27.11.2011, 19:30
habe mich sehr übers feedback gefreut, besonders über das von ines- durchschaut? das ist eine von meinen dreizehn trillionen ideen, da hast du recht:p leider weià ich ja selbst noch nicht, welche es am ende wird...
Sechzehn
âNun, wie könnte ich das übersehen?â, entgegnete dieser und senkte den Kopf.
âSie sind das kleine Mädchen, richtig? Anne, Anne Becker. Sie waren drei Jahre alt, damals, und so klein...â
Anne nickte, stumm vor Erstaunen und Aufregung, und wartete, dass Mayer weiter sprechen würde.
Der alte Herr schenkte ihr noch Kaffee nach, reichte ihr abermals den Keksteller und sprach bedächtig weiter.
âNun, wissen Sie... Ich habe mir gedacht, dass Sie irgendwann vorbeikommen würden. Ich hatte gehofft, dass mein Partner dann noch leben würde. Aber er ist leider schon vor zehn Jahren gestorben, das wissen sie bestimmt. Ich muss sagen, ich habe immer daran gezweifelt, ob es richtig war.â
Anne hielt den Keks nur in der Hand und starrte Mayer an. Auf einmal schien er wieder in der Gegenwart angekommen und völlig klar zu sein. Aber wovon sprach er?
âWas möchtest du wissen, Kind?â
Er sah in seine Kaffeetasse, als ob er darin die Vergangenheit sehen konnte. Anne fühlte sich fast versucht, aufzustehen und ihm über die Schulter zu sehen.
âAlles.â, sagte sie schlieÃlich entschlossen.
â Ich muss wissen, woher die Narben kommen, ich muss wissen, wer meine Eltern getötet hat.
Ich kann mich nicht erinnern, was damals passiert ist, und ich habe erst an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren, dass es kein Unfall war.â
âSo wollte es dein Vater.â, antwortete Mayer leise und sah von der Kaffeetasse auf. Anne erkannte, dass der Glanz in seinen Augen kein nostalgischer Glanz mehr war. Fast hätte sie schwören können, dort ein Tränenglitzern zu sehen, aber er sah nicht so aus wie jemand, der weinte.
âSie kannten meinen Vater?â, fragte sie, und er schüttelte den Kopf.
âNein, nicht wirklich.â
Wieder sah er in seinen Kaffee, und Anne wurde es ein bisschen unwohl. Sie sah sich in der âJunggesellenbudeâ um und wartete darauf, dass er weitersprach. An der Wand hing ein Bild von Mayer in jüngeren Jahren, Arm in Arm mit einem Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah.
âDas ist mein Bruder.â, sagte er, als er ihrem Blick folgte.
âEr war zwei Jahre älter als ich aber wir waren wie Zwillinge. Er ist gestorben, als ich noch im Dienst war.â
âDas tut mir leid.â, flüsterte sie fast. Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie nur hier war, um Antworten zu finden, und nicht, um diesem alten Herrn eine Freude zu machen oder den vielen Geschichten zu lauschen, die er noch zu erzählen hatte. Sie nahm sich in diesem Moment vor, ihn öfter zu besuchen. Jetzt aber wollte sie endlich wissen, was sie schon immer beschäftigt hatte.
âHerr Mayer? Was ist damals wirklich passiert? Woran haben sie gezweifelt, ob es richtig war?â
Mayer nahm sich dieses Mal selbst einen Keks, sah sie lange nachdenklich an und kaute dabei bedächtig.
âKind...â, sagte er schlieÃlich und fixierte seinen Blick auf ihrer Narbe im Gesicht.
âIch fürchte, das habe ich vergessen.â
Deshalb, und weil sie nur immer mehr Fragen fand, ohne auf Antworten zu stoÃen. Aber heute sollte es ganz anders sein.
An der Rezeption traf sie wieder auf die Pflegerin, die sie schon bei ihrem letzten Besuch kennen gelernt hatte.
