19.02.2013, 21:54
ihr werdet es nicht glauben können. aber irgendwo zwischen tamis fb, das mir feuerfang wieder ins gedächtnis rief, und dem ende der prüfungsphase, ist es passiert: ich habe einen neuen teil geschrieben!
aber erstmal ein bisschen geschwafel bezüglich eures feedbacks...
mel: natürlich schreibe ich weiter. immer mal wieder, langsam aber ich werde es bis zum ende durchziehen. und bald sind wir auch schon angekommen!
bezüglich mark/marlijn bin ich auch nicht 100 pro glücklich, aber es war mir lieber, als ihn ohne happy end in der versenkung verschwinden zu lassen, und für die storyline fand ich es schwierig, ihn so zentral zu lassen. es geht um anne und simon, um ihre freundschaft und um ihre geschichte. mark ist mir als charakter sehr ans herz gewachsen und definitiv ein groÃer teil der vergangenheit, aber sein platz in der zukunft ist mir lange unklar gewesen.
tami: wie schön, dass du wieder da bist! wie immer lag ich bei deinem FB vor lachen fast unter dem tisch, besonders was die letzte zeile von kapitel 38 angeht. mehr zur leon-sterbehilfe-mission im nächsten kapitel.
mel ist wieder mal nicht auffindbar, tippe auf "ohne laptop zu den eltern gefahren" - und ich bin wie immer ungeduldig. also, wer fehler findet... ihr kennt das ja.
Vierzig
die Tage vergehen langsam und mit jedem Ticken der Uhr frage ich mich, wie ich so weiter leben soll, ohne Dich. Deine Briefe sind das Einzige, was mich daran hindert, mich dieser grauen Welt hinzugeben, die mich hier jeden Tag aufs neue umgibt.“
Sie hatten Mark und Marlijn am Bahnhof verabschiedet, sich auf ein schnellstmögliches Wiedersehen geeinigt und gewunken, bis der Zug am Horizont verschwunden war. Noch immer konnte sie es nicht ganz glauben, wenn sie auch überzeugt davon war, dass alles genau so sein sollte. Ihr Mark, ihre erste und bis jetzt einzige groÃe Liebe, würde heiraten. Und das nachdem bereits alles so verloren gewirkt hatte! Das Verrückteste an der ganzen Geschichte war jedoch in Annes Augen nicht, dass die beiden trotz allen widrigen Umständen wieder zusammen gefunden hatten, oder, dass Mark ein Mädchen heiraten würde, das so anders war als sie selbst – nein, was Anne wirklich irritierte, war, dass sie rein gar nichts dagegen hatte. Niemals hätte sie sich das erträumt, eher noch, dass sie selbst einmal mit Mark vor dem Altar landen würde. Aber die letzten Wochen hatten sie eines Besseren belehrt.
„Simon, warum bist du so nervös?“, fragte sie diesen nun, als sie das Getrommel schlieÃlich nicht mehr aushielt.
„Nervös? Ich?“
„Wir sollten dieses Morphin-Zeug loswerden, oder? Das ist bestimmt nicht legal, so was zu besitzen.“
Er drehte den Kopf kurz zu ihr, dann sah er wieder auf die Fahrbahn.
„Ist es okay, wenn wir noch kurz woanders hin fahren?“
Er wartete ihre Antwort nicht ab sondern drehte den ächzenden Wagen direkt.
„Wohin?“
„Simon, du weiÃt, dass ich das hasse.“, grummelte sie und gab ihm die Jacke zurück.
„Wenn ich mich selbst schlecht angezogen habe, dann muss niemand anderes darunter leiden, nur weil er zufällig männlich ist.“
Er lachte und packte sie trotzig in seine Jacke ein.
„Jetzt wehr dich nicht, du wusstest doch gar nicht, dass wir hierher kommen. Das ist meine Schuld. Folglich bekommst du meine Jacke.“
Sie wollte ihm erneut widersprechen, aber ein Blick von ihm brachte sie zum Schweigen.
„Du hast mir nie den Vornamen deiner Mutter gesagt.“, sagte er stattdessen und stupste ihre Schaukel an.
„Wirklich nicht?“
Sie sah ihn schief an und zog seine Jacke enger um ihre Schultern.
„Naja, sie hieà Josephine. “
Sie runzelte die Stirn.
