22.09.2007, 17:52
Hallo meine SüÃen :knuddel:
@Gurke: Danke für dein tolles Feedback! Freut mich, dass dir das Kapitel so gut gefallen hat!
@Zora: Tut mir leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen, SüÃe. Es freut mich aber, dass du so mitfühlst. Das zeigt mir, dass es mir gelungen ist, die Gefühle richtig rüberzubringen. Bin da oft unsicher. Danke für dein tolles Feedback.
@Anne: Danke für deine Worte. Freut mich, dass dir der Teil so gut gefallen hat! Was mit Ana los ist, werdet ihr bald erfahren.
@alle: So, eigentlich hätte ich ja anderes zu tun gehabt , habe aber trotzdem weitergeschrieben *g*
Ich hoffe, euch gefällt der neue Teil und ihr verzeiht die Länge
Freu mich auf jedes Feedback!
Hab euch lieb
Bussi Selene
43. Teil
Stunden, Tage, Jahre schienen vergangen. Die Sonne brannte durch die dünne Jalousien und begann den Raum zunehmend zu erhitzen. Lillian löste sich zögernd von ihrer GroÃmutter und blickte in die dunklen Augen der älteren Frau, welche von einem leichten Tränenschleier durchzogen waren. âDanke.â, flüsterte die Jüngere. Ihr Herz brannte voller Schmerz um den Verlust ihrer geliebten Eltern, voller Dankbarkeit und verzweifelter Liebe Ana gegenüber und voller Angst vor dem, was kommen sollte. Lillian wusste nicht, vor welcher Zukunft sich ihr Herz fürchtete, doch es sagte ihr, dass schon lange nichts mehr so war, wie es einst gewesen war. Sie erinnerte sich an die ersten Wochen bei Ana. Wie launisch und gehässig war sie oftmals der Frau gegenüber gewesen, welche sich ihrer angenommen hatte. Ihr Verhältnis war sehr kompliziert geworden, ehe es so innig werden konnte. Doch an jenem Morgen waren zum ersten Mal seit über zehn Jahren Worte der Zuneigung über Lillians Lippen gekommen. Tiefe Gefühle zuzulassen schien ihr noch immer mit einer groÃen Angst verbunden, dennoch hatte sich etwas in ihr zu verändern begonnen. Inwiefern Sarahs Briefe etwas damit zu tun haben konnten, wusste sie nicht. âCariña, ich bin immer bei dir.â Ana strich ihrer Enkeltochter lächelnd über die Wangen. Lillian erwiderte ihr Lächeln, doch ihre Gesichtszüge begannen sich sogleich wieder zu verspannen. Ein Geheimnis lastete auf ihrem Herzen. Ein Geheimnis, welches, so glaubte sie, das Herz ihrer GroÃmutter brechen konnte. âGroÃmama...es gibt etwas, das ich dir sagen muss...â Lillian räusperte sich leise und begann stockend von der Begegnung mit Oksana, Sarahs Briefen und ihrem Treffen mit Eduardo zu erzählen. Anfangs stoppte sie immer wieder kurz, um die Gesichtszüge ihres Gegenüber zu studieren, doch da sich diese nicht zu verändern schienen, fuhr sie schneller fort. Als sie geendet hatte, schien eine groÃe Last von ihr gewichen. All die Schuldgefühle auf ihrem Herzen schienen leichter.
Ana betrachtete ihre Enkeltochter Stirn runzelnd. âWarum hast du mir nicht eher davon erzählt?â Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte an das Geheimnis, welches sie Lillian beinahe achtzehn Jahre verschwiegen hatte sowie an ein anderes, welches sie der Enkelin noch eine gewisse Zeit vorenthalten musste.
Lillian atmete tief durch. âIch weià es nicht. Es ist eine schwierige Situation. Mamá, Papá und du, ihr werdet stets die einzigen sein, welche ich Familie nenne. Denn ihr habt mir jahrelang Liebe und Geborgenheit geschenkt. Ich hatte Angst, dass ihr es mir nicht verzeihen könntet, wenn ich nach Menschen suche, welche all die Jahre nicht für mich da waren. Ich hatte Angst, dass ihr denken könntet, sie würden euch ersetzen können.â Lillians Stimme wurde fester. âDas könnten sie niemals, das ist vollkommen unmöglich. Aber trotzdem...etwas in mir möchte mehr über sie erfahren. Etwas in mir möchte meine Wurzeln kennen lernen. Mein Herz sagt mir, dass es wichtig ist...â Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf.
Ana hob ihr Kinn. âLillian...Cara, war dein Herz aus diesem Grund die letzten Wochen so schwer?â
Lillian zögerte. âJa.â, antwortete sie schlieÃlich, ohne der GroÃmutter in die Augen zu sehen. Es gab noch andere Gründe, doch diese sollten die ältere Dame zumindest vorerst nicht belasten.
