29.04.2012, 18:21
[SIZE=2]Danke für euer fleiÃiges Feedback! Alle verbleibenden Fragen zu Simons Vergangenheit werden dann wohl geklärt. In Kapitel
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DreiunddreiÃig
Aus unerfindlichen Gründen blitzten seine stahlblauen Augen fröhlich auf.
„Das macht aber nichts, sie sollten einfach eine Weile keinen Sport machen und sich nicht überbelasten.“
Jetzt zwinkerte er Anne zu. Zwei Mal. Hatte der gute Mann nervöse Zuckungen?
Anne gähnte nur und zog sich wieder vollständig an.
„Danke.“, sagte sie dabei. „Dann kann ich jetzt nach Hause?“
„Selbstverständlich!“
Der Arzt half ihr gentlemanlike in den Mantel, wobei Anne versuchte, nicht schmerzvoll das Gesicht zu verziehen.
Nicht, dass er sie noch hierbehalten würde, das konnte sie gerade gar nicht gebrauchen.
Das schien dem Mediziner aber gar nicht in den Sinn zu kommen. Stattdessen öffnete er ihr die Tür und wollte ihr gerade seine Visitenkarte in die Hand drücken, als auch schon jemand anderes Annes Aufmerksamkeit beanspruchte.
„Und, was ist los? Ist es was schlimmes? Soll ich dir Sachen holen? Nein, oder? Es ist alles gut, oder, Annie?“
„Alles gut. Bringst du mich nach hause?“
Diese kurz angebundene Antwort war mehr als berechtigt, das wusste Simon. Genau genommen hatte er sie überhaupt nur ins Krankenhaus bringen dürfen, weil sie allein nicht fahren konnte. Aber es war klar, dass seine Gesellschaft das Letzte war, was sie jetzt wollte.
„Ja, klar.“, murmelte er etwas entmutigt, als ihm der skeptische Blick des Arztes bewusst wurde, der ihn wohl schon anstarrte, seit er hier war.
„Entschuldigung. Hatte ich sie unterbrochen?“, fragte er den Arzt. Dieser ignorierte ihn und wandte sich direkt an Anne.
„Hier ist noch meine Karte mit meiner Privatnummer. Falls etwas sein sollte.“
Anne zog eine Augenbraue hoch. Privatnummer? Zögernd nahm sie die Karte.
„Sagen sie,“, fing der Arzt plötzlich an, als sie schon zur Verabschiedung ansetzen wollte.
„Wie haben sie sich eigentlich so eine Prellung zugezogen?“
Jetzt fiel ihr auf, dass er Simon misstrauisch beäugte. Kein Wunder. Simon trug nur eine Jacke, aber kein Shirt, und seine Haare waren fleckig, strubbelig und immer noch ein bisschen nass. Der schuldbewusste Gesichtsausdruck machte das Bild perfekt.
„Ich bin im Bad ausgerutscht.“, log sie.
„Es war etwas nass, weil er sich gerade die Haare gewaschen hatte, und da bin ich ausgerutscht und unglücklich gefallen.“
„Aha.“
Auch ein kompletter, ehrlicher Satz hätte nicht deutlicher machen können, wie sehr der Arzt ihre Geschichte nicht glaubte. Ein dummes, geprügeltes Mädchen war sie für ihn, so naiv, dass sie glaubte, es würde nicht wieder vorkommen.
Vielleicht war sie das. Aber das wollte sie nicht denken.
„Komm Simon, ich möchte nach Hause.“, sagte sie leise und hakte sich bei ihrem besten Freund ein.
„Danke, Herr Doktor.“
Verabschiedete sie sich und zog Simon mit sich, so kräftig es die Rippen zulieÃen. Aber Simon hatte, seit er verstanden hatte, worauf der Arzt anspielte, sowieso nur noch schuldbewusst in die Gegend gestarrt und lieà sich willenlos mitziehen, als hätte er Räder unter den FüÃen.
Bevor das Auto vor ihrer Haustür hielt, legte sie schon die Hand auf den Türgriff.
„Annie, ich will dir das erklären.“
Sie erschrak und zog die Hand zurück. Die ganze Autofahrt über hatte er nichts gesagt.
„Ich mein, wenn du mich lässt, dann versuch ich dir zu erklären, was da passiert ist.“
„Simon, ich bin müde.“
„Du denkst, ich sei ein Monster, oder?“
Auch im Dunkeln wusste sie genau, dass er gerade einen unglaublich enttäuschten Gesichtsausdruck hatte.