Als diese sie ihrerseits erkannte, ertappte sich Anne dabei, darüber nachzudenken, ob sie sie an ihren Narben erkannte oder vielleicht doch an ihrer Frisur, ihrem Lächeln oder ihrer Gangart. Sie schüttelte den Gedanken ab, der sich bei jeder Begegnung in ihren Kopf zu schleichen schien, und grüÃte die Pflegerin freundlich.
âMöchten sie wieder zu Herrn Mayer? Der ist gerade unterwegs.â
Anne legte den Kopf schief. Unterwegs? Soweit sie wusste, bekam Mayer nie Besuch, und allein durfte er die Station doch nicht verlassen, wenn es eine geschlossene war? Ihr fiel wieder ein, dass sie Mayer zu ersten Mal ebenfalls auÃerhalb der geschlossenen Station getroffen hatte â unten an der Rezeption. Jetzt erst wunderte sie sich darüber.
âSagen sie, wieso läuft Herr Mayer eigentlich allein im Haus herum, wenn er auf einer geschlossenen Station lebt?â
Die Pflegerin lachte.
âSagen sie ihm bloà nicht, dass er auf einer geschlossenen Station lebt. Die meiste Zeit über sind die Flure das Polizeirevier und er ist so stolz darauf, dass die Türen nur auf sein Kommando hin geöffnet werden.â
âWie bitte?â
Sie war mehr als überrascht. Das AbschlieÃen der Station war schlieÃlich zur Sicherheit ihrer dementen Bewohner gedacht, die gern irgendwohin wanderten und sich dabei verliefen.
âNun, wir haben ihm ein paar Sonderrechte eingestanden. Er verlässt das Heim nicht, die Rezeption ist immer besetzt und alle kennen ihn. Das SchlieÃen der Station ist mehr zur Beruhigung der Angehörigen, wissen Sie? So groà ist das Heim ja nicht. Und naja, er hat keine Angehörigen, die sich beschweren würden.â
Anne nickte, obwohl sie es noch nicht ganz verstanden hatte. Mayer hielt die Flure im unteren Bereich des Heimes für Trainingsparcours, seine eigene Station für das Polizeirevier und sein Zimmer, welches sich mitten in der âPolizeistationâ befand, für seine Wohnung. Sie war sich nicht sicher, ob man ihn als zurechnungsfähig bezeichnen konnte.
âAuÃerdem...â, sagte die Pflegerin mit einem Zwinkern,â...ist er zwar dement, aber nicht dumm. Das sollten Sie auch im Hinterkopf behalten, wenn Sie mit ihm sprechen. Es steckt immer noch ein ziemlich guter Polizist in ihm!â
Anne fand Mayer auf seinem Trainingskurs. Es war faszinierend, wie er um die Essenswagen herum joggte, als befände er sich auf einem âTrimm Dichâ-Pfad â und alle anderen Menschen, Bewohner ebenso wie Besucher und Pfleger, schienen überhaupt nichts seltsames daran zu finden.
Eine Dame mit Lockenwicklern, die mit ihrer Familie an einem Tisch im Café saÃ, winkte ihm sogar und schimpfte anschlieÃend mit ihrem ausgestopften Pudel, dass er die Jogger nicht immer anbellen sollte.
Anne kam es in den Sinn, dass alt werden â selbst, wenn man senil wurde â gar nicht so schlimm sein konnte, wenn man an einem Ort landete, an dem einen alle verstanden.
Dann jedoch fiel ihr wieder ein, dass sie selbst einmal an so einem Ort gelebt hatte, wo einen jeder irgendwie verstand â aber so richtig hatte man dort doch niemand verstehen können.
Als sie genauer hinsah, bemerkte sie auch hier die AuÃenseiter (eine Frau die mit ihrem Strickzeug am Fenster saÃ) und die, die niemand je verstehen würde (eine Frau, die einfach nur so aus dem Fenster starrte und niemanden mehr bemerkte).
Sie war froh, als Mayer vor ihr zum stehen kam, sie einen Moment ansah und dann plötzlich bemerkte, dass er sie tatsächlich erkannte.
âAnne!â, sagte er und lächelte.
Dann schien er zu überlegen.
âWaren wir schon beim 'Du'?â, fragte er zerstreut.