Ana schüttelte den Kopf. âDu hättest es mir sagen müssen...â
Lillian nickte. âEs tut mir leid.â
âEs ist dein gutes Recht etwas über deine Wurzeln zu erfahren. Niemand versteht das so wie ich.â Ana lächelte leicht, doch Lillian entging die Bedrücktheit in den Augen der älteren Frau nicht. Doch ehe sie noch etwas sagen konnte, war ihre GroÃmutter aufgestanden. Ein aufmunterndes Lächeln zierte ihr Gesicht. âHeute ist dein Geburtstag. Wir sollten allmählich aufstehen. Was hältst du davon, wenn wir heute in dem kleinen Cafe zwei StraÃen weiter frühstücken? SchlieÃlich ist doch ein Festtag.â Als Lillian sich nicht bewegte, stemmte Ana die Hände in die Hüften und blickte sie Stirn runzelnd an. âNun komm schon. So kannst du kaum essen gehen. Wir müssen noch duschen und uns umziehen.â Sie blickte auf ihre Armbanduhr, welche sie manchmal sogar über Nacht am Handgelenk lieÃ. âBeeil dich. Man sollte nicht erst so spät in einem Cafe frühstücken. Die Leute denken sonst noch, ich würde den halben Tag verschlafen.â
Der kleine Raum war von einem süÃlichen Duft erfüllt. Eine Mischung aus Kakao, Zimt und dem süÃen Gebäck, welches Juanita wenige Minuten zuvor aus dem groÃen Backofen gezogen hatte. Ana biss genüsslich in ihr Buttercroissant und studierte Lillians Gesichtszüge. Die junge Frau nippte an ihrer Kaffeetasse und lieà den Blick über die fünf Tische schweifen. Ana dachte an das kleine Mädchen, welches sie immer gebeten hatte, Geschichten zu erzählen. Seine Augen hatten gefunkelt. Voller Freude und kindlicher Unschuld. Ana entsann sich dem Tag, an welchem die Unschuld aus den Augen des Mädchens der Angst, dem Kummer gewichen war. Ein leichter Glanz durchzog nun Lillians goldbraune Augen, ihre GroÃmutter vermochte ihn nicht zu deuten. Die junge Frau konzentrierte sich auf ihr Käsebrot, von welchem sie beinahe zaghaft abbiss. Sie wischte sich die Bröseln mit einer Serviette vom Mund und sah hoch, direkt in Anas Augen. Plötzlich runzelte sie die Stirn, als hätte sie die Sorge, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein.
âDu bist eine wunderschöne Frau geworden.â, sagte Ana lächelnd.
Lillian senkte verlegen den Blick. Es war ihr unangenehm als schön bezeichnet zu werden. ÃuÃerlichkeiten waren nebensächlich für sie. âDanke.â Sie nippte erneut an ihrem Kaffee.
âWir waren früher manchmal hier, weiÃt du noch?â
Lillian betrachtete Ana lange, ehe sie nickte. Sie waren früher öfters hier gewesen. Doch das war lange her, in einem früheren Leben. In einem Leben, in welchem ihre Eltern sie noch in die Arme genommen hatten. In einem Leben, in welchem es scheinbar nichts Schlechtes gegeben hatte.
âDein Vater liebte die Croissant. Deine Mutter war hingegen begeistert von den frischgebackenen Semmeln.â
âWer nicht?â Lillian bemühte sich um ein Lächeln und wechselte das Thema. âElena und Emilio werden gegen ein Uhr bei uns sein.â
Ana nickte lächelnd. âWie geht es den beiden?â
Lillian zögerte. âEs geht ihnen gut.â, antwortete sie schlieÃlich.
Ihre GroÃmutter musterte sie prüfend. âEs ist vor drei Jahren passiert, habe ich recht?â
Lillian nickte langsam. âÃbermorgen vor drei Jahren...â
Ana biss sich auf ihre Unterlippe. âUm so wichtiger, dass Elena sich ein wenig ablenkt. Feiert heute Abend schön und kommt mir bloà nicht vor dem frühen Morgen nachhause. Emilio und Elena übernachten ohnehin bei uns.â
âOkay.â Lillian nickte. âDanke.â
âElena ist wie eine zweite Enkeltochter für mich.â Ana lächelte. âHätte ich mehr Geld, würde ich eine gröÃere Wohnung für uns alle kaufen.â Sie strich über Lillians Handrücken.
Ihre Enkeltochter strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Lillian hatte sich früher oft vorgestellt, dass sie studieren und später viel Geld verdienen würde. Sie würde mit ihrer GroÃmutter, Elena und Emilio in eine geräumige Wohnung in einen anderen Teil von New York City ziehen. Doch nun konnte sie sich glücklich schätzen, wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekam. âGroÃmama, weiÃt du, sucht jemand eine Aushilfe? In einem Cafe, einem Supermarkt, wo auch immer...â
Ana runzelte die Stirn, schüttelte schlieÃlich den Kopf. âIch werde Consuela fragen. Sie weià gewiss bescheid.â Sie betrachtete ihre Enkeltochter lange. âEs tut mir leid, dass ich dir deinen Wunsch zu studieren nicht erfüllen kann. Weder mein Geld noch das deiner verstorbenen Eltern reicht dafür, nicht wahr? Ich wollte es nicht wahr haben. Habe gebetet, dass du studieren könntest. Das war auch mein Wunsch, und der deiner Eltern. Schon immer. Du solltest studieren und ein besseres Leben führen...â
Lillian drückte Anas Hand. âGroÃmama...â, sie zögerte, â...es stimmt, ich wollte studieren. Möchte es immer noch. Doch das ist nicht das Wichtigste. Mein Leben ist in Ordnung, so wie es ist...â, sie wich Anas Blick aus. â...du hast mir so viel gegeben. Mehr hätte ich nie verlangen können. Und wer sagt denn, dass ich niemals studieren werde. Vielleicht bekomme ich ja nächstes Jahr ein Stipendium, wer weiÃ?â Lillian versuchte selbstsicher zu klingen.
Ana durchschaute sie, beschloss aber, das Thema erst mal ruhen zu lassen. âEventuell kannst du in der Flamenco Bar arbeiten.â
Lillian nickte. âDas wäre für den Anfang bestimmt nicht schlecht. AuÃerdem arbeitete auch Mamá eine Zeit lang dort.â
Nach dem Essen gingen Lillian und Ana noch ein wenig spazieren und sprachen über vergangene Zeiten. Die ältere Frau hatte sich bei der jüngeren eingehenkt und betrachtete sie immer wieder voller Stolz. Mit den frühen Mittagsstunden setzte ein sanfter Wind ein, welcher die Hitze erträglicher machte. Als Anas Kopf zu schmerzen begann, bat sie ihre Enkeltochter wieder nachhause zu gehen. Lillian kochte ihrer GroÃmutter Tee und setzte sich zu ihr auf das Sofa. Ana bat sie nochmals von ihrer Abschlussprüfung zu erzählen, schlief jedoch ein, kaum hatte Lillian begonnen und erwachte erst wieder, als es an der Tür klopfte.