„Nein.“, sagte sie sanft. „Dann komm. Du musst mir das nicht im Auto erklären.“
„Zu dir in die Wohnung?“
„Ach komm, Simon. Wenn du mich umbringen wolltest, hättest du das längst getan, oder?“
Sie lachte. Er lachte nicht.
Simon starrte im Halbdunkel des Wohnzimmers vor sich hin und dachte an nichts, während er sprach. Er war nicht sicher, ob er bereit gewesen war, seine Geschichte zu erzählen, aber er hatte keine andere Möglichkeit mehr gehabt. Wenn eines sicher war, dann, dass nicht jeder eine beste Freundin hatte, die noch Erklärungen zulieÃ, nachdem man sie quer durch sein Badezimmer geworfen hatte. Es hatte nichts daran vorbei geführt, seine Geschichte zu erzählen, wenn er sie nicht verlieren wollte.
„Also bin ich weggelaufen. Und dann...“
Simon stockte. Nicht, dass er sich getraut hätte, sie anzusehen, aber er kannte sie lange genug, um ihr unterdrücktes Schluchzen zu erkennen. Wie viele Filme hatten sie zusammen gesehen, bei denen sie geschworen hatte, nicht geweint zu haben? Trotzdem wusste er es, auch wenn sie nur stumm dasaà und die Tränen einfach laufen lieÃ.
„Tut es wieder weh?“
„Nein.“, schniefte sie. „Erzähl weiter.“
„Aber du weinst. Soll ich was zum kühlen holen?“
„Nein, erzähl mir was passiert ist, nachdem du weggelaufen bist.“
„Ich wusste erst nicht, wohin. Dann bin ich zur Polizei. Ich hab die Uhr auf den Empfangstresen gelegt und gesagt: 'Mein Vater hat ihn umgebracht. Sie müssen ihn Festnehmen.'
Naja, und das haben sie dann auch gemacht.“
„Er war nicht tot?“
„Nein, war er nicht. Er ist hier im Städtischen Gefängnis. Der Tag an dem wir uns so gestritten hatten... an dem Tag war ich da.“
Anne brauchte lange, um ihre einzelnen Sätze zusammen zu bauen.
„Also hast du ihn nicht... und die Polizei hat ihn einfach festgenommen?“
„Die Uhr hatte eine Seriennummer und konnte direkt zurückverfolgt werden. Und dann stand seine Aussage gegen meine und ich musste mit einem Psychologen furchtbar lange reden und irgendwann... haben sie mir geglaubt. Ich bin auch im Krankenhaus untersucht worden, ob er wirklich das alles mit mir gemacht hat, und dann wurden alle möglichen Leute befragt... Und auf einmal hatten sie ihn alle verdächtigt... Nachbarn, Lehrer, Kindergartenerzieher – mein ganzes Leben lang.“
Er lachte trocken.
„Und nein, ich bin kein Mörder.“, fügte er dann hinzu.
„WeiÃt du, dass ich Donnerstags immer lange Schule hatte, das stimmte nicht. Das war Therapie. Da haben sie mich davon überzeugt, dass ich meine Mutter nicht umgebracht hab. Und versucht mein Wasserproblem zu beseitigen, aber das hat nie ganz funktioniert. Und...“
Er fühlte kalte Fingerspitzen an seinem Kinn, die seinen Gesicht zu ihr drehten. Sie sah genau so aus, wie er es sich vorgestellt hatte: Die Augen rot, die Lippen zusammengepresst, die Wangen nass glänzend.
„Du hast nie jemandem davon erzählt? AuÃer der Polizei und diesem Psychologen?“
„Tut mir leid, dass ich nie was gesagt hab. Aber als ich erstmal im Heim war wollte ich nicht mehr darüber reden. Das ist Vergangenheit. Interessiert mich nicht mehr.“
Er senkte den Blick und versuchte, den Kopf zurück zu drehen, aber sie hielt ihn fest.
„Aber du warst ihn besuchen.“
„Er stirbt. Ich dachte, ich müsste ihm endlich alles sagen, dass ich keine Angst mehr vor ihm hab, dass ich meine Mutter nicht umgebracht hab, dass ich jetzt mein eigenes Leben hab, dass es mir gut geht... Alles, was ich ihm noch sagen müsste, damit meine Therapie erfolgreich war.“
Endlich sah er sie von allein an. Sie lieà ihn los und grinste schwach.
