31.08.2007, 11:43
42. Teil
Achtzehn Jahre nachdem Sarah Turunen de Dominguez mit Wehen, und Freudentränen in den Augen, in das noble Privatkrankenhaus Bogotás gebracht wurde, erwachte Lillian auf dem zerschlissenen Sofa in Anas Wohnung in Spanish Harlem. Das kleine Kissen, auf dem ihr Kopf geruht hatte, war tränennass. Doch anders als Sarah, hatte sie nicht aus Freude geweint. Lillian fuhr mit den Fingerspitzen über die nassen Stellen. Sie runzelte die Stirn und versuchte sich ihrer Träume zu entsinnen, doch es gelang ihr nicht. Ein Schutzmechanismus ihres Unterbewusstseins, wie sie schon damals ahnte. Ihre Beine schmerzten, als sie sich erhob und zu dem kleinen Fenster ging. Sie schob die Vorhänge zur Seite und starrte auf den gelborangen Feuerball, welcher den Himmel in unterschiedliche Farbschattierungen getaucht hatte. Auf der StraÃe fuhren drei Autos. Der Fahrer des letzten hupte, als ein älterer Mann plötzlich über die Kreuzung rannte und das kleine Cafe gegenüber betrat. Lillians Blick schweifte zu der kleinen Seitengasse, aus welcher eine Gruppe junger Menschen zwischen sechzehn und Anfang zwanzig traten, welche sich laut lallend unterhielten. Eine der Frauen warf eine leere Flasche achtlos neben einen Mistkübel und hängte sich bei einem der Männer ein. Lillian kannte sie. Lavinia war einst eine sehr gute Freundin von ihr gewesen. Bis sie sich von ihr, Elena und den anderen abgewandt hatte, um sich der Clique ihres Freundes anzuschlieÃen, welche ihrem Realitätsbild eher entsprach. Lillian beobachtete Lavinia Stirn runzelnd. Sie war abgemagert. Die harten Drogen und der Alkohol hatten ihren Körper zerfressen. Lillian hatte zweimal versucht mit ihr zu sprechen, doch Lavinia hatte ihr nicht einmal zugehört. Ihr Blick fiel auf Diego, auf den festen Griff, mit welchem er sie umfasste, um der Welt zu präsentieren, dass sie sein Eigentum, dass er an ihrem Elend beteiligt war. Tagtäglich zog er auch alleine mit Freunden los, versoff Lavinias geringen Verdienst und vergnügte sich schlieÃlich mit anderen Frauen, welchen seinem angeblichen Charme verfallen waren. Ein paar Mal hatte er Lillian und Elena vor der Wohnung letzteren abgepasst. Nachdem er Lillian übertriebene Komplimente gemacht hatte, hatte er Elena stets seine Hilfe angeboten. Das waren die wenigen Momente, in welchen er ehrlich gewesen war. In welchen er tatsächlich etwas für einen anderen Menschen tun wollte. SchlieÃlich war Esteban sein bester Freund gewesen.
Lillian wandte sich von dem Fenster ab und ging zu dem kleinen Kasten. Ihre Hände zitterten, als sie ein altes Buch herauszog und darin zu blättern begann.
Für Lillian
In Liebe, Mamá und Papá
Juni 1989
Ein Buch über Mythen und Sagen aus aller Welt. Ein Geschenk zu Lillians siebenten Geburtstag. Sie atmete tief durch und erinnerte sich an ihr freudiges Lachen. Wie glücklich waren sie gewesen. Wie erfüllt von Glück war ihr Herz gewesen. Lillian fuhr mit dem Zeigefinger über ein Bild unter einer Textstelle. Es zeigte eine anmutige Frau in einem Rosengarten. Hinter ihr stand ein prächtiger Baum, auf dessen Ast ein Vogel saÃ. Lillian hatte dieses Bild immer geliebt. Nun schien etwas Beunruhigendes von ihm auszugehen. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie schlug das Buch zu und stellte es zurück in den Kasten. Lillian schleckte mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und räusperte sich leise. Ihr Blick fiel auf Sarahs Umschlag. Sie runzelte die Stirn, als sie diesen zögernd ergriff. Lillian schloss die Kastentür leise und schlich in Anas kleines Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass diese noch schlief. SchlieÃlich setzte sie sich wieder auf das Sofa und zog den Schnellhefter aus dem Umschlag. Ihre Finger zitterten, als sie nach der Stelle sucht, bei welcher sie zu lesen aufgehört hatte.
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen war der Sommer, welchen ich mit GroÃmama und Mutter in einem kleinen Dorf an der Südküste Schwedens verbrachte. Wir schrieben das Jahr 1970, ich war noch keine acht Jahre alt. Mein Vater war geschäftlich verreist, weshalb wir unseren alljährlichen Sommerurlaub ohne ihn verbrachten. „Ein Geschenk des Himmels.“, wie GroÃmama sagte. Meine Mutter verletzten diese Worte, doch sie wollte in diesen drei Wochen keinen Streit vorm Zaun brechen. Wir brachen in den frühen Morgenstunden auf. Ich liebte es immer auszuschlafen, doch für Reisen störte es mich nicht, einen Wecker zu stellen. Meine Mutter war immer darauf bedacht, so früh wie möglich aufzubrechen, damit wir in keinen Stau gerieten. Ich hatte ein eigenes blaues Köfferchen, welches ich GroÃmama mit Stolz präsentierte, während sie das gröÃere Gepäck im Kofferraum verstaute. Die Sonne war gerade aufgegangen. Der Himmel hatte unterschiedlichste, ineinander flieÃende Farbschattierungen angenommen.