âOh mein Gott!â Sie fuhr in die Höhe. Lillian, welche gerade das Essen zubereitete lächelte ihr zu, ehe sie die Tür öffnete.
âLillian! Das ist dein Geburtstag. Ich wollte für euch kochen.â Ana stemmte die Arme in die Hüften.
âGroÃmama, dein Körper hat Schlaf gebraucht. Ich habe gerne für uns gekocht. Keine Sorge, es ist nichts AuÃergewöhnliches.â Lillian zwinkerte.
Eine zärtliche Wärme erfüllte das Herz der älteren Frau, als Elena mit Emilio auf dem Arm die kleine Wohnung betrat und ihre beste Freundin lächelnd begrüÃte. âAlles Gute!â Sie setzte den kleinen Jungen, welcher sogleich auf Ana zustürmte, auf den Boden ab und schloss Lillian in ihre Arme. Ihre GroÃmutter hob unterdessen Emilio hoch und küsste ihn auf die Wange. âWie geht es meinem kleinen Cariño?â
Emilios Strahlen umfing den Raum mit einem Mal und tauchte ihn in einen warmen Glanz. âGut.â, sagte er nur, seine zarte Stimme eroberte aber erneut die Herzen der drei Frauen.
Lillian strich ihm sanft über den dunklen Haarschopf. Ihre Finger berührten Emilio dabei nur ganz zaghaft. Als wäre er aus Porzellan und könnte zerbrechen. Er lachte fröhlich und griff nach Lillians Hand. Ein zärtlicher Tränenschimmer durchzog ihre Augen. Sie fragte sich einen Moment, ob Sarah sie auf dieselbe behutsame Art berührt hatte. Ihre Augen richteten sich auf Elena, welche ihren Sohn voller Stolz betrachtete. âJetzt hast du aber genug Aufmerksamkeit erhalten, Querido. Heute ist doch Lillians Geburtstag!â
Emilio musterte Lillian grinsend. âHappy Birthday!â
âDanke, mein Kleiner.â Lillian küsste ihn auf die Stirn.
Elena tauschte einen Blick mit Ana. âIch denke, sie ist nun bereit.â, meinte erstere. Letztere gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie ihr zustimmt.
âWas habt ihr vor?â Ãber Lillians Stirn zog sich eine tiefe Falte. Sie musterte die beiden Frauen misstrauisch.
Elena zog eine kleine rechteckige, schwarze Schachtel aus ihrer Tasche und reichte sie ihrer Freundin. âVon Ana, Emilio und mir. Alles Gute zum Geburtstag.â
Lillian musterte das Päckchen in ihrer Hand. Es schien plötzlich einen Kilo zu wiegen. âAber das wäre doch nicht notwendig gewesen. Das schönste ist, dass ihr hier seid...â Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe. Ana und Elena hatten genügend Geldsorgen.
âNun mach schon.â, drängte die GroÃmutter ungeduldig.
âAufmachen!â, quietschte Emilio und klatschte mit seinen kleinen Händen.
Lillian löste die Masche des weiÃen Bandes und öffnete die Schachtel. Zum Vorschein kam eine Kette mit einem Kreuz als Anhänger. Die Sonnenstrahlen schienen sich mit dem Silber des Schmucks zu vereinen. Lillian verschlug es den Atem. âSie ist wunderschön. Vielen Dank.â Elena half ihrer Freundin die Kette anzulegen.
âSie steht dir.â Ana lächelte.
Lillian schüttelte den Kopf. âIhr hättet sie dennoch nicht kaufen dürfen. Sie war gewiss teuer...â
Ana strich ihr über die Wange. âCariña, wenn ich dir schon kein Studium finanzieren kann, sollst du zumindest ein Schmuckstück bekommen. Es soll dich dein Leben lang beschützen.â
Lillian umarmte zuerst ihre GroÃmutter, dann ihre beste Freundin. âDas wird es gewiss.â
Plötzlich klopfte es an der Tür. Lillian runzelte verwundert die Stirn.
âMein zweites Geschenk.â Ana reichte Emilio seiner Mutter und ging zur Tür, welche sie lächelnd öffnete. âKomm herein.â
Arturo schenkte Lillian und Elena ein Lächeln, bevor er sich an Ana wandte. âVielen Dank für die Einladung, Señora.â
âOh nein!â, entfuhr es Lillian. Die anderen musterten sie erstaunt. âDas Essen. Ich wusste nicht, dass du auch kommen würdest. Es ist sicherlich zu wenig.â
Arturo strich ihr grinsend durchs Haar. âWas für eine BegrüÃung.â
Lillian lächelte. âEntschuldige. Ich freue mich, dass du hier bist.â Sie umarmte und küsste ihn sanft. âAber normalerweise gehst du in deiner Mittagspause mit deinen Kollegen doch immer zu Ed.â
âJa, das ist in der Tat ein Problem. Ohne meine glänzende Anwesenheit wird der Laden wohl nicht gehen.â Er zwinkerte ihr zu, ehe er sich an Elena wandte. âSie sehen von Tag zu Tag bezaubernder aus, Señorita.â
Elenas Wangen röteten sich. âLass das.â Sie machte eine abweisende Handbewegung.
âAber er hat Recht.â Ana betrachtete sie lächelnd.