âIch kann mich nicht erinnern. Manchmal bin ich sehr vergesslich. Aber du warst doch schon mal hier, oder?â
Sie lachte und hakte sich bei ihm ein.
âJa, ich war schon mal hier. Und Sie dürfen gern âDuâ zu mir sagen.â
Der alte Polizist lächelte.
âNun, meine Freunde nennen mich einfach nur Mayer.â, sagte er.
âWir hatten damals gleich mehrere Mayers auf dem Polizeirevier, aber ich war der älteste, deshalb durfte ich den Namen behalten. Ich hatte aber mal einen Fall, da hieà der Verdächtige so, und was soll ich dir sagen, es war verwirrend...â, begann er seine Geschichte und führte Anne zu seinem Zimmer.
Sie hatten wieder einmal Kaffee getrunken und Kekse gegessen, während Mayer verschiedenste Anekdoten aus seiner Polizeikarriere erzählte. Doch obwohl sie es sich fest vorgenommen hatte, nicht daran zu denken, wurde Anne ständig wieder bewusst, dass sie dem einzigen Menschen gegenüber saÃ, der wusste, was genau in der Nacht passiert war, als ihre Eltern gestorben waren.
Gerade schnürte sie die neuen Schnürsenkel in seine Schuhe, als er plötzlich die Kaffeetasse abstellte und sie durchdringend ansah.
âEs tut mir leid, Anne. Aber es gibt Versprechen, die man nicht brechen darf.â
Sie stoppte ihre Arbeit und sah auf. Der alte Herr hatte wieder denselben traurigen Ausdruck, den sie schon gesehen hatte, als er das letzte Mal von ihren Eltern gesprochen hatte.
âWas tut dir leid, Mayer? Was für ein Versprechen?â
âMein Partner hat dich damals gefunden. Die Feuerwehr hatte alles weitgehend gelöscht, dein Vater war bereits im Krankenhaus und deine Mutter... â
Er stoppte ab und brauchte eine Weile, um es auszusprechen.
âNun sie war ja schon während des Feuers gestorben.
Man hatte in dem Haus an mehreren Stellen den Brand gelegt, Nachbarn hatten uns gesagt dass es an mehreren Stellen gleichzeitig gequalmt hat, und wir sind um das Haus herum gegangen, um mögliche Eintrittspunkte zu finden, plötzlich kam er mir entgegen, mit dir auf dem Arm. Du hast geblutet, aus Wunden, da wo jetzt deine Narben sind.â
Er stoppte und sah sie an, überlegte wie viel er noch erzählen konnte. Sie schien nicht zu reagieren, aber in ihr drehte sich alles und ein Kribbeln überfiel ihren ganzen Körper.
Sie versuchte, gleichmäÃig weiter zu atmen, während er schlieÃlich weiter sprach.
âDu hast ihn nicht loslassen wollen, und er ist mit dir ins Krankenhaus gefahren. Sie wollten dich dort deinen Vater nicht mehr sehen lassen, weil er fast am ganzen Körper verbrannt war... Ich habe ihn noch im Krankenhaus befragt, aber es war klar, dass er sterben würde.â
Mayer schluckte, als er merkte, dass Annes Unterlippe verdächtig zitterte. Dennoch sprach er weiter.
âIch habe gelogen Anne. Ich erinnere mich an alles, was in der Nacht geschehen ist. Wenn ich dich nur ansehe...
Aber ich kann es dir nicht sagen.â
Anne lieà den Schuh sinken, den sie bis gerade festgehalten hatte.
âWie bitte?â, fragte sie mit wackliger Stimme.
âDein Vater hat mir erzählt wer es war. Und dann...
Er war überall verbrannt, du kannst dir das nicht vorstellen. Er konnte kaum sprechen, wir haben erst später herausfinden können, was genau und warum es passiert ist... aber unter diesen furchtbaren Schmerzen hat er mich um ein Versprechen gebeten.â
Anne schloss die Augen. Sie hatte immer versucht, sich die Schmerzen, die ihre Eltern erleiden hatten müssen, nicht vorzustellen.
