23.11.2011, 21:41
[SIZE=2]so. weiter gehts.[/SIZE]
Vierzehn
Juli 2009
Es hatte schon immer diese Momente gegeben, in denen sie ihm völlig fremd war. Momente, in denen er nicht wusste, was er sagen sollte, oder nicht wusste, was sie als nächstes tun würde. Simon kannte Anne besser als alle anderen, er wusste mehr über sie als sie glaubte – vielleicht sogar manchmal mehr, als sie selbst über sich wusste – aber manchmal war all dieses Wissen nutzlos. Dann stand er da wie ein Trottel und fühlte sich schlimmer als in einer Matheprüfung, ganz allein mit der Unfähigkeit, den nächsten Schritt zu überlegen. Und das schlimmste von allem war, dass sie meistens selbst nicht wusste, wie man ihr helfen konnte. Es waren Momente wie diese, die Simon daran zweifeln lieÃen, dass ihre Freundschaft wirklich so besonders war.Auch jetzt war wieder so ein Moment, und er wünschte, er wäre einfach wieder gegangen, als sie ihre Gartentür nicht geöffnet hatte. Wie üblich aber hatte er nach mehrmaligem Klopfen und Rufen gehen wollen und war dann durch einen allergiebedingten Niesanfall aufgehalten worden- gerade rechtzeitig, denn hätte er sich tatsächlich umgedreht, wäre er womöglich auch noch über mrs. Mistoffelees gefallen, der es sich unmittelbar hinter seinen FüÃen bequem gemacht hatte.
Was er sah, als er den Kater (in Angst, er würde ihm sonst nach hause folgen) mit Hilfe seines Ersatzschlüssels in die Wohnung lieÃ, zwang ihn jedoch zum bleiben.
Es war dunkel in der Wohnung und er sah nur ihre Umrisse im gedämpften Licht des Aquariums. In der Hand hielt sie eine dampfende Teetasse, der Wasserhahn in der Küche tropfte und verursachte ein unheimliches hohles Klopfen, das die ganze Wohnung durchdrang und perfekt zu dem verwirrten Guppy passte, der im selben Rhythmus scheinbar unbeirrt immer wieder gegen die Scheibe des Aquariums schwamm. Simon blinzelte verwirrt und schaltete eine kleine Stehlampe anstatt der Deckenbeleuchtung, um sie nicht zu erschrecken.
„Annie? Du magst keinen Tee.“, erklärte er und setzte sich neben sie aufs Sofa.
Mrs. Mistoffelees sprang ihr haarwolkenverbreitend auf den Schoà und schaute sie ebenso argwöhnisch an wie Simon. Er schien ebenfalls verwirrt zu sein und stupste sie besorgt mit der Schnauze an, und das erste Mal in seinem Leben empfand Simon eine gewisse Sympathie für den anaphylaktischen Schock auf vier Beinen.
Anne kraulte dem dicken Kater abwesend den Kopf und sah Simon nicht an.
„Ja, ich weiÃ. Ist auch eklig. Ich dachte das wirkt beruhigend, weil das immer alle sagen.“, versuchte sie zu erklären und hielt ihm die Tasse hin.
„Trink du ihn, ich kann damit nichts anfangen.“
Simon stellte die Tasse auf den Couchtisch und nieste, woraufhin der Kater wie immer unter dem Schrank verschwand. Anne lachte leise.
„Was ist denn los? Wozu brauchst du Beruhigung?“, fragte Simon, nachdem er sich die Nase geputzt hatte, und legte den Kopf schief.
„Ich hab wieder schlecht geträumt.“, sagte sie und er nickte nur. Alpträume hatte sie oft.
„Und dann hab ich gedacht, das kann so nicht weitergehen.“
Das hatte sie auch oft.
„Und dann hab ich die Namen der Polizisten, die bei dem Brand bei meinen Eltern ermittelt hatten, im Telefonbuch gesucht. Du weiÃt ja, die waren schon in Rente, und die Polizei wollte mir keine Nummer geben und die hatten beide so Allerweltsnamen... das waren hunderte im Telefonbuch!“
Er nickte nur und bedeutete ihr, weiter zu reden.
„Und dann hab ich die einfach alle angerufen. Nachgefragt, ob jemand einen Polizisten a. D. kennt. Und einen Privatdetektiv angestellt, der mir dabei geholfen hat. Und ich hab sie gefunden. Beide.“
„Echt?“
So weit war sie nie gegangen. Bisher hatte sie bei dem Namenssalat im Telefonbuch immer aufgegeben und gehofft, dass sie irgendwann auch so die Nummern bekommen würde.