âDa stimmst du uns doch auch zu, Emilio?â Arturo strich dem Kleinen etwas unbeholfen über den Kopf. Er war ungeübt und daher unsicher beim Umgang mit Kindern. Umso mehr erfreute es ihn, als Emilio ihm ein fröhliches Lächeln schenkte.
Elena rollte mit den Augen und wandte sich an Arturo. âSpar dir die Komplimente für Lillian.â
Ihre Freundin, welche gerade vier Teller und einen kleineren, für Emilio, aus dem kleinen Schrank neben dem Herd zog, zwinkerte amüsiert. âSolange ich die bezauberndste Frau für ihn bleibe, darf er dir ruhig Komplimente machen.â
âWer denn sonst?â Arturo schenkte ihr ein zärtliches Lächeln, ehe er ihr half den kleinen Sofatisch zu decken.
Das gemeinsame Essen verlief harmonisch und fröhlich. Als wären sie eine groÃe, glückliche Familie. Ana, welche nach Rosas Tod zu Lillians zweiter Mutter geworden war. Elena, die Schwester, die sie niemals hatte. Emilio, welchen sie wie einen Neffen, vielleicht sogar wie einen Sohn, liebte. Und Arturo. Das Essen dauerte kaum eine Stunde, und doch schien es wie ein eigenes Leben. So fern von den Schmerzen der Realität. Den Schatten der Vergangenheit. Den Abgründen der Zukunft, welche noch unentdeckt, und deshalb umso gefährlicher, waren. Eines der Dinge, welche Lillian in ihrem Leben gelernt hatte, war, dass alles vergänglich war. Zerbrechlich. Wie feinstes Porzellan.
Nachdem Arturo wieder zurück zur Arbeit gefahren war, gingen Ana und Emilio in ihr Zimmer, um ein wenig zu schlafen. Zuvor hatte die ältere Frau Lillian gebeten, das Geschirr nicht zu waschen, es nur auf die Abwasch zu stellen. Sie würde es später tun, schlieÃlich sei es doch ihr Geburtstag. Doch die Enkeltochter und ihre Freundin lieÃen sich nicht daran hindern. Gemeinsam begannen sie die Teller, Gläser und das Besteck zu waschen, und es schlieÃlich abzutrocknen. Nachdem sie fertig waren, kochte Lillian etwas Kaffee und sie setzten sich auf das alte Sofa. Elena lehnte sich lächelnd an den weichen Stoff und betrachtete das zufriedene Gesicht der Freundin, der Schwester. âWeiÃt du noch?â, fragte sie plötzlich.
Lillian nippte an ihrem Kaffee und presste schmerzvoll die Lippen zusammen, als sie erfahren musste, dass er noch zu heià war, um von ihm zu trinken. âWas meinst du?â
âEs war beinahe wie in unserer Vorstellung...â Elena lächelte leicht. âMit ein paar Schönheitsfehlern...â
Plötzlich wusste Lillian, wovon ihre Freundin sprach.
Das Mädchen schloss die Augen, als es Schwung holte und dem Himmel entgegen flog. Seine Hände ruhten währenddessen locker auf den dicken Seilen der Schaukel. Sein helles Lachen schien das ganze Viertel zu erfüllen. Die Sonne schimmerte auf der dunklen Haut, die Haare flogen sanft mit dem Wind. Das Mädchen hatte keine Angst zu fallen. Scheinbar mitten im Flug sprang es von der alten Schaukel. Seine Augen funkelten vergnügt. âNun bist du an der Reihe.â
Lillian blickte ihre Freundin unsicher an. âIch weià nicht. Die Schaukel ist so alt. Die Seile könnten reiÃen.â
Elena lachte. âDu bist noch immer das verwöhnte Baby aus Brooklyn. Sei doch nicht so ein Feigling. Papá lieÃe mich doch nicht mehr schaukeln, wäre es gefährlich.â Dieses blinde Vertrauen in den Vater kannte Lillian, wenn sie es auch beinahe vergessen hatte. Sie hatte Jorge vollkommen vertraut, ehe er sie im Stich gelassen hatte. Ein spitzer Dolch bohrte sich tief in ihr Herz. Ein Tränenschleier durchzog ihre Augen.
Elenas Stimme wurde mit einem Mal sanft. âLillian...â Sie legte einen Arm um sie. âDu musst nicht, wenn du Angst hast. Gehen wir hinein. Nana hat uns Kuchen gemacht. Mein Bruder wird dich auch gewiss nicht mehr ärgern. Wir sind alle eine Familie. Du bist meine Schwester, hast du das schon vergessen?â Elenas GroÃmutter María war die beste Freundin Anas. Die Mädchen hatten sich vor einem Jahr, wenige Monate nach dem Lillian nach Spanish Harlem gekommen war, durch diese Verbindung kennen gelernt.
Lillian lächelte dankbar.
Elena hängte sich bei ihr ein, während sie auf die Tür des kleinen Hauses zugingen. âWir werden immer Schwestern bleiben, nicht wahr? Ich sehe uns schon vor mir. Nana, Ana, wir mit unseren Ehemännern und Kindern an einem groÃen Tisch. Wir werden alle gemeinsam leben, glücklich und zufrieden, bis ans Ende unserer Tage.â
Lillian blickte sie zweifelnd an, widersprach jedoch nicht. Sie wollte die Freundin nicht verärgern. Elena war stets optimistisch und lieà keinen Zweifel an ihren Träumen zu. Sie flog stets auf die Dinge zu, stellte sich ihnen. Sie hatte keine Angst zu fallen. Ehe sie fiel und scheinbar alles verlor. Das erste Seil riss mit dem Tod Marías, das zweite mit ihrer ungeplanten Schwangerschaft und dem Rauswurf aus ihrem Elternhaus. Nach Estebans Tod verlor sie endgültig die Kraft sich wieder zu erheben.