Es war ein seltsames Gefühl, Menschen so zu vermissen, die man doch kaum kannte. Sie erinnerte sich nicht an die ersten drei Jahre ihres Lebens, aber sie wusste, dass mit ihren Eltern auch ein Teil von ihr gestorben war, den ihr niemand jemals wiedergeben konnte. Niemals würde sie erfahren, wie ihre Eltern sich kennen gelernt hatten, und niemals war jemand bei ihr gewesen, wenn in ihrem Leben etwas wichtiges passiert war, der sie so liebte, wie Eltern es taten.
Aber das war ihr Schmerz, den sie mit sich herum trug.
Die Schmerzen, unter denen ihr Vater gestorben war, zerfressen und verschlungen von Flammen, die mehrere hundert Grad heià waren, und die Ãngste, die ihre Mutter gehabt haben musste, als sie im obersten Zimmer des Hauses langsam erstickte, hatte sie immer verdrängen wollen.
Sie öffnete ihre Augen, wischte die Tränen mit dem Handrücken ab, die sich leise ihre Wangen hinunter geschlichen hatten, und sah Mayer durchdringend an.
âWas hast du ihm versprochen?â
âIch habe versprochen, dass du nie erfahren wirst, was passiert ist.â
âWas? Aber warum? Ich bin alt genug für die Wahrheit, Mayer, erzähl es mir! Ich hab doch schon an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren, dass es Brandstiftung war, ich brauche die Wahrheit! Was kann so schlimm sein, dass ich es nicht wissen darf?â
âDein Vater wollte nicht, dass du es erfährst. Und man bricht niemals ein Versprechen, das man jemanden auf dem Sterbebett gegeben hat. Niemals. Es tut mir leid.â
Sie sah ihn lange an.
âMayer, wo sind wir?â
âIn meiner Wohnung.â
âWo ist dein Partner?â
âEr kommt nachher zum Pokern.â
Wie konnte er so genau wissen, was damals passiert war, und alles andere in seine Wahnvorstellungen einbauen? Es war nicht gerecht, dass er ihr die Wahrheit verweigerte, und sich seine eigene bauen durfte.
Anne stand auf und legte den halb geschnürten Schuh auf ihren Stuhl, dann ging sie zur Tür und sah sich noch einmal zu ihm um, bevor sie ging. Ihre Stimme klang kalt und eisern.
âEr ist tot, Herr Mayer. Und Sie sind im Altenheim, auf einer geschlossenen Station. Für Verrückte.â
Der alte Herr sah sie sprachlos an.
âUnd wissen sie noch was? Niemand besucht sie. Vielleicht haben sie ja Recht, manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen.â
Sie wusste, dass sie soeben seine Illusion zerstört hatte, aber es tat ihr nicht leid.
Jemand, der so viel vergaÃ, sich aber an die Wahrheit, die er wusste, nicht erinnern wollte... hatte ein Leben in Ungewissheit verdient, so wie sie weiter leben musste, jeden Tag aufs Neue, weil er so verdammt stur war.
Im Gegensatz zu ihr würde er morgen wieder vergessen haben, was heute passiert war.
Vielleicht hätte sie auch nicht gewollt, dass er sich ewig erinnern würde, vielleicht würde sie ihm irgendwann seinen Frieden wünschen, dafür, dass er sie vor der Wahrheit hatte bewahren wollen, weil ihr sterbender Vater ihn darum gebeten hatte. Aber heute würde sie nur die Wut spüren, nur den Schmerz, nur die Ungewissheit, die immer weiter zu wachsen schien, bis sie sie bald ganz einnehmen würde.
Im Aufzug wischte sie die Tränen ab und schminkte sich nach. Als die Türen im Erdgeschoss aufgingen, trat sie heraus und man konnte auf ihrem Gesicht keine Spuren von der Suche nach ihrer Vergangenheit finden.
Nur die Narben waren immer noch da.
Sechzehn
August 2009
âWoher wissen sie das?â, fragte Anne den alten Herrn, der plötzlich alles andere als dement schien.âNun, wie könnte ich das übersehen?â, entgegnete dieser und senkte den Kopf.