„Du hast den Kerl halbtot geschlagen. Meinst du nicht, dass das reicht?“
„So oft wie er mich halb umgebracht hat braucht es noch ein bisschen mehr. Ich konnte nicht mal zu ihm reingehen.“
Sie nickte nachdenklich.
„Annie, es tut mir wirklich leid, ich wusste nicht, dass ich sowas machen würde.“
„Ist schon gut, Simon, das heilt wieder.“
„Ich hätte dich wirklich schlimm verletzen können. Oder mehr...“
„Hast du aber nicht.“, sagte sie bestimmt und wischte sich schon wieder eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Warum weinst du denn die ganze Zeit?“
Sie sah ihn an als würde er ein pinkes Nilpferd auf seiner Nase balancieren.
„Weil so ein dämlicher Idiot meinen besten Freund verprügelt hat, seit er ganz klein war? Und weil ich gar nicht weiÃ, was ich sagen soll und wie ich dir helfen kann und ob ich dich jetzt in den Arm nehmen darf...“
Er lächelte vorsichtig.
„Warum solltest du nicht?“
„Weil ich... es kommt mir so vor als würd ich dich gar nicht mehr kennen. Ich kenn doch nur eine Hälfte von dir, den katzenallergischen, wasserängstlichen Simon, der den ganzen Tag die Decke anstarrt, Ungerechtigkeit hasst und sich unter keinen Umständen prügelt. Und jetzt ist da der Simon, der so viel erlebt hat und so verletzlich ist und irgendwie auch so stark... Ich weià gar nicht mehr wie ich dich sehen soll. Hat dich das all die Jahre nicht tierisch aufgeregt, wenn ich über meine Narben gejammert hab obwohl du viel schlimmeres erlebt hast? Müsstest du mich dafür nicht hassen? Und jetzt jammer ich dich schon wieder voll und...“
„Annie, du darfst mich in den Arm nehmen.“
Sofort hing sie an ihm und drückte ihn so fest sie konnte.
„Au.“, murmelte sie dabei. „Au, au, au...“
„Lass doch besser los, wenn es wehtut.“, schlug er ernstlich verwirrt vor.
„Nein. Au, aua, au, au, au...“
Plötzlich nieste er laut und stieà sich dabei von ihr ab.
„Au!“, rief sie empört.
„Entschuldige, ich...“
„Nicht du, ER!“
Sie zeigte auf Mrs. Mistoffelees, der unter dem Couchtisch saà und sie verschreckt anstarrte. Sein Wollknäuel hielt er „erlegt“ in den Pfoten, was für seine Verhältnisse ein groÃartiger Erfolg war. Aber statt ihn zu loben, dass er sich trotz Simons Anwesenheit nicht versteckte, starrte sein Frauchen ihn nur böse an. Beleidigt verzog er sich ins Schlafzimmer. Böse sein konnte er genau so gut...
Simon war auf der Flucht vor den Katzenhaaren in den Garten gegangen und beobachtete die Goldfische, die im Teich schwammen. Bald würde der Winter kommen, der kleine Gartenteich würde zufrieren – was war dann mit den Fischen? Würden sie einfach vergessen werden, wenn sie unter dem Eis verschwanden?
„Besser? Du solltest hier wieder 'nen Inhalator deponieren.“
Anne schloss die Gartentür hinter sich und blieb ein Stück hinter ihm stehen.
Er drehte sich um und nickte.
„Hey hör mal, wegen dem was du eben gesagt hast...“
„Tut mir leid, das ist nicht deine Schuld. Ich muss mich halt dran gewöhnen, das ist alles. Ich hab nur eine Frage: Wie heiÃt du eigentlich wirklich?“
„Keller. Simon Keller. Ich hab dann nur den Namen von meiner Mutter angenommen, mein Vater war in allen Zeitungen... Annie, ich hätt's dir eher sagen sollen... Aber ich bin deshalb kein anderer Mensch. Du kennst mich jetzt nur besser als vorher, du weiÃt warum ich so bin wie ich bin. Aber das ist gut, oder?“
„Ja, wahrscheinlich ist es das."
Sie sah auf den Schnitt in ihrer Hand und lächelte.