„Ja. Echt. Und rate mal wo ich sie gefunden hab?“
„Naja, irgendwo in der Stadt schätz ich?“
Sie lachte bitter und stand auf.
„Genau. In der Stadt. Einer ist auf dem Hauptfriedhof, Grab 28, Reihe 88. Und der andere...“ Sie brach ab, schüttete etwas Katzenfutter in den Napf und drehte sich dann ruckartig wieder zu Simon um.
„Der andere ist im Altenheim an der FärberstraÃe. Im Eichenhof, das ist die Sonderstation für extra schwere Demenzfälle. Der kann mir bestimmt sagen was damals war.“
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Wahrscheinlich konnte man jetzt eine gewisse Ãhnlichkeit zwischen ihm und dem armen Guppy im Aquarium feststellen, der immer noch nicht gerafft hatte, dass die Scheibe nur durchsichtig, aber nicht durchlässig war.
„Das heiÃt?“, fragte er dämlicher Weise und meinte fast spüren zu können, wie auch er gegen eine unsichtbare Wand schwamm.
„NICHTS.“, keifte sie plötzlich. „Das heiÃt dass ich NICHTS mehr darüber erfahren werde, wer meine Eltern umgebracht hat, und dass mir NIEMAND sagen kann, was das für Narben sind. Diese scheià Narben, Simon, jeder sieht nur die verdammten Narben in meinem Gesicht und fragt sich wo die herkommen. Die sind ICH! Und ich weià nicht wer ich bin!“
„Annie...Das ist doch nicht wahr.“
Er stand vorsichtig auf und ging auf sie zu, als sie mit einem Ruck die Stehlampe in seine Richtung schubste.
„Jetzt fang du nicht auch noch an zu lügen! Was hast du denn als erstes gedacht, als du mich zum ersten Mal gesehen hast?“
Reflexartig fing er die Lampe gerade noch ab, bevor sie auf den Boden fiel, und blieb stehen.
„Da war ich fünfzehn, Annie. Das ist was ganz anderes. Erwachsene achten da gar nicht so drauf.“
Er wusste dass er log. Aber was sollte er sonst tun? Was sollte er sagen?
Plötzlich nahm sie die Lampe aus seiner Hand und stellte sie wieder auf.
Dann ging sie auf ihn zu und umarmte ihn so plötzlich und fest, dass er nur dastand und vor Ãberraschung und Verwirrung erstarrte.
Bevor er reagieren konnte, lieà sie ihn wieder los und schüttelte den Kopf.
„Du reparierst mir doch bestimmt den Wasserhahn, oder? Ich sollte mal duschen gehen.“
Er nickte langsam und sah ihr mit groÃen Augen nach. Es faszinierte ihn immer wieder, dass sie in so merkwürdigen einseitigen Gesprächen doch Trost zu finden schien.
Nein, manchmal verstand er sie nicht im Geringsten. Aber sie schien das nicht zu stören.
*
August 2009
Das Tor quietschte so laut, als wollte es bestätigen, dass es mindestens drei mal so alt war wie die Bewohner des Altenheims, die es bewachte. Anne zog ihren Minirock glatt und hoffte, dass sie das Heim auch betreten durfte, wenn ihre Kleidung durchaus aufreizend schien. Es war so furchtbar heiÃ, dass sie keine anderen passenden Kleidungsstücke in ihrem Schrank gefunden hatte, die Sonne knallte hochmotiviert vom Himmel und spiegelte sich in dem umzäunten Teich im Vorgarten des Heimes.
Anne sah sich um, doch der Garten war menschenleer - kein Wunder, bei dem Wetter! Schnell betrat Anne die riesige alte Villa, und sofort schlug ihr angenehm kühle Luft entgegen.
Eine Pflegerin in strahlend weiÃer Kleidung wartete an der Rezeption und sprach gegen den Lärm des Ventilators hinter sich an, damit der offenbar schwerhörige Herr, mit dem sie sich unterhielt, sie verstehen konnte. Es klappte nicht.
Anne wartete höflich einige Meter entfernt, obwohl es bei dieser Lautstärke ohnehin nicht möglich war, das Gespräch nicht mitzuhören.