„Simon, was genau wollen wir hier?“
„Ich wollte an den Anfang zurück. Irgendwie. Nen klaren Kopf bekommen.“
„Warum? Gibt es etwas, worüber du nachdenken musst?“
„Dieses Morphin...“, fing er an und Anne stoppte ihre Schaukel abrupt.
„Was ist damit? Wir geben das am Besten der Polizei. Sagen dass er versucht hat dich zu kontaktieren und uns zu terrorisieren und dass er Hilfe von irgendwem auÃerhalb des Gefängnisses haben muss, und...“
„Und wenn er die Wahrheit sagt?“, fragte er leise.
„Wirst du mir je verzeihen, wenn ich nicht alles tue, um herauszufinden, was er weiÃ?“
Sie hüpfte von ihrer Schaukel, hielt seine ebenfalls an und sah ihn mit funkelnden Augen an.
„Er weià NICHTS. Er will dich ärgern, weiter nichts. Und... Naja, er scheint wirklich gut in Recherche zu sein.“
Frustriert schüttelte sie den Kopf.
„Du bist mir nichts schuldig, Simon.“
Sie zog seine Jacke aus und drückte sie ihm in die Hand. „Ãberhaupt, was soll das eigentlich, dieses ganze ritterliche Getue?“
Simon war sich mit einem Mal nicht mehr ganz sicher, worüber sie eigentlich sprach.
„Ich wollte nicht, dass du krank wirst, und ich hab doch noch 'nen warmen Pulli an...“
„Ich meine die Sache mit dem Paket, Simon!“, fuhr sie ihn an.
„Als wäre das 'ne Bombe oder so hast du dich verhalten und Marlijn total verschreckt. Willst du Mark gleich alles wieder kaputt machen? Die hält uns doch für total gestört.“
„Nun ich dachte es wäre eine.“, sagte er langsam.
„Also nutzt du dich selbst als menschlichen Schutzschild für mich, oder wie?“
In ihrer Stimme schwang die Wut deutlich hörbar mit.
„Natürlich! Was sollte ich denn sonst machen?“, rief er genervt aus und raufte sich die Haare. Was in aller Welt konnte sie daran wütend machen?
Sie schwieg.
Was sie daran wütend machte, das wusste sie selbst nicht. Nur, dass ihr Herz auf einmal bis zum Hals klopfte und das Blut in ihren Ohren rauschte. Schnell sah sie weg und stapfte in Richtung Klappermobil.
„Uns wird eh niemals 'ne echte Bombe geschickt. Aber wenn, dann kannst Du Dich darauf verlassen, dass ich mich genau so wieder verhalten werde.“
Er starrte auf die StraÃe und konzentrierte sich ganz aufs Fahren. Was sollte er sonst tun? Rationale Argumente für ihre plötzlichen Wutausbrüche finden konnte er noch nie besonders gut. Wie konnte sie sich darüber ärgern, dass er sein eigenes Leben für ihres geben würde? War das nicht, was beste Freunde taten?
„Tut mir leid.“, sagte sie plötzlich. „Lass uns das vergessen und irgendwo Pizza holen, und dann schauen wir 'nen Film und du erzählst mir, was eigentlich aus Valerie geworden ist, okay?“
Er sah angestrengt auf die StraÃe vor ihnen.
„Okay. Aber wehe, du versuchst, mir Ratschläge zu geben...“, brummte er. Und dann lächelte er, ganz kurz.
Anne sortierte fleiÃig den Schinken von ihrer Pizza Hawaii. Simons Wohnung sah genau so aus wie immer – keine Spur mehr von Valerie und der kurzen Beziehung, nicht einmal die Packung der Haartönung war zu finden. Und doch hatte sich etwas verändert.
„Jetzt erzähl schon.“, forderte sie kauend. „Warum habt ihr euch getrennt?“
„Sie hat meine Gedichte gelesen.“, erklärte er und seufzte.