„Und wenn ich nie herausfinde, wieso ich selbst so bin wie ich bin, ist das vielleicht gar nicht so schlecht.“
„Du wirst es herausfinden. Warum besuchst du nicht noch mal Mayer? Ich komm auch mit, wenn du willst.“
Anne setzte sich auf die Treppenstufen, die von der Terrasse in den Garten hinabführten. Sie nickte leicht und sah eine Weile auf den Boden, dann sah sie ihn wieder an. Er hatte sich bereits wieder weggedreht und sah auf den Gartenteich.
„Simon? Was hältst du davon, wenn ich mit dir deinen Vater besuchen gehe? Würde dir das helfen?“
„Vielleicht. Wir könnten es ausprobieren.“
Er löste den Blick vom Teich und setzte sich neben sie.
„Wirst du es Valerie erzählen?“
„Vielleicht.“
„Sie ist wirklich nett. Abgesehen von der Haarfärbesache. Aber das hatte ja auch sein gutes...“
„Findest du?“
„Naja, du hättest mich fast umgebracht, aber ich glaube das hat unsere Freundschaft gerettet. Verrückt, oder?“
„Ich meinte, ob du Valerie wirklich nett findest.“, meinte er und verdrehte die Augen.
„Du wirst mir das ewig nachtragen, oder?“
„Ich kenn sie nicht wirklich, aber sie war sehr verständnisvoll mit der ganzen Messersache. Und ja, werde ich.“
Sie stieà ihn in die Seite.
„Ich werd noch meinen Enkeln von diesem Tag erzählen, der Tag, an dem Simon mich fast umgebracht hätte. Und weiÃt du was sie sagen werden?“
„Wahrscheinlich werden sie mich ausbuhen...“
„Sie werden sagen: Das ist cool, Oma, dass du einen besten Freund hattest, den du so lieb hattest, dass euch nichts auseinanderbringen konnte.“
„Meinst du?“
„Ja. Es sei denn, ich ende als einsame alte Dame mit Mrs. Mistoffelees fünfzehn Enkelkindern.“
Er grinste und legte einen Arm um sie.
„Das wirst du nicht.“, versprach er.
„Dieser Kater ist sowieso nie im Leben mutig genug um Kinder zu zeugen...“
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DreiunddreiÃig
2011
„Also sehen sie, es ist nichts gebrochen.“, erläuterte dunkelhaarige Arzt anhand eines Röntgenbildes von Annes Rippen. „Aber eine schöne Prellung haben sie trotzdem.“Aus unerfindlichen Gründen blitzten seine stahlblauen Augen fröhlich auf.
„Das macht aber nichts, sie sollten einfach eine Weile keinen Sport machen und sich nicht überbelasten.“
Jetzt zwinkerte er Anne zu. Zwei Mal. Hatte der gute Mann nervöse Zuckungen?
Anne gähnte nur und zog sich wieder vollständig an.
„Danke.“, sagte sie dabei. „Dann kann ich jetzt nach Hause?“
„Selbstverständlich!“
Der Arzt half ihr gentlemanlike in den Mantel, wobei Anne versuchte, nicht schmerzvoll das Gesicht zu verziehen.
Nicht, dass er sie noch hierbehalten würde, das konnte sie gerade gar nicht gebrauchen.
Das schien dem Mediziner aber gar nicht in den Sinn zu kommen. Stattdessen öffnete er ihr die Tür und wollte ihr gerade seine Visitenkarte in die Hand drücken, als auch schon jemand anderes Annes Aufmerksamkeit beanspruchte.
„Und, was ist los? Ist es was schlimmes? Soll ich dir Sachen holen? Nein, oder? Es ist alles gut, oder, Annie?“
„Alles gut. Bringst du mich nach hause?“
Diese kurz angebundene Antwort war mehr als berechtigt, das wusste Simon. Genau genommen hatte er sie überhaupt nur ins Krankenhaus bringen dürfen, weil sie allein nicht fahren konnte. Aber es war klar, dass seine Gesellschaft das Letzte war, was sie jetzt wollte.
„Ja, klar.“, murmelte er etwas entmutigt, als ihm der skeptische Blick des Arztes bewusst wurde, der ihn wohl schon anstarrte, seit er hier war.
„Entschuldigung. Hatte ich sie unterbrochen?“, fragte er den Arzt. Dieser ignorierte ihn und wandte sich direkt an Anne.