@Gurke: Danke für dein tolles Feedback! Freut mich, dass dir das Kapitel so gut gefallen hat!
@Zora: Tut mir leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen, SüÃe. Es freut mich aber, dass du so mitfühlst. Das zeigt mir, dass es mir gelungen ist, die Gefühle richtig rüberzubringen. Bin da oft unsicher. Danke für dein tolles Feedback.
@Anne: Danke für deine Worte. Freut mich, dass dir der Teil so gut gefallen hat! Was mit Ana los ist, werdet ihr bald erfahren.
@alle: So, eigentlich hätte ich ja anderes zu tun gehabt , habe aber trotzdem weitergeschrieben *g*
Ich hoffe, euch gefällt der neue Teil und ihr verzeiht die Länge
Freu mich auf jedes Feedback!
Hab euch lieb
Bussi Selene
43. Teil
Stunden, Tage, Jahre schienen vergangen. Die Sonne brannte durch die dünne Jalousien und begann den Raum zunehmend zu erhitzen. Lillian löste sich zögernd von ihrer GroÃmutter und blickte in die dunklen Augen der älteren Frau, welche von einem leichten Tränenschleier durchzogen waren. âDanke.â, flüsterte die Jüngere. Ihr Herz brannte voller Schmerz um den Verlust ihrer geliebten Eltern, voller Dankbarkeit und verzweifelter Liebe Ana gegenüber und voller Angst vor dem, was kommen sollte. Lillian wusste nicht, vor welcher Zukunft sich ihr Herz fürchtete, doch es sagte ihr, dass schon lange nichts mehr so war, wie es einst gewesen war. Sie erinnerte sich an die ersten Wochen bei Ana. Wie launisch und gehässig war sie oftmals der Frau gegenüber gewesen, welche sich ihrer angenommen hatte. Ihr Verhältnis war sehr kompliziert geworden, ehe es so innig werden konnte. Doch an jenem Morgen waren zum ersten Mal seit über zehn Jahren Worte der Zuneigung über Lillians Lippen gekommen. Tiefe Gefühle zuzulassen schien ihr noch immer mit einer groÃen Angst verbunden, dennoch hatte sich etwas in ihr zu verändern begonnen. Inwiefern Sarahs Briefe etwas damit zu tun haben konnten, wusste sie nicht. âCariña, ich bin immer bei dir.â Ana strich ihrer Enkeltochter lächelnd über die Wangen. Lillian erwiderte ihr Lächeln, doch ihre Gesichtszüge begannen sich sogleich wieder zu verspannen. Ein Geheimnis lastete auf ihrem Herzen. Ein Geheimnis, welches, so glaubte sie, das Herz ihrer GroÃmutter brechen konnte. âGroÃmama...es gibt etwas, das ich dir sagen muss...â Lillian räusperte sich leise und begann stockend von der Begegnung mit Oksana, Sarahs Briefen und ihrem Treffen mit Eduardo zu erzählen. Anfangs stoppte sie immer wieder kurz, um die Gesichtszüge ihres Gegenüber zu studieren, doch da sich diese nicht zu verändern schienen, fuhr sie schneller fort. Als sie geendet hatte, schien eine groÃe Last von ihr gewichen. All die Schuldgefühle auf ihrem Herzen schienen leichter.
Ana betrachtete ihre Enkeltochter Stirn runzelnd. âWarum hast du mir nicht eher davon erzählt?â Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte an das Geheimnis, welches sie Lillian beinahe achtzehn Jahre verschwiegen hatte sowie an ein anderes, welches sie der Enkelin noch eine gewisse Zeit vorenthalten musste.
Lillian atmete tief durch. âIch weià es nicht. Es ist eine schwierige Situation. Mamá, Papá und du, ihr werdet stets die einzigen sein, welche ich Familie nenne. Denn ihr habt mir jahrelang Liebe und Geborgenheit geschenkt. Ich hatte Angst, dass ihr es mir nicht verzeihen könntet, wenn ich nach Menschen suche, welche all die Jahre nicht für mich da waren. Ich hatte Angst, dass ihr denken könntet, sie würden euch ersetzen können.â Lillians Stimme wurde fester. âDas könnten sie niemals, das ist vollkommen unmöglich. Aber trotzdem...etwas in mir möchte mehr über sie erfahren. Etwas in mir möchte meine Wurzeln kennen lernen. Mein Herz sagt mir, dass es wichtig ist...â Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf.
Ana hob ihr Kinn. âLillian...Cara, war dein Herz aus diesem Grund die letzten Wochen so schwer?â
Lillian zögerte. âJa.â, antwortete sie schlieÃlich, ohne der GroÃmutter in die Augen zu sehen. Es gab noch andere Gründe, doch diese sollten die ältere Dame zumindest vorerst nicht belasten.