Wir hatten ein kleines Ferienhaus, nur wenige Gehminuten vom Meer entfernt. Wir verbrachten die Tage am Strand, die Abende meist in einem Restaurant, welches eine Terrasse mit Meeresblick besaÃ. Wir saÃen dort oft bis in die frühe Nacht und redeten. Meine Mutter und GroÃmama tranken Wein, ich Traubensaft. Wir waren frei von Sorgen, glücklich. Dieser Sommer hatte für uns alle eine gröÃere Bedeutung, als wir ahnten. Wir erinnerten uns in den schweren Jahren danach oft daran. Doch erst heute ist mir wirklich bewusst, wie wertvoll diese drei Wochen waren. Es waren die einzigen Tage einer vollkommen unbeschwerten Kindheit. Ich war von bedingungsloser Liebe umgeben. Ich war frei und dennoch geborgen. Auch wenn ich die Jahre nach der Scheidung meiner Eltern als groÃteils sehr positiv und glücklich erlebte, dieser Sommer blieb einmalig und brannte sich tief in mein Herz. Noch heute rieche ich das Meer, wie es damals roch. GroÃmamas süÃliches Vanilleparfum. Mutters herbes Haarspray. Ich schlieÃe die Augen und sehe, wie ich am weiÃen Sand laufe, wie meine kleinen FüÃe Abdrücke hinterlassen. GroÃmama läuft mir nach und wedelt mit meinem weiÃen Sonnenhut, welchen ich nicht tragen wollte. Meine Mutter und ich bauen eine groÃe Sandburg, während meine GroÃmutter liest. Wir tauchen nach Fischen. Ich erinnere mich an den jungen, humorvollen Mann, welcher mit GroÃmama und mir manchmal mit einem Motorboot hinaus aufs Meer fuhr. Meine Mutter wartete auf uns, winkte und machte Fotos. Ich denke an die Abende, für welche ich mich stets besonders schick machen wollte. SchlieÃlich ging ich mit meiner GroÃmutter und Mutter aus.
Jahre später verstehe ich es nicht mehr. Ich verstehe nicht mehr, warum mein Herz so rastlos war. Nach jenem Sommer konnte ich es nicht mehr erwarten, erwachsen zu werden. Nun bin ich es und wünschte oft, die Zeit zurück drehen zu können.
Dann sehe ich dich, geliebte Tochter, und ich weiÃ, warum. Ich weiÃ, warum alles so gekommen ist, wie es hatte kommen müssen. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du ein Leben führen wirst, welches dich erfüllt. Ich wünsche dir von Herzen, dass du bei Menschen aufwachsen wirst, welche dir soviel Liebe schenken, wie ich von meiner GroÃmama und Mutter erhielt. Nimm diese Liebe niemals als selbstverständlich. Sie ist etwas Einzigartiges, Vollkommenes.
Lillian atmete tief durch und starrte auf die Seite. Sie spürte die Verzweiflung, welche von Sarahs Worten ausging. Ein Druck erfasste ihr Herz.
Ich bin dankbar für dich, mein geliebtes Kind, denke niemals, dass es nicht so ist. Ich bereue sehr vieles in meinem Leben, aber nicht dich dieser Welt gegeben zu haben. Du bist so zart, so wunderschön und vollkommen. Ich liebe dich, meine Tochter, mehr als du dir vorstellen kannst.
Lillian rannte die Stufen hinunter. Sanfte Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer. Lillian wurde langsamer. Leise schlich sie sich in den Raum. Lillian stieà sich den Fuà am Türstock. Ihr entfuhr ein kurzer Schmerzensschrei.
Ihre Eltern und GroÃmutter drehten sich überrascht zu ihr.
„Spätzchen, ich habe doch gesagt, ich hole dich, wenn alles fertig ist...“ Rosa blickte sie gespielt streng an.
Lillians Augen weiteten sich staunend, als sie die dicht geschmückte Tanne erblickte. Ihre Mutter hatte rote und goldene Weihnachtskugeln gewählt, goldenes Lametta verzierte den Baum. Jorge und Ana hatten mehrere Ãste mit SüÃigkeiten behängt. Unter dem Baum lagen Päckchen in buntem Papier, welche jedoch erst am kommenden Morgen geöffnet werden würden. Der groÃe Esstisch war passend mit einer rotgold verzierten Tischdecke bedeckt. Aus der Küche drang ein sanfter Geruch.
„Entschuldige.“, Lillian lächelte Rosa treuherzig an.
Ana strich ihr sanft durchs Haar. „Neugierde ist eine Sünde, mein Kind.“
Jorge runzelte die Stirn. „Nachdem du uns vorhin so ausführlich über deine Nachbarinnen berichtet hast, wissen wir ja endlich, woher sie dieses Laster hat....“ Er zwinkerte.
