwirrt.
„Morgen...“ Noah seufzte leise und trank den letzten Rest aus dem Glas. Er wandte sich wieder zu ihr. „Deine Mutter beginnt morgen bereits um sieben zu arbeiten. Wir treffen Eduardo um neun Uhr.“
Sarahs Herzschlag wurde schneller. Sie kniff sich am Arm um zu prüfen, ob sie träumte. „Mutter und GroÃmama würden mich dafür hassen...“
Ihr Vater wandte sich wieder von ihr ab und goss sich neuen Wodka in das Glas.
„Sie werden mich dafür hassen. Dir werden sie vergeben, sie werden es verstehen. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einem Monat. Aber sie werden es verstehen.“ Er leerte das Glas in einem Zug.
„Vater...“ Sarah runzelte die Stirn.
Noah erhob sich langsam und musterte sie mit einem leichten Lächeln. „Du hast mich schon lange nicht mehr so genannt.“
„Warum...warum tust du das?“
„Weil es dich glücklich macht.“
„Bist du für unsere Hochzeit?“
„Ich bin gegen eine unglückliche Tochter. Eduardo und ich trafen uns heute zufällig, als er gerade gehen wollte. Ich lud ihn in das Cafe an der nächsten Kreuzung ein. Wir unterhielten uns lange. Er versicherte mir, wie sehr er dich liebe und dass er dir der beste Mann sein würde.“ Noah lächelte. „Entweder er ist der beste Schauspieler der Welt, oder es ist ihm tatsächlich ernst. Nun liegt es an dir...“
Am Freitag, den 22. Dezember 1978, um zehn Uhr Vormittag unterschrieb Noah Carlson das Dokument, welches seiner sechzehnjährigen Tochter Sarah Turunen die Berechtigung gab zu heiraten. Die junge Frau verabschiedete sich danach von ihrem Vater und gab ihm drei Briefe, welche er versprach abends, nach seiner Arbeit, mit welcher er an jenem Vormittag später beginnen würde, auszuhändigen: an Maja, Ilse und Maika.
Am frühen Nachmittag desselben Tages saà Sarah Turunen de Dominguez in der Flughafenhalle, den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Als der Flug nach New York, wo sie umsteigen würden, aufgerufen wurde, nahm Eduardo sie an der Hand und küsste sie sanft auf die geröteten Wangen, ehe sie sich der Menschenschlange anschlossen. Kurz bevor sie an der Reihe waren, sah Sarah aus dem Fenster und schien geradewegs in die Augen eines geradezu anmutigen Vogels zu blicken. Erneut schienen diese zu ihr zu sprechen. Tröstend. Mut zusprechend. Vielleicht auch hoffnungsvoll. Sarah lächelte, eine Wärme erfüllte ihr Herz, als das Tier plötzlich die Flügel ausbreitete und von dem verschneiten Ast in den tiefblauen Himmel abhob. Tränen der Freude brannten in ihren Augen. Sarah wandte sich ab und kuschelte sich an Eduardo. Niemals war sie sicherer gewesen, das Richtige zu tun. Dem richtigen Pfad, ihrem Schicksal, ihrer groÃen und einzigen Liebe, zu folgen.
Die Federn des Vogels waren geschunden von der Kälte und Kraft des Schneeballs, welchen ein kleines Kind auf ihn geworfen hatte. Er verlieà seinen Ast, seinen Baum, sein zuhause um sich vor weiteren Attacken der lachenden Kinder im Park gegenüber dem Flughafen zu schützen.
Manche Dinge sind anders, als sie scheinen. Auch das Offensichtliche scheint für den Menschen oft unsichtbar. Oft sieht er es aber auch nicht, weil er es nicht sehen möchte.