âSie sind das kleine Mädchen, richtig? Anne, Anne Becker. Sie waren drei Jahre alt, damals, und so klein...â
Anne nickte, stumm vor Erstaunen und Aufregung, und wartete, dass Mayer weiter sprechen würde.
Der alte Herr schenkte ihr noch Kaffee nach, reichte ihr abermals den Keksteller und sprach bedächtig weiter.
âNun, wissen Sie... Ich habe mir gedacht, dass Sie irgendwann vorbeikommen würden. Ich hatte gehofft, dass mein Partner dann noch leben würde. Aber er ist leider schon vor zehn Jahren gestorben, das wissen sie bestimmt. Ich muss sagen, ich habe immer daran gezweifelt, ob es richtig war.â
Anne hielt den Keks nur in der Hand und starrte Mayer an. Auf einmal schien er wieder in der Gegenwart angekommen und völlig klar zu sein. Aber wovon sprach er?
âWas möchtest du wissen, Kind?â
Er sah in seine Kaffeetasse, als ob er darin die Vergangenheit sehen konnte. Anne fühlte sich fast versucht, aufzustehen und ihm über die Schulter zu sehen.
âAlles.â, sagte sie schlieÃlich entschlossen.
â Ich muss wissen, woher die Narben kommen, ich muss wissen, wer meine Eltern getötet hat.
Ich kann mich nicht erinnern, was damals passiert ist, und ich habe erst an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren, dass es kein Unfall war.â
âSo wollte es dein Vater.â, antwortete Mayer leise und sah von der Kaffeetasse auf. Anne erkannte, dass der Glanz in seinen Augen kein nostalgischer Glanz mehr war. Fast hätte sie schwören können, dort ein Tränenglitzern zu sehen, aber er sah nicht so aus wie jemand, der weinte.
âSie kannten meinen Vater?â, fragte sie, und er schüttelte den Kopf.
âNein, nicht wirklich.â
Wieder sah er in seinen Kaffee, und Anne wurde es ein bisschen unwohl. Sie sah sich in der âJunggesellenbudeâ um und wartete darauf, dass er weitersprach. An der Wand hing ein Bild von Mayer in jüngeren Jahren, Arm in Arm mit einem Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah.
âDas ist mein Bruder.â, sagte er, als er ihrem Blick folgte.
âEr war zwei Jahre älter als ich aber wir waren wie Zwillinge. Er ist gestorben, als ich noch im Dienst war.â
âDas tut mir leid.â, flüsterte sie fast. Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie nur hier war, um Antworten zu finden, und nicht, um diesem alten Herrn eine Freude zu machen oder den vielen Geschichten zu lauschen, die er noch zu erzählen hatte. Sie nahm sich in diesem Moment vor, ihn öfter zu besuchen. Jetzt aber wollte sie endlich wissen, was sie schon immer beschäftigt hatte.
âHerr Mayer? Was ist damals wirklich passiert? Woran haben sie gezweifelt, ob es richtig war?â
Mayer nahm sich dieses Mal selbst einen Keks, sah sie lange nachdenklich an und kaute dabei bedächtig.
âKind...â, sagte er schlieÃlich und fixierte seinen Blick auf ihrer Narbe im Gesicht.
âIch fürchte, das habe ich vergessen.â
*
September 2009
Als Anne das nächste Mal zu Besuch kam, war sie vorbereitet. Sie hatte sich alle Hoffnungen ausgeredet, hatte neue Schnürsenkel für seine zerschlissenen Schuhe mitgebracht und sich selbst mehrmals eingeschärft, ihn nicht auf den Brand anzusprechen. Als sie das letzte Mal gegangen war, hatte er so traurig ausgesehen, weil er ihr nicht helfen konnte, dass sie noch Nächte danach schlecht geschlafen hatte. Deshalb, und weil sie nur immer mehr Fragen fand, ohne auf Antworten zu stoÃen. Aber heute sollte es ganz anders sein.
An der Rezeption traf sie wieder auf die Pflegerin, die sie schon bei ihrem letzten Besuch kennen gelernt hatte.