„Nun, Jorge, ich bin eine alte Frau.“ Ana warf ihrer Enkeltochter einen zärtlichen Blick zu. „Unsere Lillian ist noch ein kleines Mädchen.“
„So alt bist du doch noch gar nicht. Du und Rosa könntet Schwestern sein.“
Ana blickte zu ihrer Tochter. „Dein Gatte ist ein unverbesserlicher Charmeur, aber er ist mit den Jahren einfallslos geworden.“ Sie wandte sich wieder an Jorge. „WeiÃt du noch, wie du versucht hast, dich bei mir einzuschmeicheln?“
Jorge fasste sich gespielt empört an die Brust. „Aber, Mamá, ich wollte dir lediglich meine Hochachtung erweisen.“
Ana schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Das ist zuviel.“ Sie setzte sich auf einen der Stühle. Lillian setzte sich neben sie und musterte sie mit groÃen Augen. „Was hat Papá denn gemacht, um sich bei dir einzuschmeicheln?“ Sie zappelte unruhig voller Neugierde und spielte mit den Fingern.
„Kleine Mädchen sollten nicht so viele Fragen stellen.“ Ana bedachte sie mit einem milden Blick. „Ich kannte deinen Papá nur sehr flüchtig, musst du wissen. Wir sind zwar eine kleinere Welt als Brooklyn, aber groà genug, um nicht jeden persönlich zu kennen...“
„Aber klein genug, um alles über jeden zu wissen...“, warf Rosa schmunzelnd ein, worauf sie von ihrer Mutter mit einem strafenden Blick getadelt wurde.
„Ich kannte die GroÃeltern und Eltern deines Vaters. Seine Onkeln und Tanten...“, fuhr Ana fort, „...aber nicht die jüngste Generation. Wir wohnten auf der anderen Seite des Viertels, musst du wissen. Es schien mir seltsam, als dein Vater immer wieder meinen Weg kreuzte. Wie oft er mich vor dem Supermarkt abpasste, um mir anzubieten, meine schwere Einkaufstasche bis zu meiner Wohnungstür zu tragen. Selbstverständlich habe ich stets abgelehnt.“
„Nicht immer.“, warf Jorge ein.
Lillian blickte von Ana zu ihrem Vater und wieder zurück. „Warum hast du abgelehnt?“
Ana schüttelte den Kopf. „Für mich gab es nur zwei Begründungen, warum dein Vater so handeln konnte und beide gefielen mir nicht. Die eine war, dass er mich für alt und schwächlich hielt. Die andere, dass er dachte, in meiner Wohnung gäbe es irgendetwas Besonderes, was er sich aneignen könnte...“
„Das gab es doch auch.“ Jorge schenkte Rosa einen zärtlichen Blick. Lillian lächelte verträumt. Sie wünschte sich, eines Tages einen Mann kennen zu lernen, mit welchem sie eine ebenso groÃe Liebe verband, wie zwischen ihren Eltern bestand.
„Du denkst immer das Schlechteste, Mamá. Hätte es denn nicht sein können, dass ich einfach nur hilfsbereit sein wollte?“
Ana ignorierte ihren Schwiegersohn und blickte ihre Enkeltochter ernst an. „Das ist keine gute Welt da drauÃen, Cara, vergiss das niemals. Es ist besser sich zu oft vorzusehen, als sich in sein Unglück zu stürzen.“
Lillian runzelte unsicher die Stirn. Rosa legte die Arme um ihre Tochter und blickte Ana streng an. „Du machst ihr Angst, Mamá! Muss das denn sein? Soll sie scheu werden? Willst du, dass sie niemals jemanden vertrauen und einsam bleiben wird?“, Sie wandte sich mit sanfter Stimme an Lillian: „Dein Herz wird dir immer sagen, wem du wirklich vertrauen kannst. Vergiss bloà nie auf dein Herz zu hören.“
„Pah!“, Ana pfiff durch die Zähne. „Schau dir doch diese jungen Dinger an, welche auf ihr Herz gehört haben und nun...“
„Mamá, es reicht. Sie ist noch ein Kind.“
Anas Gesichtszüge wurden sanfter. Sie betrachtete das kleine Mädchen, welches unruhig zappelte. „Lass stets Herz und Verstand entscheiden, Cariña.“
Rosa küsste Lillians Haaransatz. „Jorge durfte zwar nicht bis vor unsere Wohnungstür, um ihr die Einkäufe zu tragen, aber er durfte in die Wohnung, um diverse Geräte zu reparieren...“
„Was hätte ich denn tun sollen, wenn sie stets ihn schickten?“ Ana schüttelte den Kopf. „Dein Vater versuchte immer ein Gespräch mit mir zu beginnen. Er war sogar daran interessiert, wie es mir gelang, dass mein Blumenstock so gedieh.“ Ana lachte. „Ich wette, um deine Mutter hat er sich nicht halb so bemüht...“
Rosa betrachtete Jorge lächelnd. „Doch, das hat er. Das kannst du mir glauben.“
„Bei dir war es allerdings leichter als bei Mamá.“ Er trat zu seiner Frau und legte einen Arm um sie und seine Tochter. Lillian lächelte.
Sie liebte diese Geschichten um die Jahre vor ihrer Geburt. Das Mädchen bat ihre Eltern und GroÃmutter oft darum, davon zu erzählen.
Lillian lächelte. Ein sanfter Tränenschleier durchzog ihre Augen. Sie schlug den Schnellhefter zu und lieà ihn wieder in den Umschlag gleiten, welchen sie zurück in den Kasten legte. Der FuÃboden knarrte, als sie das Schlafzimmer ihrer GroÃmutter betrat. Lillian betrachtete Ana lächelnd. Sanfte Sonnenstrahlen waren durch die dünne Jalousie gedrungen und warfen ein zartes Licht auf die ältere Frau. Lillian wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und setzte sich auf die Bettkante. Sie lauschte Anas tiefen Atemzügen und strich sanft über ihre vom Alter gekennzeichneten Wange.