„Du verlässt deine Freundin, weil sie deine Gedichte liest? Ehrlich, du solltest die Dinger einschlieÃen. Diese ganzen kleinen schwarzen Bücher machen eben neugierig, und ganz im Ernst: Ich finde, du brauchst dich für die Gedichte nicht zu schämen. Deshalb kannst du doch keine Beziehung...“
„Sie hat mich verlassen.“
„Oh.“
Sie biss in ihre Pizza und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
„Annie, keine Panik, das war nichts besonderes. Nicht mal Lena war sauer. Ich bin mal wieder viel zu schnell in eine Beziehung gestolpert und... mal ehrlich... sie hat mir die Haare gefärbt, damit ich besser in ihr Bild passe...“
„Getönt.“, murmelte sie reflexartig.
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Jetzt nennst du es also getönt... Wieso magst du meine Freundinnen eigentlich immer erst wenn sie meine Ex-Freundinnen sind?“
„Na weil ich so furchtbar eifersüchtig bin, natürlich.“
Sie kicherte, lehnte sich zu ihm rüber, küsste ihn auf die Wange und klaute dabei eine Paprika von seiner Pizza.
Er sah sie misstrauisch an. Es stimmte, sie hatte bis jetzt keine seiner Ex-Freundinnen gemocht. Aber Eifersucht, das war ein dummer Scherz...
Sie steckte die Paprika in den Mund und kaute.
„Die isst du eh nicht.“, erklärte sie schulterzuckend – als wäre er es nicht längst gewohnt, dass sie sein Gemüse aÃ.
Es war spät geworden, der Film war zu Ende. Anne hatte ein Taxi gerufen und lehnte nun mit dem Kopf auf einem Kissen, das auf Simons Schulter lag, während sie warteten. Beide schwiegen. Langsam machten sich die Anstrengungen des Tages bemerkbar, schlichen durch ihre Knochen, lieÃen sich auf den Augenlidern nieder und drückten alles zu, machten alles schwer. Als der Taxifahrer an der Tür klingelte, wurden sie beide aus ihren Gedanken gerissen, aber sie blieben sitzen, wie sie waren, für einen kurzen Moment.
„Besuchst du ihn morgen mit mir?“, fragte er leise.
„Bist du sicher?“
„Ich bin stärker als er. Ich kann ihn überwinden, aber ich muss es ihm zeigen. Er muss wissen, dass ich stärker bin.“
„Okay.“
Sie atmete Tief durch, dann stand sie auf. Er schloss die Augen und lieà sich zu der Seite fallen, wo sie gerade noch gesessen hatte.
„Simon?“
Sie zog ihre Schuhe an und schnürte den Mantel nur schnell zu.
„Hmm?“, murmelte er mit geschlossenen Augen.
„Geh ins Bett. Morgen um 10 bei mir. Gute Nacht.“
Dann fiel die Tür ins Schloss.
Die Wahrheit war, er wusste es selbst nicht. Er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er schlieÃlich vor ihm stand, vor Leon, seinem Vater, dem Mörder.
„Guten Morgen.“, begrüÃte ihn Anne, die gerade aus der Küche kam. „Ich muss noch schnell ins Bad, dann können wir los, ja? Kaffee ist in der Küche.“
Im Normalfall hätte er sich jetzt darüber lustig gemacht, dass sie im gleichen Atemzug erwähnte, sie müsse „schnell“ ins Bad, und ihm dann einen Kaffee anbot. Wozu bot man jemandem eine Tasse Kaffee an, wenn man „schnell“ wieder da sein wollte?
Heute wartete er nur, bis die Badezimmertür zufiel, und dachte keine Sekunde darüber nach. Stattdessen drehte er sich zum Couchtisch, auf dem noch immer unberührt das Paket mit dem Morphin stand. Mrs. Mistoffelees jaulte leise auf, als Simon das Paket öffnete und begann, die Fläschen in den Taschen seiner Hose und seines Pullovers zu verstauen, sodass sie bei den unvorsichtigen Durchsuchungen der Wärter des Gefängniskrankenhauses nicht auffallen würde.
Ich liebe dich.
Für immer dein,
Sophie"
Leon grinste müde. Es war nicht leicht, seinen Gefühlen noch Ausdruck zu verleihen, aber er tat es. Er würde nicht so erbärmlich sterben, sich mitreiÃen lassen von einer Krankheit, langsam dahinsiechen als ein abstoÃendes Häuflein versagender Körperfunktion, während um ihn herum die Menschen lächelten und sich sagten „Er hat es verdient.“
Er, Leon, war noch hier.