Ana schüttelte den Kopf. âDu hättest es mir sagen müssen...â
Lillian nickte. âEs tut mir leid.â
âEs ist dein gutes Recht etwas über deine Wurzeln zu erfahren. Niemand versteht das so wie ich.â Ana lächelte leicht, doch Lillian entging die Bedrücktheit in den Augen der älteren Frau nicht. Doch ehe sie noch etwas sagen konnte, war ihre GroÃmutter aufgestanden. Ein aufmunterndes Lächeln zierte ihr Gesicht. âHeute ist dein Geburtstag. Wir sollten allmählich aufstehen. Was hältst du davon, wenn wir heute in dem kleinen Cafe zwei StraÃen weiter frühstücken? SchlieÃlich ist doch ein Festtag.â Als Lillian sich nicht bewegte, stemmte Ana die Hände in die Hüften und blickte sie Stirn runzelnd an. âNun komm schon. So kannst du kaum essen gehen. Wir müssen noch duschen und uns umziehen.â Sie blickte auf ihre Armbanduhr, welche sie manchmal sogar über Nacht am Handgelenk lieÃ. âBeeil dich. Man sollte nicht erst so spät in einem Cafe frühstücken. Die Leute denken sonst noch, ich würde den halben Tag verschlafen.â
Der kleine Raum war von einem süÃlichen Duft erfüllt. Eine Mischung aus Kakao, Zimt und dem süÃen Gebäck, welches Juanita wenige Minuten zuvor aus dem groÃen Backofen gezogen hatte. Ana biss genüsslich in ihr Buttercroissant und studierte Lillians Gesichtszüge. Die junge Frau nippte an ihrer Kaffeetasse und lieà den Blick über die fünf Tische schweifen. Ana dachte an das kleine Mädchen, welches sie immer gebeten hatte, Geschichten zu erzählen. Seine Augen hatten gefunkelt. Voller Freude und kindlicher Unschuld. Ana entsann sich dem Tag, an welchem die Unschuld aus den Augen des Mädchens der Angst, dem Kummer gewichen war. Ein leichter Glanz durchzog nun Lillians goldbraune Augen, ihre GroÃmutter vermochte ihn nicht zu deuten. Die junge Frau konzentrierte sich auf ihr Käsebrot, von welchem sie beinahe zaghaft abbiss. Sie wischte sich die Bröseln mit einer Serviette vom Mund und sah hoch, direkt in Anas Augen. Plötzlich runzelte sie die Stirn, als hätte sie die Sorge, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein.
âDu bist eine wunderschöne Frau geworden.â, sagte Ana lächelnd.
Lillian senkte verlegen den Blick. Es war ihr unangenehm als schön bezeichnet zu werden. ÃuÃerlichkeiten waren nebensächlich für sie. âDanke.â Sie nippte erneut an ihrem Kaffee.
âWir waren früher manchmal hier, weiÃt du noch?â
Lillian betrachtete Ana lange, ehe sie nickte. Sie waren früher öfters hier gewesen. Doch das war lange her, in einem früheren Leben. In einem Leben, in welchem ihre Eltern sie noch in die Arme genommen hatten. In einem Leben, in welchem es scheinbar nichts Schlechtes gegeben hatte.
âDein Vater liebte die Croissant. Deine Mutter war hingegen begeistert von den frischgebackenen Semmeln.â
âWer nicht?â Lillian bemühte sich um ein Lächeln und wechselte das Thema. âElena und Emilio werden gegen ein Uhr bei uns sein.â
Ana nickte lächelnd. âWie geht es den beiden?â
Lillian zögerte. âEs geht ihnen gut.â, antwortete sie schlieÃlich.
Ihre GroÃmutter musterte sie prüfend. âEs ist vor drei Jahren passiert, habe ich recht?â
Lillian nickte langsam. âÃbermorgen vor drei Jahren...â
Ana biss sich auf ihre Unterlippe. âUm so wichtiger, dass Elena sich ein wenig ablenkt. Feiert heute Abend schön und kommt mir bloà nicht vor dem frühen Morgen nachhause. Emilio und Elena übernachten ohnehin bei uns.â
âOkay.â Lillian nickte. âDanke.â
âElena ist wie eine zweite Enkeltochter für mich.â Ana lächelte. âHätte ich mehr Geld, würde ich eine gröÃere Wohnung für uns alle kaufen.â Sie strich über Lillians Handrücken.
Ihre Enkeltochter strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Lillian hatte sich früher oft vorgestellt, dass sie studieren und später viel Geld verdienen würde. Sie würde mit ihrer GroÃmutter, Elena und Emilio in eine geräumige Wohnung in einen anderen Teil von New York City ziehen. Doch nun konnte sie sich glücklich schätzen, wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz bekam. âGroÃmama, weiÃt du, sucht jemand eine Aushilfe? In einem Cafe, einem Supermarkt, wo auch immer...â
Ana runzelte die Stirn, schüttelte schlieÃlich den Kopf. âIch werde Consuela fragen. Sie weià gewiss bescheid.â Sie betrachtete ihre Enkeltochter lange. âEs tut mir leid, dass ich dir deinen Wunsch zu studieren nicht erfüllen kann. Weder mein Geld noch das deiner verstorbenen Eltern reicht dafür, nicht wahr? Ich wollte es nicht wahr haben. Habe gebetet, dass du studieren könntest. Das war auch mein Wunsch, und der deiner Eltern. Schon immer. Du solltest studieren und ein besseres Leben führen...â
Lillian drückte Anas Hand. âGroÃmama...â, sie zögerte, â...es stimmt, ich wollte studieren. Möchte es immer noch. Doch das ist nicht das Wichtigste. Mein Leben ist in Ordnung, so wie es ist...â, sie wich Anas Blick aus. â...du hast mir so viel gegeben. Mehr hätte ich nie verlangen können. Und wer sagt denn, dass ich niemals studieren werde. Vielleicht bekomme ich ja nächstes Jahr ein Stipendium, wer weiÃ?â Lillian versuchte selbstsicher zu klingen.
Ana durchschaute sie, beschloss aber, das Thema erst mal ruhen zu lassen. âEventuell kannst du in der Flamenco Bar arbeiten.â
Lillian nickte. âDas wäre für den Anfang bestimmt nicht schlecht. AuÃerdem arbeitete auch Mamá eine Zeit lang dort.â
Nach dem Essen gingen Lillian und Ana noch ein wenig spazieren und sprachen über vergangene Zeiten. Die ältere Frau hatte sich bei der jüngeren eingehenkt und betrachtete sie immer wieder voller Stolz. Mit den frühen Mittagsstunden setzte ein sanfter Wind ein, welcher die Hitze erträglicher machte. Als Anas Kopf zu schmerzen begann, bat sie ihre Enkeltochter wieder nachhause zu gehen. Lillian kochte ihrer GroÃmutter Tee und setzte sich zu ihr auf das Sofa. Ana bat sie nochmals von ihrer Abschlussprüfung zu erzählen, schlief jedoch ein, kaum hatte Lillian begonnen und erwachte erst wieder, als es an der Tür klopfte.