„Lillian! Komm sofort heraus!“ Ana rüttelte an der Tür, welche seit Jahren klemmte.
Lillian kniff die Augen zusammen. Ein erstickender Druck erfasste ihr Herz bei der Erinnerung an jenen Abend.
Die Tür knarrte laut, als sie schlieÃlich aufsprang. Ana lief in den dunklen Raum. Lillian saà auf dem alten Bett ihrer GroÃmutter, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf an ihre Knie gepresst. HeiÃe Tränen rannen ihre Beine entlang. Ihr zarter Körper wog unruhig hin und her. Sie schluchzte hysterisch. Lillians Anblick brachte Anas Herz zum Bluten. Sie sank neben das Mädchen und legte die Arme um seinen Körper. „Lillian!“
„Ich will zu meiner Mamá, zu meinem Papá! Bring mich zu ihnen!“
Anas Augen begannen zu tränen. „Querida...ich habe dir gesagt, dass das nicht geht.“
Lillians Schluchzen wurde lauter. „Bring mich zu ihnen!“, schrie sie.
„Querida, bitte beruhige dich bitte...“ Ana biss sich auf die Unterlippe. Was verlangte sie da von ihrer Enkeltochter? Sie selbst würde ihren Schmerz, die Wut doch selbst am liebsten hinausschreien. Sollten es doch die Nachbarn hören. Sollten sie doch reden.
„Ich will nicht hier bleiben! Ich hasse es hier!“ Lillian riss sich von ihrer GroÃmutter los. „Wo sind Mamá und Papá? Bitte lass mich doch zu ihnen! Ich verspreche dir auch, nie wieder etwas anzustellen. Bitte lass mich doch zu ihnen!“ Sie blickte Ana flehend an. Diese senkte ihren Blick und schluckte schwer. Lillian sollte ihre Tränen nicht sehen. Sie musste stark sein. Ana hob den Kopf und berührte Lillians zitternde Hände. „Querida...“
„Ich werde auch immer brav sein...“
„Querida, du bist das wunderbarste Mädchen der Welt...“
„Warum darf ich dann nicht bei ihnen sein? Das verstehe ich nicht!“
Ana nahm sie in die Arme.
„Das ist nicht fair!“, schluchzte das Mädchen.
„Nein.“, antwortete Ana leise, „das ist es nicht.“ Sie strich Lillian durchs Haar. „Deine Eltern sind nun an einem schönerem Ort.“
„Warum haben sie mich nicht mitgenommen?“
‚Herr, gib mir Kraft.’, flehte Ana innerlich. Der Schock saà noch in ihrem Herzen. Der Schmerz war zu frisch, wie konnte sie jetzt ihrer Enkeltochter Trost spenden? „Weil deine Zeit noch nicht gekommen ist, Cara.“
„Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, Querida...“
„Wo...wo ist dieser Ort? Warum können wir dort nicht hinfahren?“ Lillians Stimme schwankte.
„Ich weià es nicht, mein Schatz. Aber ich weiÃ, dass dieser Ort wunderschön ist.“ Ana stockte. „Es ist unvorstellbar schön, das ewige Paradies. Nach diesem Leben werden wir alle diesen Ort aufsuchen. Wir werden unseren geliebten Menschen wieder begegnen und für immer bei ihnen sein.“
Lillian hob den Kopf und blickte ihre GroÃmutter Stirn runzelnd an. Das Meer der Tränen hatte ihre Augen geschwollen.
Ana strich über ihre Wange. „Deine Eltern sind nun bei den Engeln. Auch meine Eltern sind dort. Sie blicken auf uns herab und beschützen uns.“
„Ich möchte bei ihnen sein. Mit ihnen sprechen. Sie umarmen. Mich dafür entschuldigen, dass ich nicht immer brav war.“
Ana küsste Lillians Stirn. „Ich auch, Querida. Mehr als alles andere.“ Sie hob Lillians Kinn und zwang sie so sie anzusehen. „Aber wir können mit ihnen sprechen. Sag ihnen, was du am Herzen hast. Sie werden dich immer hören und dir antworten. Du wirst sie spüren. Fühlen, was sie dir antworten.“
Eine einzelne Träne tropfte auf Anas Stirn. Sie öffnete langsam die Augen und betrachtete Lillian einen Moment irritiert, ehe sie sich aufrichtete. „Was hast du denn, Querida? Ist etwas passiert?“
Lillian lieà den schmerzenden Tränen freien Lauf und umarmte ihre GroÃmutter schluchzend. „Danke.“, flüsterte sie leise. „Danke, dass du immer für mich da bist. Ich hab dich lieb, GroÃmama.“
Ana strich der jungen Frau sanft durchs lange Haar. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie hatte Rosa nach ihrem Tod versprochen, stets auf ihre geliebte Enkeltochter zu achten. Doch nun musste sie fürchten, bald nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Lillian wusste nicht, wie es tatsächlich um die Gesundheit ihrer GroÃmutter stand und Ana wusste nicht, wie sie ihr davon unterrichten sollte, ehe sie nicht eine Lösung gefunden hatte. Rosa, was rätst du mir zu tun?