Als der komplizierte Vierwortsatz (die Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit )schlieÃlich bei dem alten Herrn angekommen war, zog dieser seine Schuhe aus, hängte sie sich an den Schnürbändern um den Hals, nickte der Pflegerin freundlich zu und verschwand. Die Pflegerin lächelte milde und wandte sich dann an Anne.
„Was kann ich für sie tun? Sind sie zu Besuch hier?“, fragte sie freundlich und reichte ihr eine Flasche Desinfektionsspray.
„Es geht grad wieder eine Krankheitswelle um, das soll hier gar nicht erst ausbrechen, dankeschön.“
Anne desinfizierte gehorsam ihre Hände und beantwortete dabei die Frage der Pflegerin.
„Ja, ich bin zu Besuch, aber nicht für Familie. Geht das auch?“
„Wohin wollen sie denn?“
„Herr Mayer? Ehemaliger Polizist.“
Sie strich sich nervös über die Narbe am Hals und wartete gespannt, doch die Antwort kam schnell.
„Der war grad hier. Bekommt sonst nie Besuch. Möchten sie etwas über einen seiner Fälle wissen?“
Anne nickte und ihr Mut sank.
„Der Herr mit den Schuhen?“, fragte sie leise und die Pflegerin strahlte. „Ja! Er redet den ganzen Tag nur von seinen Fällen, kommen sie, er wird sich freuen seine Geschichten erzählen zu können!“
Sie kam hinter der Rezeption hervor und zeigte auf den Aufzug.
„Ganz nach oben, ich muss ihnen aufschlieÃen, es ist eine geschlossene Station.“
Anne folgte ihr sprachlos. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Würde sie hier ihre Antworten finden? Der Aufzug fuhr ruckartig an und sie klammerte sich an einen Griff. Die Pflegerin begann wieder leise zu sprechen.
„Da oben ist es etwas... anders.“, erklärte sie zögerlich. „Ich hoffe sie lassen sich davon nicht abschrecken. Und erwarten sie nicht zu viel von Herrn Mayer. Er wirft viel durcheinander und erfindet auch einiges...“
Anne nickte, obwohl es schon zu spät war: Sie hatte bereits viel zu hohe Erwartungen. Es musste einfach klappen! Wenn sie dem Geheimnis um ihre Vergangenheit nicht endlich näher kommen würde, würde sie noch verzweifeln.
„Viel Glück.“, sagte die Pflegerin und schloss die Stationstür auf. Anne betrat die Station und fand den ehemaligen Kriminalhauptkommissar sofort. In ihrem Magen vermischten sich Erwartung, Freude, Aufregung und Angst zu einem groÃen Klumpen. Noch immer trug er die Schuhe um den Hals.
„Herr Mayer?“
Er musste etwa 75 Jahre alt sein, so schätzte Anne, als sie ihm bei einem Kaffee gegenüber saÃ. Er war zunächst sehr unsicher gewesen, hatte bei ihrem Anblick die Hände auf seine Schuhe gelegt und sich verwirrt umgesehen.
Sie hatte sich gesetzt und ihm erklärt, dass er sie nicht kannte und warum sie hier war. Als sie die Worte „ein Fall von ihnen“ aussprach, bekamen seine Augen einen seltsamen nostalgischen Glanz und er lächelte.
„Warum tragen sie ihre Schuhe um den Hals?“, fragte Anne und nahm sich einen Keks, den er ihr stolz angeboten hatte. Er war stolz auf sein groÃes Einzelzimmer, das er „die Junggesellenbude“ nannte.
Jetzt errötete er und nahm die Schuhe ab.
„Ich habe sie mir umgehängt, weil auf dem Trainingskurs eine Stelle ist, die man ohne Schuhe laufen muss. Dann hab ich sie wohl vergessen. Manchmal bin ich... vergesslich. Ein bisschen. Das sagt mein Partner auch immer.“
Anne versuchte, nicht daran zu denken, dass sein Partner nach ihren Nachforschungen bereits vor 10 Jahren gestorben war und der „Trainingskurs“ nur ein Flur des Altenheims zu sein schien. Sie wollte ihn in seiner Illusion lassen.
„Ach so! Ja, das stimmt, wissen sie, ich bin auch vergesslich. Ich gehe oft vom einen Raum in den Anderen und vergesse dabei, was ich dort wollte.“
Sie lachte und nahm noch einen Keks. Mayer lächelte zufrieden.
„Sie sind wegen des Becker- Brands hier, richtig?“, fragte er plötzlich, und Anne verschluckte sich an ihrem Kaffee.