Als diese sie ihrerseits erkannte, ertappte sich Anne dabei, darüber nachzudenken, ob sie sie an ihren Narben erkannte oder vielleicht doch an ihrer Frisur, ihrem Lächeln oder ihrer Gangart. Sie schüttelte den Gedanken ab, der sich bei jeder Begegnung in ihren Kopf zu schleichen schien, und grüÃte die Pflegerin freundlich.
âMöchten sie wieder zu Herrn Mayer? Der ist gerade unterwegs.â
Anne legte den Kopf schief. Unterwegs? Soweit sie wusste, bekam Mayer nie Besuch, und allein durfte er die Station doch nicht verlassen, wenn es eine geschlossene war? Ihr fiel wieder ein, dass sie Mayer zu ersten Mal ebenfalls auÃerhalb der geschlossenen Station getroffen hatte â unten an der Rezeption. Jetzt erst wunderte sie sich darüber.
âSagen sie, wieso läuft Herr Mayer eigentlich allein im Haus herum, wenn er auf einer geschlossenen Station lebt?â
Die Pflegerin lachte.
âSagen sie ihm bloà nicht, dass er auf einer geschlossenen Station lebt. Die meiste Zeit über sind die Flure das Polizeirevier und er ist so stolz darauf, dass die Türen nur auf sein Kommando hin geöffnet werden.â
âWie bitte?â
Sie war mehr als überrascht. Das AbschlieÃen der Station war schlieÃlich zur Sicherheit ihrer dementen Bewohner gedacht, die gern irgendwohin wanderten und sich dabei verliefen.
âNun, wir haben ihm ein paar Sonderrechte eingestanden. Er verlässt das Heim nicht, die Rezeption ist immer besetzt und alle kennen ihn. Das SchlieÃen der Station ist mehr zur Beruhigung der Angehörigen, wissen Sie? So groà ist das Heim ja nicht. Und naja, er hat keine Angehörigen, die sich beschweren würden.â
Anne nickte, obwohl sie es noch nicht ganz verstanden hatte. Mayer hielt die Flure im unteren Bereich des Heimes für Trainingsparcours, seine eigene Station für das Polizeirevier und sein Zimmer, welches sich mitten in der âPolizeistationâ befand, für seine Wohnung. Sie war sich nicht sicher, ob man ihn als zurechnungsfähig bezeichnen konnte.
âAuÃerdem...â, sagte die Pflegerin mit einem Zwinkern,â...ist er zwar dement, aber nicht dumm. Das sollten Sie auch im Hinterkopf behalten, wenn Sie mit ihm sprechen. Es steckt immer noch ein ziemlich guter Polizist in ihm!â
Anne fand Mayer auf seinem Trainingskurs. Es war faszinierend, wie er um die Essenswagen herum joggte, als befände er sich auf einem âTrimm Dichâ-Pfad â und alle anderen Menschen, Bewohner ebenso wie Besucher und Pfleger, schienen überhaupt nichts seltsames daran zu finden.
Eine Dame mit Lockenwicklern, die mit ihrer Familie an einem Tisch im Café saÃ, winkte ihm sogar und schimpfte anschlieÃend mit ihrem ausgestopften Pudel, dass er die Jogger nicht immer anbellen sollte.
Anne kam es in den Sinn, dass alt werden â selbst, wenn man senil wurde â gar nicht so schlimm sein konnte, wenn man an einem Ort landete, an dem einen alle verstanden.
Dann jedoch fiel ihr wieder ein, dass sie selbst einmal an so einem Ort gelebt hatte, wo einen jeder irgendwie verstand â aber so richtig hatte man dort doch niemand verstehen können.
Als sie genauer hinsah, bemerkte sie auch hier die AuÃenseiter (eine Frau die mit ihrem Strickzeug am Fenster saÃ) und die, die niemand je verstehen würde (eine Frau, die einfach nur so aus dem Fenster starrte und niemanden mehr bemerkte).
Sie war froh, als Mayer vor ihr zum stehen kam, sie einen Moment ansah und dann plötzlich bemerkte, dass er sie tatsächlich erkannte.