Achtzehn Jahre nachdem Sarah Turunen de Dominguez mit Wehen, und Freudentränen in den Augen, in das noble Privatkrankenhaus Bogotás gebracht wurde, erwachte Lillian auf dem zerschlissenen Sofa in Anas Wohnung in Spanish Harlem. Das kleine Kissen, auf dem ihr Kopf geruht hatte, war tränennass. Doch anders als Sarah, hatte sie nicht aus Freude geweint. Lillian fuhr mit den Fingerspitzen über die nassen Stellen. Sie runzelte die Stirn und versuchte sich ihrer Träume zu entsinnen, doch es gelang ihr nicht. Ein Schutzmechanismus ihres Unterbewusstseins, wie sie schon damals ahnte. Ihre Beine schmerzten, als sie sich erhob und zu dem kleinen Fenster ging. Sie schob die Vorhänge zur Seite und starrte auf den gelborangen Feuerball, welcher den Himmel in unterschiedliche Farbschattierungen getaucht hatte. Auf der StraÃe fuhren drei Autos. Der Fahrer des letzten hupte, als ein älterer Mann plötzlich über die Kreuzung rannte und das kleine Cafe gegenüber betrat. Lillians Blick schweifte zu der kleinen Seitengasse, aus welcher eine Gruppe junger Menschen zwischen sechzehn und Anfang zwanzig traten, welche sich laut lallend unterhielten. Eine der Frauen warf eine leere Flasche achtlos neben einen Mistkübel und hängte sich bei einem der Männer ein. Lillian kannte sie. Lavinia war einst eine sehr gute Freundin von ihr gewesen. Bis sie sich von ihr, Elena und den anderen abgewandt hatte, um sich der Clique ihres Freundes anzuschlieÃen, welche ihrem Realitätsbild eher entsprach. Lillian beobachtete Lavinia Stirn runzelnd. Sie war abgemagert. Die harten Drogen und der Alkohol hatten ihren Körper zerfressen. Lillian hatte zweimal versucht mit ihr zu sprechen, doch Lavinia hatte ihr nicht einmal zugehört. Ihr Blick fiel auf Diego, auf den festen Griff, mit welchem er sie umfasste, um der Welt zu präsentieren, dass sie sein Eigentum, dass er an ihrem Elend beteiligt war. Tagtäglich zog er auch alleine mit Freunden los, versoff Lavinias geringen Verdienst und vergnügte sich schlieÃlich mit anderen Frauen, welchen seinem angeblichen Charme verfallen waren. Ein paar Mal hatte er Lillian und Elena vor der Wohnung letzteren abgepasst. Nachdem er Lillian übertriebene Komplimente gemacht hatte, hatte er Elena stets seine Hilfe angeboten. Das waren die wenigen Momente, in welchen er ehrlich gewesen war. In welchen er tatsächlich etwas für einen anderen Menschen tun wollte. SchlieÃlich war Esteban sein bester Freund gewesen.
Lillian wandte sich von dem Fenster ab und ging zu dem kleinen Kasten. Ihre Hände zitterten, als sie ein altes Buch herauszog und darin zu blättern begann.
Für Lillian
In Liebe, Mamá und Papá
Juni 1989
Ein Buch über Mythen und Sagen aus aller Welt. Ein Geschenk zu Lillians siebenten Geburtstag. Sie atmete tief durch und erinnerte sich an ihr freudiges Lachen. Wie glücklich waren sie gewesen. Wie erfüllt von Glück war ihr Herz gewesen. Lillian fuhr mit dem Zeigefinger über ein Bild unter einer Textstelle. Es zeigte eine anmutige Frau in einem Rosengarten. Hinter ihr stand ein prächtiger Baum, auf dessen Ast ein Vogel saÃ. Lillian hatte dieses Bild immer geliebt. Nun schien etwas Beunruhigendes von ihm auszugehen. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie schlug das Buch zu und stellte es zurück in den Kasten. Lillian schleckte mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und räusperte sich leise. Ihr Blick fiel auf Sarahs Umschlag. Sie runzelte die Stirn, als sie diesen zögernd ergriff. Lillian schloss die Kastentür leise und schlich in Anas kleines Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass diese noch schlief. SchlieÃlich setzte sie sich wieder auf das Sofa und zog den Schnellhefter aus dem Umschlag. Ihre Finger zitterten, als sie nach der Stelle sucht, bei welcher sie zu lesen aufgehört hatte.
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen war der Sommer, welchen ich mit GroÃmama und Mutter in einem kleinen Dorf an der Südküste Schwedens verbrachte. Wir schrieben das Jahr 1970, ich war noch keine acht Jahre alt. Mein Vater war geschäftlich verreist, weshalb wir unseren alljährlichen Sommerurlaub ohne ihn verbrachten. „Ein Geschenk des Himmels.“, wie GroÃmama sagte. Meine Mutter verletzten diese Worte, doch sie wollte in diesen drei Wochen keinen Streit vorm Zaun brechen. Wir brachen in den frühen Morgenstunden auf. Ich liebte es immer auszuschlafen, doch für Reisen störte es mich nicht, einen Wecker zu stellen. Meine Mutter war immer darauf bedacht, so früh wie möglich aufzubrechen, damit wir in keinen Stau gerieten. Ich hatte ein eigenes blaues Köfferchen, welches ich GroÃmama mit Stolz präsentierte, während sie das gröÃere Gepäck im Kofferraum verstaute. Die Sonne war gerade aufgegangen. Der Himmel hatte unterschiedlichste, ineinander flieÃende Farbschattierungen angenommen.