„Hier ist noch meine Karte mit meiner Privatnummer. Falls etwas sein sollte.“
Anne zog eine Augenbraue hoch. Privatnummer? Zögernd nahm sie die Karte.
„Sagen sie,“, fing der Arzt plötzlich an, als sie schon zur Verabschiedung ansetzen wollte.
„Wie haben sie sich eigentlich so eine Prellung zugezogen?“
Jetzt fiel ihr auf, dass er Simon misstrauisch beäugte. Kein Wunder. Simon trug nur eine Jacke, aber kein Shirt, und seine Haare waren fleckig, strubbelig und immer noch ein bisschen nass. Der schuldbewusste Gesichtsausdruck machte das Bild perfekt.
„Ich bin im Bad ausgerutscht.“, log sie.
„Es war etwas nass, weil er sich gerade die Haare gewaschen hatte, und da bin ich ausgerutscht und unglücklich gefallen.“
„Aha.“
Auch ein kompletter, ehrlicher Satz hätte nicht deutlicher machen können, wie sehr der Arzt ihre Geschichte nicht glaubte. Ein dummes, geprügeltes Mädchen war sie für ihn, so naiv, dass sie glaubte, es würde nicht wieder vorkommen.
Vielleicht war sie das. Aber das wollte sie nicht denken.
„Komm Simon, ich möchte nach Hause.“, sagte sie leise und hakte sich bei ihrem besten Freund ein.
„Danke, Herr Doktor.“
Verabschiedete sie sich und zog Simon mit sich, so kräftig es die Rippen zulieÃen. Aber Simon hatte, seit er verstanden hatte, worauf der Arzt anspielte, sowieso nur noch schuldbewusst in die Gegend gestarrt und lieà sich willenlos mitziehen, als hätte er Räder unter den FüÃen.
Bevor das Auto vor ihrer Haustür hielt, legte sie schon die Hand auf den Türgriff.
„Annie, ich will dir das erklären.“
Sie erschrak und zog die Hand zurück. Die ganze Autofahrt über hatte er nichts gesagt.
„Ich mein, wenn du mich lässt, dann versuch ich dir zu erklären, was da passiert ist.“
„Simon, ich bin müde.“
„Du denkst, ich sei ein Monster, oder?“
Auch im Dunkeln wusste sie genau, dass er gerade einen unglaublich enttäuschten Gesichtsausdruck hatte.
„Nein.“, sagte sie sanft. „Dann komm. Du musst mir das nicht im Auto erklären.“
„Zu dir in die Wohnung?“
„Ach komm, Simon. Wenn du mich umbringen wolltest, hättest du das längst getan, oder?“
Sie lachte. Er lachte nicht.
Simon starrte im Halbdunkel des Wohnzimmers vor sich hin und dachte an nichts, während er sprach. Er war nicht sicher, ob er bereit gewesen war, seine Geschichte zu erzählen, aber er hatte keine andere Möglichkeit mehr gehabt. Wenn eines sicher war, dann, dass nicht jeder eine beste Freundin hatte, die noch Erklärungen zulieÃ, nachdem man sie quer durch sein Badezimmer geworfen hatte. Es hatte nichts daran vorbei geführt, seine Geschichte zu erzählen, wenn er sie nicht verlieren wollte.
„Also bin ich weggelaufen. Und dann...“
Simon stockte. Nicht, dass er sich getraut hätte, sie anzusehen, aber er kannte sie lange genug, um ihr unterdrücktes Schluchzen zu erkennen. Wie viele Filme hatten sie zusammen gesehen, bei denen sie geschworen hatte, nicht geweint zu haben? Trotzdem wusste er es, auch wenn sie nur stumm dasaà und die Tränen einfach laufen lieÃ.
„Tut es wieder weh?“
„Nein.“, schniefte sie. „Erzähl weiter.“
„Aber du weinst. Soll ich was zum kühlen holen?“
„Nein, erzähl mir was passiert ist, nachdem du weggelaufen bist.“
„Ich wusste erst nicht, wohin. Dann bin ich zur Polizei. Ich hab die Uhr auf den Empfangstresen gelegt und gesagt: 'Mein Vater hat ihn umgebracht. Sie müssen ihn Festnehmen.'
Naja, und das haben sie dann auch gemacht.“
„Er war nicht tot?“
„Nein, war er nicht. Er ist hier im Städtischen Gefängnis. Der Tag an dem wir uns so gestritten hatten... an dem Tag war ich da.“
Anne brauchte lange, um ihre einzelnen Sätze zusammen zu bauen.