âOh mein Gott!â Sie fuhr in die Höhe. Lillian, welche gerade das Essen zubereitete lächelte ihr zu, ehe sie die Tür öffnete.
âLillian! Das ist dein Geburtstag. Ich wollte für euch kochen.â Ana stemmte die Arme in die Hüften.
âGroÃmama, dein Körper hat Schlaf gebraucht. Ich habe gerne für uns gekocht. Keine Sorge, es ist nichts AuÃergewöhnliches.â Lillian zwinkerte.
Eine zärtliche Wärme erfüllte das Herz der älteren Frau, als Elena mit Emilio auf dem Arm die kleine Wohnung betrat und ihre beste Freundin lächelnd begrüÃte. âAlles Gute!â Sie setzte den kleinen Jungen, welcher sogleich auf Ana zustürmte, auf den Boden ab und schloss Lillian in ihre Arme. Ihre GroÃmutter hob unterdessen Emilio hoch und küsste ihn auf die Wange. âWie geht es meinem kleinen Cariño?â
Emilios Strahlen umfing den Raum mit einem Mal und tauchte ihn in einen warmen Glanz. âGut.â, sagte er nur, seine zarte Stimme eroberte aber erneut die Herzen der drei Frauen.
Lillian strich ihm sanft über den dunklen Haarschopf. Ihre Finger berührten Emilio dabei nur ganz zaghaft. Als wäre er aus Porzellan und könnte zerbrechen. Er lachte fröhlich und griff nach Lillians Hand. Ein zärtlicher Tränenschimmer durchzog ihre Augen. Sie fragte sich einen Moment, ob Sarah sie auf dieselbe behutsame Art berührt hatte. Ihre Augen richteten sich auf Elena, welche ihren Sohn voller Stolz betrachtete. âJetzt hast du aber genug Aufmerksamkeit erhalten, Querido. Heute ist doch Lillians Geburtstag!â
Emilio musterte Lillian grinsend. âHappy Birthday!â
âDanke, mein Kleiner.â Lillian küsste ihn auf die Stirn.
Elena tauschte einen Blick mit Ana. âIch denke, sie ist nun bereit.â, meinte erstere. Letztere gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie ihr zustimmt.
âWas habt ihr vor?â Ãber Lillians Stirn zog sich eine tiefe Falte. Sie musterte die beiden Frauen misstrauisch.
Elena zog eine kleine rechteckige, schwarze Schachtel aus ihrer Tasche und reichte sie ihrer Freundin. âVon Ana, Emilio und mir. Alles Gute zum Geburtstag.â
Lillian musterte das Päckchen in ihrer Hand. Es schien plötzlich einen Kilo zu wiegen. âAber das wäre doch nicht notwendig gewesen. Das schönste ist, dass ihr hier seid...â Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe. Ana und Elena hatten genügend Geldsorgen.
âNun mach schon.â, drängte die GroÃmutter ungeduldig.
âAufmachen!â, quietschte Emilio und klatschte mit seinen kleinen Händen.
Lillian löste die Masche des weiÃen Bandes und öffnete die Schachtel. Zum Vorschein kam eine Kette mit einem Kreuz als Anhänger. Die Sonnenstrahlen schienen sich mit dem Silber des Schmucks zu vereinen. Lillian verschlug es den Atem. âSie ist wunderschön. Vielen Dank.â Elena half ihrer Freundin die Kette anzulegen.
âSie steht dir.â Ana lächelte.
Lillian schüttelte den Kopf. âIhr hättet sie dennoch nicht kaufen dürfen. Sie war gewiss teuer...â
Ana strich ihr über die Wange. âCariña, wenn ich dir schon kein Studium finanzieren kann, sollst du zumindest ein Schmuckstück bekommen. Es soll dich dein Leben lang beschützen.â
Lillian umarmte zuerst ihre GroÃmutter, dann ihre beste Freundin. âDas wird es gewiss.â
Plötzlich klopfte es an der Tür. Lillian runzelte verwundert die Stirn.
âMein zweites Geschenk.â Ana reichte Emilio seiner Mutter und ging zur Tür, welche sie lächelnd öffnete. âKomm herein.â
Arturo schenkte Lillian und Elena ein Lächeln, bevor er sich an Ana wandte. âVielen Dank für die Einladung, Señora.â
âOh nein!â, entfuhr es Lillian. Die anderen musterten sie erstaunt. âDas Essen. Ich wusste nicht, dass du auch kommen würdest. Es ist sicherlich zu wenig.â
Arturo strich ihr grinsend durchs Haar. âWas für eine BegrüÃung.â
Lillian lächelte. âEntschuldige. Ich freue mich, dass du hier bist.â Sie umarmte und küsste ihn sanft. âAber normalerweise gehst du in deiner Mittagspause mit deinen Kollegen doch immer zu Ed.â
âJa, das ist in der Tat ein Problem. Ohne meine glänzende Anwesenheit wird der Laden wohl nicht gehen.â Er zwinkerte ihr zu, ehe er sich an Elena wandte. âSie sehen von Tag zu Tag bezaubernder aus, Señorita.â
Elenas Wangen röteten sich. âLass das.â Sie machte eine abweisende Handbewegung.
âAber er hat Recht.â Ana betrachtete sie lächelnd.