Wir hatten ein kleines Ferienhaus, nur wenige Gehminuten vom Meer entfernt. Wir verbrachten die Tage am Strand, die Abende meist in einem Restaurant, welches eine Terrasse mit Meeresblick besaÃ. Wir saÃen dort oft bis in die frühe Nacht und redeten. Meine Mutter und GroÃmama tranken Wein, ich Traubensaft. Wir waren frei von Sorgen, glücklich. Dieser Sommer hatte für uns alle eine gröÃere Bedeutung, als wir ahnten. Wir erinnerten uns in den schweren Jahren danach oft daran. Doch erst heute ist mir wirklich bewusst, wie wertvoll diese drei Wochen waren. Es waren die einzigen Tage einer vollkommen unbeschwerten Kindheit. Ich war von bedingungsloser Liebe umgeben. Ich war frei und dennoch geborgen. Auch wenn ich die Jahre nach der Scheidung meiner Eltern als groÃteils sehr positiv und glücklich erlebte, dieser Sommer blieb einmalig und brannte sich tief in mein Herz. Noch heute rieche ich das Meer, wie es damals roch. GroÃmamas süÃliches Vanilleparfum. Mutters herbes Haarspray. Ich schlieÃe die Augen und sehe, wie ich am weiÃen Sand laufe, wie meine kleinen FüÃe Abdrücke hinterlassen. GroÃmama läuft mir nach und wedelt mit meinem weiÃen Sonnenhut, welchen ich nicht tragen wollte. Meine Mutter und ich bauen eine groÃe Sandburg, während meine GroÃmutter liest. Wir tauchen nach Fischen. Ich erinnere mich an den jungen, humorvollen Mann, welcher mit GroÃmama und mir manchmal mit einem Motorboot hinaus aufs Meer fuhr. Meine Mutter wartete auf uns, winkte und machte Fotos. Ich denke an die Abende, für welche ich mich stets besonders schick machen wollte. SchlieÃlich ging ich mit meiner GroÃmutter und Mutter aus.
Jahre später verstehe ich es nicht mehr. Ich verstehe nicht mehr, warum mein Herz so rastlos war. Nach jenem Sommer konnte ich es nicht mehr erwarten, erwachsen zu werden. Nun bin ich es und wünschte oft, die Zeit zurück drehen zu können.
Dann sehe ich dich, geliebte Tochter, und ich weiÃ, warum. Ich weiÃ, warum alles so gekommen ist, wie es hatte kommen müssen. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du ein Leben führen wirst, welches dich erfüllt. Ich wünsche dir von Herzen, dass du bei Menschen aufwachsen wirst, welche dir soviel Liebe schenken, wie ich von meiner GroÃmama und Mutter erhielt. Nimm diese Liebe niemals als selbstverständlich. Sie ist etwas Einzigartiges, Vollkommenes.
Lillian atmete tief durch und starrte auf die Seite. Sie spürte die Verzweiflung, welche von Sarahs Worten ausging. Ein Druck erfasste ihr Herz.
Ich bin dankbar für dich, mein geliebtes Kind, denke niemals, dass es nicht so ist. Ich bereue sehr vieles in meinem Leben, aber nicht dich dieser Welt gegeben zu haben. Du bist so zart, so wunderschön und vollkommen. Ich liebe dich, meine Tochter, mehr als du dir vorstellen kannst.
Lillian rannte die Stufen hinunter. Sanfte Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer. Lillian wurde langsamer. Leise schlich sie sich in den Raum. Lillian stieà sich den Fuà am Türstock. Ihr entfuhr ein kurzer Schmerzensschrei.
Ihre Eltern und GroÃmutter drehten sich überrascht zu ihr.
„Spätzchen, ich habe doch gesagt, ich hole dich, wenn alles fertig ist...“ Rosa blickte sie gespielt streng an.
Lillians Augen weiteten sich staunend, als sie die dicht geschmückte Tanne erblickte. Ihre Mutter hatte rote und goldene Weihnachtskugeln gewählt, goldenes Lametta verzierte den Baum. Jorge und Ana hatten mehrere Ãste mit SüÃigkeiten behängt. Unter dem Baum lagen Päckchen in buntem Papier, welche jedoch erst am kommenden Morgen geöffnet werden würden. Der groÃe Esstisch war passend mit einer rotgold verzierten Tischdecke bedeckt. Aus der Küche drang ein sanfter Geruch.
„Entschuldige.“, Lillian lächelte Rosa treuherzig an.
Ana strich ihr sanft durchs Haar. „Neugierde ist eine Sünde, mein Kind.“
Jorge runzelte die Stirn. „Nachdem du uns vorhin so ausführlich über deine Nachbarinnen berichtet hast, wissen wir ja endlich, woher sie dieses Laster hat....“ Er zwinkerte.