Er hatte sich eine Reihe interessanter Ideen überlegt, wie er schlieÃlich wieder in Simons Leben treten konnte. Bevor er krank wurde. Aber wenn er ehrlich war, war dieser Plan, den seine Krankheit mit sich gebracht hatte, von allen der Beste.
Es war Zufall gewesen, als er Sophie kennen lernte, eine Brieffreundin, die an Mördern irgendetwas furchtbar attraktiv fand. Sophie, die durch Zufall eine unglaubliche Information an ihn heran trug, Sophie, die durch puren Zufall Krankenschwester war, und durch puren Zufall im richtigen Krankenhaus arbeitete.
Der Plan war perfekt, und alles was er tun musste, war einer einsamen Frau ein paar Lügen zu erzählen, ein paar Komplimente, das war alles.
Er würde gern sterben. Zu seinen eigenen Bedingungen, zu seiner eigenen Zeit, vor allem aber durch die Hand seines Sohnes. Bei Marie hatte Simon noch sagen können, er hatte sie nicht absichtlich getötet. Doch wenn er Leon jetzt tötete, konnte er endlich die Schuld nicht mehr von sich weisen. Er würde nicht mehr von sich denken können, dass er besser war als Leon, weil er sich damals im letzten Moment gestoppt und ihn der Polizei übergeben hatte, statt ihn zu töten.
Die Wahrheit war, er würde zu einem Vatermörder werden, weil er nicht widerstehen können würde, seiner kleinen Freundin die Wahrheit über ihre Eltern zu sagen.
Leon lachte leise. Und diese Wahrheit? Die würde er ihm tatsächlich sagen. Und wenn die Schuld des Mordes Simon nicht zerreiÃen würde, dann würde das Wissen um die Wahrheit sein Leben ruinieren.
aber erstmal ein bisschen geschwafel bezüglich eures feedbacks...
mel: natürlich schreibe ich weiter. immer mal wieder, langsam aber ich werde es bis zum ende durchziehen. und bald sind wir auch schon angekommen!
bezüglich mark/marlijn bin ich auch nicht 100 pro glücklich, aber es war mir lieber, als ihn ohne happy end in der versenkung verschwinden zu lassen, und für die storyline fand ich es schwierig, ihn so zentral zu lassen. es geht um anne und simon, um ihre freundschaft und um ihre geschichte. mark ist mir als charakter sehr ans herz gewachsen und definitiv ein groÃer teil der vergangenheit, aber sein platz in der zukunft ist mir lange unklar gewesen.
tami: wie schön, dass du wieder da bist! wie immer lag ich bei deinem FB vor lachen fast unter dem tisch, besonders was die letzte zeile von kapitel 38 angeht. mehr zur leon-sterbehilfe-mission im nächsten kapitel.
mel ist wieder mal nicht auffindbar, tippe auf "ohne laptop zu den eltern gefahren" - und ich bin wie immer ungeduldig. also, wer fehler findet... ihr kennt das ja.
Vierzig
2011
„Liebster Leon,die Tage vergehen langsam und mit jedem Ticken der Uhr frage ich mich, wie ich so weiter leben soll, ohne Dich. Deine Briefe sind das Einzige, was mich daran hindert, mich dieser grauen Welt hinzugeben, die mich hier jeden Tag aufs neue umgibt.“
*
Simon trommelte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad, während sie still durch die StraÃen fuhren. Das Klappermobil machte die gewohnt gequälten Hintergrundgeräusche, sodass es Anne fast vorkam, als befände sie sich inmitten einer schlecht strukturierten Percussion-Probe. Sie hatten Mark und Marlijn am Bahnhof verabschiedet, sich auf ein schnellstmögliches Wiedersehen geeinigt und gewunken, bis der Zug am Horizont verschwunden war. Noch immer konnte sie es nicht ganz glauben, wenn sie auch überzeugt davon war, dass alles genau so sein sollte. Ihr Mark, ihre erste und bis jetzt einzige groÃe Liebe, würde heiraten. Und das nachdem bereits alles so verloren gewirkt hatte! Das Verrückteste an der ganzen Geschichte war jedoch in Annes Augen nicht, dass die beiden trotz allen widrigen Umständen wieder zusammen gefunden hatten, oder, dass Mark ein Mädchen heiraten würde, das so anders war als sie selbst – nein, was Anne wirklich irritierte, war, dass sie rein gar nichts dagegen hatte. Niemals hätte sie sich das erträumt, eher noch, dass sie selbst einmal mit Mark vor dem Altar landen würde. Aber die letzten Wochen hatten sie eines Besseren belehrt.