âAnne!â, sagte er und lächelte.
Dann schien er zu überlegen.
âWaren wir schon beim 'Du'?â, fragte er zerstreut.
âIch kann mich nicht erinnern. Manchmal bin ich sehr vergesslich. Aber du warst doch schon mal hier, oder?â
Sie lachte und hakte sich bei ihm ein.
âJa, ich war schon mal hier. Und Sie dürfen gern âDuâ zu mir sagen.â
Der alte Polizist lächelte.
âNun, meine Freunde nennen mich einfach nur Mayer.â, sagte er.
âWir hatten damals gleich mehrere Mayers auf dem Polizeirevier, aber ich war der älteste, deshalb durfte ich den Namen behalten. Ich hatte aber mal einen Fall, da hieà der Verdächtige so, und was soll ich dir sagen, es war verwirrend...â, begann er seine Geschichte und führte Anne zu seinem Zimmer.
Sie hatten wieder einmal Kaffee getrunken und Kekse gegessen, während Mayer verschiedenste Anekdoten aus seiner Polizeikarriere erzählte. Doch obwohl sie es sich fest vorgenommen hatte, nicht daran zu denken, wurde Anne ständig wieder bewusst, dass sie dem einzigen Menschen gegenüber saÃ, der wusste, was genau in der Nacht passiert war, als ihre Eltern gestorben waren.
Gerade schnürte sie die neuen Schnürsenkel in seine Schuhe, als er plötzlich die Kaffeetasse abstellte und sie durchdringend ansah.
âEs tut mir leid, Anne. Aber es gibt Versprechen, die man nicht brechen darf.â
Sie stoppte ihre Arbeit und sah auf. Der alte Herr hatte wieder denselben traurigen Ausdruck, den sie schon gesehen hatte, als er das letzte Mal von ihren Eltern gesprochen hatte.
âWas tut dir leid, Mayer? Was für ein Versprechen?â
âMein Partner hat dich damals gefunden. Die Feuerwehr hatte alles weitgehend gelöscht, dein Vater war bereits im Krankenhaus und deine Mutter... â
Er stoppte ab und brauchte eine Weile, um es auszusprechen.
âNun sie war ja schon während des Feuers gestorben.
Man hatte in dem Haus an mehreren Stellen den Brand gelegt, Nachbarn hatten uns gesagt dass es an mehreren Stellen gleichzeitig gequalmt hat, und wir sind um das Haus herum gegangen, um mögliche Eintrittspunkte zu finden, plötzlich kam er mir entgegen, mit dir auf dem Arm. Du hast geblutet, aus Wunden, da wo jetzt deine Narben sind.â
Er stoppte und sah sie an, überlegte wie viel er noch erzählen konnte. Sie schien nicht zu reagieren, aber in ihr drehte sich alles und ein Kribbeln überfiel ihren ganzen Körper.
Sie versuchte, gleichmäÃig weiter zu atmen, während er schlieÃlich weiter sprach.
âDu hast ihn nicht loslassen wollen, und er ist mit dir ins Krankenhaus gefahren. Sie wollten dich dort deinen Vater nicht mehr sehen lassen, weil er fast am ganzen Körper verbrannt war... Ich habe ihn noch im Krankenhaus befragt, aber es war klar, dass er sterben würde.â
Mayer schluckte, als er merkte, dass Annes Unterlippe verdächtig zitterte. Dennoch sprach er weiter.
âIch habe gelogen Anne. Ich erinnere mich an alles, was in der Nacht geschehen ist. Wenn ich dich nur ansehe...
Aber ich kann es dir nicht sagen.â
Anne lieà den Schuh sinken, den sie bis gerade festgehalten hatte.
âWie bitte?â, fragte sie mit wackliger Stimme.
âDein Vater hat mir erzählt wer es war. Und dann...
Er war überall verbrannt, du kannst dir das nicht vorstellen. Er konnte kaum sprechen, wir haben erst später herausfinden können, was genau und warum es passiert ist... aber unter diesen furchtbaren Schmerzen hat er mich um ein Versprechen gebeten.â
Anne schloss die Augen. Sie hatte immer versucht, sich die Schmerzen, die ihre Eltern erleiden hatten müssen, nicht vorzustellen.