„Nun, Jorge, ich bin eine alte Frau.“ Ana warf ihrer Enkeltochter einen zärtlichen Blick zu. „Unsere Lillian ist noch ein kleines Mädchen.“
„So alt bist du doch noch gar nicht. Du und Rosa könntet Schwestern sein.“
Ana blickte zu ihrer Tochter. „Dein Gatte ist ein unverbesserlicher Charmeur, aber er ist mit den Jahren einfallslos geworden.“ Sie wandte sich wieder an Jorge. „WeiÃt du noch, wie du versucht hast, dich bei mir einzuschmeicheln?“
Jorge fasste sich gespielt empört an die Brust. „Aber, Mamá, ich wollte dir lediglich meine Hochachtung erweisen.“
Ana schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Das ist zuviel.“ Sie setzte sich auf einen der Stühle. Lillian setzte sich neben sie und musterte sie mit groÃen Augen. „Was hat Papá denn gemacht, um sich bei dir einzuschmeicheln?“ Sie zappelte unruhig voller Neugierde und spielte mit den Fingern.
„Kleine Mädchen sollten nicht so viele Fragen stellen.“ Ana bedachte sie mit einem milden Blick. „Ich kannte deinen Papá nur sehr flüchtig, musst du wissen. Wir sind zwar eine kleinere Welt als Brooklyn, aber groà genug, um nicht jeden persönlich zu kennen...“
„Aber klein genug, um alles über jeden zu wissen...“, warf Rosa schmunzelnd ein, worauf sie von ihrer Mutter mit einem strafenden Blick getadelt wurde.
„Ich kannte die GroÃeltern und Eltern deines Vaters. Seine Onkeln und Tanten...“, fuhr Ana fort, „...aber nicht die jüngste Generation. Wir wohnten auf der anderen Seite des Viertels, musst du wissen. Es schien mir seltsam, als dein Vater immer wieder meinen Weg kreuzte. Wie oft er mich vor dem Supermarkt abpasste, um mir anzubieten, meine schwere Einkaufstasche bis zu meiner Wohnungstür zu tragen. Selbstverständlich habe ich stets abgelehnt.“
„Nicht immer.“, warf Jorge ein.
Lillian blickte von Ana zu ihrem Vater und wieder zurück. „Warum hast du abgelehnt?“
Ana schüttelte den Kopf. „Für mich gab es nur zwei Begründungen, warum dein Vater so handeln konnte und beide gefielen mir nicht. Die eine war, dass er mich für alt und schwächlich hielt. Die andere, dass er dachte, in meiner Wohnung gäbe es irgendetwas Besonderes, was er sich aneignen könnte...“
„Das gab es doch auch.“ Jorge schenkte Rosa einen zärtlichen Blick. Lillian lächelte verträumt. Sie wünschte sich, eines Tages einen Mann kennen zu lernen, mit welchem sie eine ebenso groÃe Liebe verband, wie zwischen ihren Eltern bestand.
„Du denkst immer das Schlechteste, Mamá. Hätte es denn nicht sein können, dass ich einfach nur hilfsbereit sein wollte?“
Ana ignorierte ihren Schwiegersohn und blickte ihre Enkeltochter ernst an. „Das ist keine gute Welt da drauÃen, Cara, vergiss das niemals. Es ist besser sich zu oft vorzusehen, als sich in sein Unglück zu stürzen.“
Lillian runzelte unsicher die Stirn. Rosa legte die Arme um ihre Tochter und blickte Ana streng an. „Du machst ihr Angst, Mamá! Muss das denn sein? Soll sie scheu werden? Willst du, dass sie niemals jemanden vertrauen und einsam bleiben wird?“, Sie wandte sich mit sanfter Stimme an Lillian: „Dein Herz wird dir immer sagen, wem du wirklich vertrauen kannst. Vergiss bloà nie auf dein Herz zu hören.“
„Pah!“, Ana pfiff durch die Zähne. „Schau dir doch diese jungen Dinger an, welche auf ihr Herz gehört haben und nun...“
„Mamá, es reicht. Sie ist noch ein Kind.“
Anas Gesichtszüge wurden sanfter. Sie betrachtete das kleine Mädchen, welches unruhig zappelte. „Lass stets Herz und Verstand entscheiden, Cariña.“
Rosa küsste Lillians Haaransatz. „Jorge durfte zwar nicht bis vor unsere Wohnungstür, um ihr die Einkäufe zu tragen, aber er durfte in die Wohnung, um diverse Geräte zu reparieren...“
„Was hätte ich denn tun sollen, wenn sie stets ihn schickten?“ Ana schüttelte den Kopf. „Dein Vater versuchte immer ein Gespräch mit mir zu beginnen. Er war sogar daran interessiert, wie es mir gelang, dass mein Blumenstock so gedieh.“ Ana lachte. „Ich wette, um deine Mutter hat er sich nicht halb so bemüht...“
Rosa betrachtete Jorge lächelnd. „Doch, das hat er. Das kannst du mir glauben.“
„Bei dir war es allerdings leichter als bei Mamá.“ Er trat zu seiner Frau und legte einen Arm um sie und seine Tochter. Lillian lächelte.
Sie liebte diese Geschichten um die Jahre vor ihrer Geburt. Das Mädchen bat ihre Eltern und GroÃmutter oft darum, davon zu erzählen.
Lillian lächelte. Ein sanfter Tränenschleier durchzog ihre Augen. Sie schlug den Schnellhefter zu und lieà ihn wieder in den Umschlag gleiten, welchen sie zurück in den Kasten legte. Der FuÃboden knarrte, als sie das Schlafzimmer ihrer GroÃmutter betrat. Lillian betrachtete Ana lächelnd. Sanfte Sonnenstrahlen waren durch die dünne Jalousie gedrungen und warfen ein zartes Licht auf die ältere Frau. Lillian wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und setzte sich auf die Bettkante. Sie lauschte Anas tiefen Atemzügen und strich sanft über ihre vom Alter gekennzeichneten Wange.