„Also hast du ihn nicht... und die Polizei hat ihn einfach festgenommen?“
„Die Uhr hatte eine Seriennummer und konnte direkt zurückverfolgt werden. Und dann stand seine Aussage gegen meine und ich musste mit einem Psychologen furchtbar lange reden und irgendwann... haben sie mir geglaubt. Ich bin auch im Krankenhaus untersucht worden, ob er wirklich das alles mit mir gemacht hat, und dann wurden alle möglichen Leute befragt... Und auf einmal hatten sie ihn alle verdächtigt... Nachbarn, Lehrer, Kindergartenerzieher – mein ganzes Leben lang.“
Er lachte trocken.
„Und nein, ich bin kein Mörder.“, fügte er dann hinzu.
„WeiÃt du, dass ich Donnerstags immer lange Schule hatte, das stimmte nicht. Das war Therapie. Da haben sie mich davon überzeugt, dass ich meine Mutter nicht umgebracht hab. Und versucht mein Wasserproblem zu beseitigen, aber das hat nie ganz funktioniert. Und...“
Er fühlte kalte Fingerspitzen an seinem Kinn, die seinen Gesicht zu ihr drehten. Sie sah genau so aus, wie er es sich vorgestellt hatte: Die Augen rot, die Lippen zusammengepresst, die Wangen nass glänzend.
„Du hast nie jemandem davon erzählt? AuÃer der Polizei und diesem Psychologen?“
„Tut mir leid, dass ich nie was gesagt hab. Aber als ich erstmal im Heim war wollte ich nicht mehr darüber reden. Das ist Vergangenheit. Interessiert mich nicht mehr.“
Er senkte den Blick und versuchte, den Kopf zurück zu drehen, aber sie hielt ihn fest.
„Aber du warst ihn besuchen.“
„Er stirbt. Ich dachte, ich müsste ihm endlich alles sagen, dass ich keine Angst mehr vor ihm hab, dass ich meine Mutter nicht umgebracht hab, dass ich jetzt mein eigenes Leben hab, dass es mir gut geht... Alles, was ich ihm noch sagen müsste, damit meine Therapie erfolgreich war.“
Endlich sah er sie von allein an. Sie lieà ihn los und grinste schwach.
„Du hast den Kerl halbtot geschlagen. Meinst du nicht, dass das reicht?“
„So oft wie er mich halb umgebracht hat braucht es noch ein bisschen mehr. Ich konnte nicht mal zu ihm reingehen.“
Sie nickte nachdenklich.
„Annie, es tut mir wirklich leid, ich wusste nicht, dass ich sowas machen würde.“
„Ist schon gut, Simon, das heilt wieder.“
„Ich hätte dich wirklich schlimm verletzen können. Oder mehr...“
„Hast du aber nicht.“, sagte sie bestimmt und wischte sich schon wieder eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Warum weinst du denn die ganze Zeit?“
Sie sah ihn an als würde er ein pinkes Nilpferd auf seiner Nase balancieren.
„Weil so ein dämlicher Idiot meinen besten Freund verprügelt hat, seit er ganz klein war? Und weil ich gar nicht weiÃ, was ich sagen soll und wie ich dir helfen kann und ob ich dich jetzt in den Arm nehmen darf...“
Er lächelte vorsichtig.
„Warum solltest du nicht?“
„Weil ich... es kommt mir so vor als würd ich dich gar nicht mehr kennen. Ich kenn doch nur eine Hälfte von dir, den katzenallergischen, wasserängstlichen Simon, der den ganzen Tag die Decke anstarrt, Ungerechtigkeit hasst und sich unter keinen Umständen prügelt. Und jetzt ist da der Simon, der so viel erlebt hat und so verletzlich ist und irgendwie auch so stark... Ich weià gar nicht mehr wie ich dich sehen soll. Hat dich das all die Jahre nicht tierisch aufgeregt, wenn ich über meine Narben gejammert hab obwohl du viel schlimmeres erlebt hast? Müsstest du mich dafür nicht hassen? Und jetzt jammer ich dich schon wieder voll und...“
„Annie, du darfst mich in den Arm nehmen.“
Sofort hing sie an ihm und drückte ihn so fest sie konnte.