Es war ein seltsames Gefühl, Menschen so zu vermissen, die man doch kaum kannte. Sie erinnerte sich nicht an die ersten drei Jahre ihres Lebens, aber sie wusste, dass mit ihren Eltern auch ein Teil von ihr gestorben war, den ihr niemand jemals wiedergeben konnte. Niemals würde sie erfahren, wie ihre Eltern sich kennen gelernt hatten, und niemals war jemand bei ihr gewesen, wenn in ihrem Leben etwas wichtiges passiert war, der sie so liebte, wie Eltern es taten.
Aber das war ihr Schmerz, den sie mit sich herum trug.
Die Schmerzen, unter denen ihr Vater gestorben war, zerfressen und verschlungen von Flammen, die mehrere hundert Grad heià waren, und die Ãngste, die ihre Mutter gehabt haben musste, als sie im obersten Zimmer des Hauses langsam erstickte, hatte sie immer verdrängen wollen.
Sie öffnete ihre Augen, wischte die Tränen mit dem Handrücken ab, die sich leise ihre Wangen hinunter geschlichen hatten, und sah Mayer durchdringend an.
âWas hast du ihm versprochen?â
âIch habe versprochen, dass du nie erfahren wirst, was passiert ist.â
âWas? Aber warum? Ich bin alt genug für die Wahrheit, Mayer, erzähl es mir! Ich hab doch schon an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren, dass es Brandstiftung war, ich brauche die Wahrheit! Was kann so schlimm sein, dass ich es nicht wissen darf?â
âDein Vater wollte nicht, dass du es erfährst. Und man bricht niemals ein Versprechen, das man jemanden auf dem Sterbebett gegeben hat. Niemals. Es tut mir leid.â
Sie sah ihn lange an.
âMayer, wo sind wir?â
âIn meiner Wohnung.â
âWo ist dein Partner?â
âEr kommt nachher zum Pokern.â
Wie konnte er so genau wissen, was damals passiert war, und alles andere in seine Wahnvorstellungen einbauen? Es war nicht gerecht, dass er ihr die Wahrheit verweigerte, und sich seine eigene bauen durfte.
Anne stand auf und legte den halb geschnürten Schuh auf ihren Stuhl, dann ging sie zur Tür und sah sich noch einmal zu ihm um, bevor sie ging. Ihre Stimme klang kalt und eisern.
âEr ist tot, Herr Mayer. Und Sie sind im Altenheim, auf einer geschlossenen Station. Für Verrückte.â
Der alte Herr sah sie sprachlos an.
âUnd wissen sie noch was? Niemand besucht sie. Vielleicht haben sie ja Recht, manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen.â
Sie wusste, dass sie soeben seine Illusion zerstört hatte, aber es tat ihr nicht leid.
Jemand, der so viel vergaÃ, sich aber an die Wahrheit, die er wusste, nicht erinnern wollte... hatte ein Leben in Ungewissheit verdient, so wie sie weiter leben musste, jeden Tag aufs Neue, weil er so verdammt stur war.
Im Gegensatz zu ihr würde er morgen wieder vergessen haben, was heute passiert war.
Vielleicht hätte sie auch nicht gewollt, dass er sich ewig erinnern würde, vielleicht würde sie ihm irgendwann seinen Frieden wünschen, dafür, dass er sie vor der Wahrheit hatte bewahren wollen, weil ihr sterbender Vater ihn darum gebeten hatte. Aber heute würde sie nur die Wut spüren, nur den Schmerz, nur die Ungewissheit, die immer weiter zu wachsen schien, bis sie sie bald ganz einnehmen würde.
Im Aufzug wischte sie die Tränen ab und schminkte sich nach. Als die Türen im Erdgeschoss aufgingen, trat sie heraus und man konnte auf ihrem Gesicht keine Spuren von der Suche nach ihrer Vergangenheit finden.
Nur die Narben waren immer noch da.