„Lillian! Komm sofort heraus!“ Ana rüttelte an der Tür, welche seit Jahren klemmte.
Lillian kniff die Augen zusammen. Ein erstickender Druck erfasste ihr Herz bei der Erinnerung an jenen Abend.
Die Tür knarrte laut, als sie schlieÃlich aufsprang. Ana lief in den dunklen Raum. Lillian saà auf dem alten Bett ihrer GroÃmutter, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf an ihre Knie gepresst. HeiÃe Tränen rannen ihre Beine entlang. Ihr zarter Körper wog unruhig hin und her. Sie schluchzte hysterisch. Lillians Anblick brachte Anas Herz zum Bluten. Sie sank neben das Mädchen und legte die Arme um seinen Körper. „Lillian!“
„Ich will zu meiner Mamá, zu meinem Papá! Bring mich zu ihnen!“
Anas Augen begannen zu tränen. „Querida...ich habe dir gesagt, dass das nicht geht.“
Lillians Schluchzen wurde lauter. „Bring mich zu ihnen!“, schrie sie.
„Querida, bitte beruhige dich bitte...“ Ana biss sich auf die Unterlippe. Was verlangte sie da von ihrer Enkeltochter? Sie selbst würde ihren Schmerz, die Wut doch selbst am liebsten hinausschreien. Sollten es doch die Nachbarn hören. Sollten sie doch reden.
„Ich will nicht hier bleiben! Ich hasse es hier!“ Lillian riss sich von ihrer GroÃmutter los. „Wo sind Mamá und Papá? Bitte lass mich doch zu ihnen! Ich verspreche dir auch, nie wieder etwas anzustellen. Bitte lass mich doch zu ihnen!“ Sie blickte Ana flehend an. Diese senkte ihren Blick und schluckte schwer. Lillian sollte ihre Tränen nicht sehen. Sie musste stark sein. Ana hob den Kopf und berührte Lillians zitternde Hände. „Querida...“
„Ich werde auch immer brav sein...“
„Querida, du bist das wunderbarste Mädchen der Welt...“
„Warum darf ich dann nicht bei ihnen sein? Das verstehe ich nicht!“
Ana nahm sie in die Arme.
„Das ist nicht fair!“, schluchzte das Mädchen.
„Nein.“, antwortete Ana leise, „das ist es nicht.“ Sie strich Lillian durchs Haar. „Deine Eltern sind nun an einem schönerem Ort.“
„Warum haben sie mich nicht mitgenommen?“
‚Herr, gib mir Kraft.’, flehte Ana innerlich. Der Schock saà noch in ihrem Herzen. Der Schmerz war zu frisch, wie konnte sie jetzt ihrer Enkeltochter Trost spenden? „Weil deine Zeit noch nicht gekommen ist, Cara.“
„Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, Querida...“
„Wo...wo ist dieser Ort? Warum können wir dort nicht hinfahren?“ Lillians Stimme schwankte.
„Ich weià es nicht, mein Schatz. Aber ich weiÃ, dass dieser Ort wunderschön ist.“ Ana stockte. „Es ist unvorstellbar schön, das ewige Paradies. Nach diesem Leben werden wir alle diesen Ort aufsuchen. Wir werden unseren geliebten Menschen wieder begegnen und für immer bei ihnen sein.“
Lillian hob den Kopf und blickte ihre GroÃmutter Stirn runzelnd an. Das Meer der Tränen hatte ihre Augen geschwollen.
Ana strich über ihre Wange. „Deine Eltern sind nun bei den Engeln. Auch meine Eltern sind dort. Sie blicken auf uns herab und beschützen uns.“
„Ich möchte bei ihnen sein. Mit ihnen sprechen. Sie umarmen. Mich dafür entschuldigen, dass ich nicht immer brav war.“
Ana küsste Lillians Stirn. „Ich auch, Querida. Mehr als alles andere.“ Sie hob Lillians Kinn und zwang sie so sie anzusehen. „Aber wir können mit ihnen sprechen. Sag ihnen, was du am Herzen hast. Sie werden dich immer hören und dir antworten. Du wirst sie spüren. Fühlen, was sie dir antworten.“
Eine einzelne Träne tropfte auf Anas Stirn. Sie öffnete langsam die Augen und betrachtete Lillian einen Moment irritiert, ehe sie sich aufrichtete. „Was hast du denn, Querida? Ist etwas passiert?“
Lillian lieà den schmerzenden Tränen freien Lauf und umarmte ihre GroÃmutter schluchzend. „Danke.“, flüsterte sie leise. „Danke, dass du immer für mich da bist. Ich hab dich lieb, GroÃmama.“
Ana strich der jungen Frau sanft durchs lange Haar. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie hatte Rosa nach ihrem Tod versprochen, stets auf ihre geliebte Enkeltochter zu achten. Doch nun musste sie fürchten, bald nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Lillian wusste nicht, wie es tatsächlich um die Gesundheit ihrer GroÃmutter stand und Ana wusste nicht, wie sie ihr davon unterrichten sollte, ehe sie nicht eine Lösung gefunden hatte. Rosa, was rätst du mir zu tun?