âDa stimmst du uns doch auch zu, Emilio?â Arturo strich dem Kleinen etwas unbeholfen über den Kopf. Er war ungeübt und daher unsicher beim Umgang mit Kindern. Umso mehr erfreute es ihn, als Emilio ihm ein fröhliches Lächeln schenkte.
Elena rollte mit den Augen und wandte sich an Arturo. âSpar dir die Komplimente für Lillian.â
Ihre Freundin, welche gerade vier Teller und einen kleineren, für Emilio, aus dem kleinen Schrank neben dem Herd zog, zwinkerte amüsiert. âSolange ich die bezauberndste Frau für ihn bleibe, darf er dir ruhig Komplimente machen.â
âWer denn sonst?â Arturo schenkte ihr ein zärtliches Lächeln, ehe er ihr half den kleinen Sofatisch zu decken.
Das gemeinsame Essen verlief harmonisch und fröhlich. Als wären sie eine groÃe, glückliche Familie. Ana, welche nach Rosas Tod zu Lillians zweiter Mutter geworden war. Elena, die Schwester, die sie niemals hatte. Emilio, welchen sie wie einen Neffen, vielleicht sogar wie einen Sohn, liebte. Und Arturo. Das Essen dauerte kaum eine Stunde, und doch schien es wie ein eigenes Leben. So fern von den Schmerzen der Realität. Den Schatten der Vergangenheit. Den Abgründen der Zukunft, welche noch unentdeckt, und deshalb umso gefährlicher, waren. Eines der Dinge, welche Lillian in ihrem Leben gelernt hatte, war, dass alles vergänglich war. Zerbrechlich. Wie feinstes Porzellan.
Nachdem Arturo wieder zurück zur Arbeit gefahren war, gingen Ana und Emilio in ihr Zimmer, um ein wenig zu schlafen. Zuvor hatte die ältere Frau Lillian gebeten, das Geschirr nicht zu waschen, es nur auf die Abwasch zu stellen. Sie würde es später tun, schlieÃlich sei es doch ihr Geburtstag. Doch die Enkeltochter und ihre Freundin lieÃen sich nicht daran hindern. Gemeinsam begannen sie die Teller, Gläser und das Besteck zu waschen, und es schlieÃlich abzutrocknen. Nachdem sie fertig waren, kochte Lillian etwas Kaffee und sie setzten sich auf das alte Sofa. Elena lehnte sich lächelnd an den weichen Stoff und betrachtete das zufriedene Gesicht der Freundin, der Schwester. âWeiÃt du noch?â, fragte sie plötzlich.
Lillian nippte an ihrem Kaffee und presste schmerzvoll die Lippen zusammen, als sie erfahren musste, dass er noch zu heià war, um von ihm zu trinken. âWas meinst du?â
âEs war beinahe wie in unserer Vorstellung...â Elena lächelte leicht. âMit ein paar Schönheitsfehlern...â
Plötzlich wusste Lillian, wovon ihre Freundin sprach.
Das Mädchen schloss die Augen, als es Schwung holte und dem Himmel entgegen flog. Seine Hände ruhten währenddessen locker auf den dicken Seilen der Schaukel. Sein helles Lachen schien das ganze Viertel zu erfüllen. Die Sonne schimmerte auf der dunklen Haut, die Haare flogen sanft mit dem Wind. Das Mädchen hatte keine Angst zu fallen. Scheinbar mitten im Flug sprang es von der alten Schaukel. Seine Augen funkelten vergnügt. âNun bist du an der Reihe.â
Lillian blickte ihre Freundin unsicher an. âIch weià nicht. Die Schaukel ist so alt. Die Seile könnten reiÃen.â
Elena lachte. âDu bist noch immer das verwöhnte Baby aus Brooklyn. Sei doch nicht so ein Feigling. Papá lieÃe mich doch nicht mehr schaukeln, wäre es gefährlich.â Dieses blinde Vertrauen in den Vater kannte Lillian, wenn sie es auch beinahe vergessen hatte. Sie hatte Jorge vollkommen vertraut, ehe er sie im Stich gelassen hatte. Ein spitzer Dolch bohrte sich tief in ihr Herz. Ein Tränenschleier durchzog ihre Augen.
Elenas Stimme wurde mit einem Mal sanft. âLillian...â Sie legte einen Arm um sie. âDu musst nicht, wenn du Angst hast. Gehen wir hinein. Nana hat uns Kuchen gemacht. Mein Bruder wird dich auch gewiss nicht mehr ärgern. Wir sind alle eine Familie. Du bist meine Schwester, hast du das schon vergessen?â Elenas GroÃmutter María war die beste Freundin Anas. Die Mädchen hatten sich vor einem Jahr, wenige Monate nach dem Lillian nach Spanish Harlem gekommen war, durch diese Verbindung kennen gelernt.
Lillian lächelte dankbar.
Elena hängte sich bei ihr ein, während sie auf die Tür des kleinen Hauses zugingen. âWir werden immer Schwestern bleiben, nicht wahr? Ich sehe uns schon vor mir. Nana, Ana, wir mit unseren Ehemännern und Kindern an einem groÃen Tisch. Wir werden alle gemeinsam leben, glücklich und zufrieden, bis ans Ende unserer Tage.â
Lillian blickte sie zweifelnd an, widersprach jedoch nicht. Sie wollte die Freundin nicht verärgern. Elena war stets optimistisch und lieà keinen Zweifel an ihren Träumen zu. Sie flog stets auf die Dinge zu, stellte sich ihnen. Sie hatte keine Angst zu fallen. Ehe sie fiel und scheinbar alles verlor. Das erste Seil riss mit dem Tod Marías, das zweite mit ihrer ungeplanten Schwangerschaft und dem Rauswurf aus ihrem Elternhaus. Nach Estebans Tod verlor sie endgültig die Kraft sich wieder zu erheben.