„Au.“, murmelte sie dabei. „Au, au, au...“
„Lass doch besser los, wenn es wehtut.“, schlug er ernstlich verwirrt vor.
„Nein. Au, aua, au, au, au...“
Plötzlich nieste er laut und stieà sich dabei von ihr ab.
„Au!“, rief sie empört.
„Entschuldige, ich...“
„Nicht du, ER!“
Sie zeigte auf Mrs. Mistoffelees, der unter dem Couchtisch saà und sie verschreckt anstarrte. Sein Wollknäuel hielt er „erlegt“ in den Pfoten, was für seine Verhältnisse ein groÃartiger Erfolg war. Aber statt ihn zu loben, dass er sich trotz Simons Anwesenheit nicht versteckte, starrte sein Frauchen ihn nur böse an. Beleidigt verzog er sich ins Schlafzimmer. Böse sein konnte er genau so gut...
Simon war auf der Flucht vor den Katzenhaaren in den Garten gegangen und beobachtete die Goldfische, die im Teich schwammen. Bald würde der Winter kommen, der kleine Gartenteich würde zufrieren – was war dann mit den Fischen? Würden sie einfach vergessen werden, wenn sie unter dem Eis verschwanden?
„Besser? Du solltest hier wieder 'nen Inhalator deponieren.“
Anne schloss die Gartentür hinter sich und blieb ein Stück hinter ihm stehen.
Er drehte sich um und nickte.
„Hey hör mal, wegen dem was du eben gesagt hast...“
„Tut mir leid, das ist nicht deine Schuld. Ich muss mich halt dran gewöhnen, das ist alles. Ich hab nur eine Frage: Wie heiÃt du eigentlich wirklich?“
„Keller. Simon Keller. Ich hab dann nur den Namen von meiner Mutter angenommen, mein Vater war in allen Zeitungen... Annie, ich hätt's dir eher sagen sollen... Aber ich bin deshalb kein anderer Mensch. Du kennst mich jetzt nur besser als vorher, du weiÃt warum ich so bin wie ich bin. Aber das ist gut, oder?“
„Ja, wahrscheinlich ist es das."
Sie sah auf den Schnitt in ihrer Hand und lächelte.
„Und wenn ich nie herausfinde, wieso ich selbst so bin wie ich bin, ist das vielleicht gar nicht so schlecht.“
„Du wirst es herausfinden. Warum besuchst du nicht noch mal Mayer? Ich komm auch mit, wenn du willst.“
Anne setzte sich auf die Treppenstufen, die von der Terrasse in den Garten hinabführten. Sie nickte leicht und sah eine Weile auf den Boden, dann sah sie ihn wieder an. Er hatte sich bereits wieder weggedreht und sah auf den Gartenteich.
„Simon? Was hältst du davon, wenn ich mit dir deinen Vater besuchen gehe? Würde dir das helfen?“
„Vielleicht. Wir könnten es ausprobieren.“
Er löste den Blick vom Teich und setzte sich neben sie.
„Wirst du es Valerie erzählen?“
„Vielleicht.“
„Sie ist wirklich nett. Abgesehen von der Haarfärbesache. Aber das hatte ja auch sein gutes...“
„Findest du?“
„Naja, du hättest mich fast umgebracht, aber ich glaube das hat unsere Freundschaft gerettet. Verrückt, oder?“
„Ich meinte, ob du Valerie wirklich nett findest.“, meinte er und verdrehte die Augen.
„Du wirst mir das ewig nachtragen, oder?“
„Ich kenn sie nicht wirklich, aber sie war sehr verständnisvoll mit der ganzen Messersache. Und ja, werde ich.“
Sie stieà ihn in die Seite.
„Ich werd noch meinen Enkeln von diesem Tag erzählen, der Tag, an dem Simon mich fast umgebracht hätte. Und weiÃt du was sie sagen werden?“
„Wahrscheinlich werden sie mich ausbuhen...“
„Sie werden sagen: Das ist cool, Oma, dass du einen besten Freund hattest, den du so lieb hattest, dass euch nichts auseinanderbringen konnte.“
„Meinst du?“
„Ja. Es sei denn, ich ende als einsame alte Dame mit Mrs. Mistoffelees fünfzehn Enkelkindern.“
Er grinste und legte einen Arm um sie.
„Das wirst du nicht.“, versprach er.
„Dieser Kater ist sowieso nie im Leben mutig genug um Kinder zu zeugen...“