„Simon, warum bist du so nervös?“, fragte sie diesen nun, als sie das Getrommel schlieÃlich nicht mehr aushielt.
„Nervös? Ich?“
„Wir sollten dieses Morphin-Zeug loswerden, oder? Das ist bestimmt nicht legal, so was zu besitzen.“
Er drehte den Kopf kurz zu ihr, dann sah er wieder auf die Fahrbahn.
„Ist es okay, wenn wir noch kurz woanders hin fahren?“
Er wartete ihre Antwort nicht ab sondern drehte den ächzenden Wagen direkt.
„Wohin?“
*
„Nichts wünsche ich mehr, als Dich in deinen letzten Tagen begleiten zu können. Du weiÃt, dass ich alles für Dich tun würde, und so habe ich alle Wünsche erfüllt, die du in deinem letzten Brief an mich gerichtet hast.“ *
„Josephine also?“, fragte er und legte ihr seine Jacke über die Schultern. Es war kalt in dem Garten, in dem sie zusammen lange Zeit den GroÃteil ihrer Freizeit verbracht hatten. Alle Fenster waren verdunkelt, keine Menschenseele schien noch wach zu sein. Anne hoffte, dass nicht doch noch jemand aus dem Fenster schauen würde.„Simon, du weiÃt, dass ich das hasse.“, grummelte sie und gab ihm die Jacke zurück.
„Wenn ich mich selbst schlecht angezogen habe, dann muss niemand anderes darunter leiden, nur weil er zufällig männlich ist.“
Er lachte und packte sie trotzig in seine Jacke ein.
„Jetzt wehr dich nicht, du wusstest doch gar nicht, dass wir hierher kommen. Das ist meine Schuld. Folglich bekommst du meine Jacke.“
Sie wollte ihm erneut widersprechen, aber ein Blick von ihm brachte sie zum Schweigen.
„Du hast mir nie den Vornamen deiner Mutter gesagt.“, sagte er stattdessen und stupste ihre Schaukel an.
„Wirklich nicht?“
Sie sah ihn schief an und zog seine Jacke enger um ihre Schultern.
„Naja, sie hieà Josephine. “
Sie runzelte die Stirn.
„Simon, was genau wollen wir hier?“
„Ich wollte an den Anfang zurück. Irgendwie. Nen klaren Kopf bekommen.“
„Warum? Gibt es etwas, worüber du nachdenken musst?“
„Dieses Morphin...“, fing er an und Anne stoppte ihre Schaukel abrupt.
„Was ist damit? Wir geben das am Besten der Polizei. Sagen dass er versucht hat dich zu kontaktieren und uns zu terrorisieren und dass er Hilfe von irgendwem auÃerhalb des Gefängnisses haben muss, und...“
„Und wenn er die Wahrheit sagt?“, fragte er leise.
„Wirst du mir je verzeihen, wenn ich nicht alles tue, um herauszufinden, was er weiÃ?“
Sie hüpfte von ihrer Schaukel, hielt seine ebenfalls an und sah ihn mit funkelnden Augen an.
„Er weià NICHTS. Er will dich ärgern, weiter nichts. Und... Naja, er scheint wirklich gut in Recherche zu sein.“
Frustriert schüttelte sie den Kopf.
„Du bist mir nichts schuldig, Simon.“
Sie zog seine Jacke aus und drückte sie ihm in die Hand. „Ãberhaupt, was soll das eigentlich, dieses ganze ritterliche Getue?“
Simon war sich mit einem Mal nicht mehr ganz sicher, worüber sie eigentlich sprach.
„Ich wollte nicht, dass du krank wirst, und ich hab doch noch 'nen warmen Pulli an...“
„Ich meine die Sache mit dem Paket, Simon!“, fuhr sie ihn an.
„Als wäre das 'ne Bombe oder so hast du dich verhalten und Marlijn total verschreckt. Willst du Mark gleich alles wieder kaputt machen? Die hält uns doch für total gestört.“
„Nun ich dachte es wäre eine.“, sagte er langsam.
„Also nutzt du dich selbst als menschlichen Schutzschild für mich, oder wie?“
In ihrer Stimme schwang die Wut deutlich hörbar mit.
„Natürlich! Was sollte ich denn sonst machen?“, rief er genervt aus und raufte sich die Haare. Was in aller Welt konnte sie daran wütend machen?
Sie schwieg.
Was sie daran wütend machte, das wusste sie selbst nicht. Nur, dass ihr Herz auf einmal bis zum Hals klopfte und das Blut in ihren Ohren rauschte. Schnell sah sie weg und stapfte in Richtung Klappermobil.
*
„Das Paket habe ich in Josephine's Namen per Bote verschickt, und auch auf Simon halte ich weiterhin ein Auge. Ich kann nicht glauben, dass er sich so von Dir losgesagt hat, wo Du doch immer alles für ihn getan hast. Aber abgesehen von seiner Undankbarkeit kann ich dir wie immer nur berichten, dass es ihm gut geht. Er scheint auÃerdem gut in seinem Job zu sein, das verriet mir seine Chefin – eine reizende Person. Ich finde, du kannst durchaus stolz auf ihn sein. Abgesehen von seiner Undankbarkeit, wie gesagt.“ *
„Uns wird eh niemals 'ne echte Bombe geschickt. Aber wenn, dann kannst Du Dich darauf verlassen, dass ich mich genau so wieder verhalten werde.“
Er starrte auf die StraÃe und konzentrierte sich ganz aufs Fahren. Was sollte er sonst tun? Rationale Argumente für ihre plötzlichen Wutausbrüche finden konnte er noch nie besonders gut. Wie konnte sie sich darüber ärgern, dass er sein eigenes Leben für ihres geben würde? War das nicht, was beste Freunde taten?
„Tut mir leid.“, sagte sie plötzlich. „Lass uns das vergessen und irgendwo Pizza holen, und dann schauen wir 'nen Film und du erzählst mir, was eigentlich aus Valerie geworden ist, okay?“
Er sah angestrengt auf die StraÃe vor ihnen.
„Okay. Aber wehe, du versuchst, mir Ratschläge zu geben...“, brummte er. Und dann lächelte er, ganz kurz.
*
„Ach Leon, ich wünschte, ich könnte noch ein Mal bei Dir sein, vielleicht Deine Hand berühren oder Dich lächeln sehen. WeiÃt du, wie lange ich auf Dich gewartet habe? Ich fürchte den Tag, an dem ich Dich gehen lassen muss, aber ich weiÃ, Du erwartest ihn Sehnsüchtig. Niemand hätte diese Schmerzen weniger verdient als Du, und doch hältst Du sie aus, willst Dich erst erlösen lassen, wenn Du mit deinem Sohn wieder vereint bist.“ *
Anne sortierte fleiÃig den Schinken von ihrer Pizza Hawaii. Simons Wohnung sah genau so aus wie immer – keine Spur mehr von Valerie und der kurzen Beziehung, nicht einmal die Packung der Haartönung war zu finden. Und doch hatte sich etwas verändert.
„Jetzt erzähl schon.“, forderte sie kauend. „Warum habt ihr euch getrennt?“
„Sie hat meine Gedichte gelesen.“, erklärte er und seufzte.
„Du verlässt deine Freundin, weil sie deine Gedichte liest? Ehrlich, du solltest die Dinger einschlieÃen. Diese ganzen kleinen schwarzen Bücher machen eben neugierig, und ganz im Ernst: Ich finde, du brauchst dich für die Gedichte nicht zu schämen. Deshalb kannst du doch keine Beziehung...“
„Sie hat mich verlassen.“
„Oh.“
Sie biss in ihre Pizza und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
„Annie, keine Panik, das war nichts besonderes. Nicht mal Lena war sauer. Ich bin mal wieder viel zu schnell in eine Beziehung gestolpert und... mal ehrlich... sie hat mir die Haare gefärbt, damit ich besser in ihr Bild passe...“
„Getönt.“, murmelte sie reflexartig.
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Jetzt nennst du es also getönt... Wieso magst du meine Freundinnen eigentlich immer erst wenn sie meine Ex-Freundinnen sind?“
„Na weil ich so furchtbar eifersüchtig bin, natürlich.“
Sie kicherte, lehnte sich zu ihm rüber, küsste ihn auf die Wange und klaute dabei eine Paprika von seiner Pizza.
Er sah sie misstrauisch an. Es stimmte, sie hatte bis jetzt keine seiner Ex-Freundinnen gemocht. Aber Eifersucht, das war ein dummer Scherz...
Sie steckte die Paprika in den Mund und kaute.
„Die isst du eh nicht.“, erklärte sie schulterzuckend – als wäre er es nicht längst gewohnt, dass sie sein Gemüse aÃ.
*
„Und so wie ich unendlich lange auf Dich gewartet zu haben scheine, so bin ich auch nach all den Jahren noch immer unendlich überrascht, Dich gefunden zu haben, dort, wo ich dich nie gesucht hätte.“ *
Es war spät geworden, der Film war zu Ende. Anne hatte ein Taxi gerufen und lehnte nun mit dem Kopf auf einem Kissen, das auf Simons Schulter lag, während sie warteten. Beide schwiegen. Langsam machten sich die Anstrengungen des Tages bemerkbar, schlichen durch ihre Knochen, lieÃen sich auf den Augenlidern nieder und drückten alles zu, machten alles schwer. Als der Taxifahrer an der Tür klingelte, wurden sie beide aus ihren Gedanken gerissen, aber sie blieben sitzen, wie sie waren, für einen kurzen Moment.
„Besuchst du ihn morgen mit mir?“, fragte er leise.
„Bist du sicher?“
„Ich bin stärker als er. Ich kann ihn überwinden, aber ich muss es ihm zeigen. Er muss wissen, dass ich stärker bin.“
„Okay.“
Sie atmete Tief durch, dann stand sie auf. Er schloss die Augen und lieà sich zu der Seite fallen, wo sie gerade noch gesessen hatte.
„Simon?“
Sie zog ihre Schuhe an und schnürte den Mantel nur schnell zu.
„Hmm?“, murmelte er mit geschlossenen Augen.
„Geh ins Bett. Morgen um 10 bei mir. Gute Nacht.“
Dann fiel die Tür ins Schloss.
*
„Ich schreibe diesen Brief als letzten Brief an dich. Stelle mir vor, wie du an mich denkst, während du ihn liest, ein letzter Gedanke, der uns für immer verbindet.“*
Mrs. Mistoffelees verschwand unter dem Schrank, als Simon in die Wohnung eintrat. Er lächelte. Langsam schien die Normalität wieder einzukehren. Oder witterte der Kater seine Anspannung? Wusste das Tier, was er vorhatte? Die Wahrheit war, er wusste es selbst nicht. Er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er schlieÃlich vor ihm stand, vor Leon, seinem Vater, dem Mörder.
„Guten Morgen.“, begrüÃte ihn Anne, die gerade aus der Küche kam. „Ich muss noch schnell ins Bad, dann können wir los, ja? Kaffee ist in der Küche.“
Im Normalfall hätte er sich jetzt darüber lustig gemacht, dass sie im gleichen Atemzug erwähnte, sie müsse „schnell“ ins Bad, und ihm dann einen Kaffee anbot. Wozu bot man jemandem eine Tasse Kaffee an, wenn man „schnell“ wieder da sein wollte?
Heute wartete er nur, bis die Badezimmertür zufiel, und dachte keine Sekunde darüber nach. Stattdessen drehte er sich zum Couchtisch, auf dem noch immer unberührt das Paket mit dem Morphin stand. Mrs. Mistoffelees jaulte leise auf, als Simon das Paket öffnete und begann, die Fläschen in den Taschen seiner Hose und seines Pullovers zu verstauen, sodass sie bei den unvorsichtigen Durchsuchungen der Wärter des Gefängniskrankenhauses nicht auffallen würde.
*
„Wir werden uns finden, Leon, im nächsten Leben. Ich glaube daran und ich halte daran fest, bis wir uns wiedersehen, frei und ohne Schuld, fernab von dieser Welt. Ich liebe dich.
Für immer dein,
Sophie"
Leon grinste müde. Es war nicht leicht, seinen Gefühlen noch Ausdruck zu verleihen, aber er tat es. Er würde nicht so erbärmlich sterben, sich mitreiÃen lassen von einer Krankheit, langsam dahinsiechen als ein abstoÃendes Häuflein versagender Körperfunktion, während um ihn herum die Menschen lächelten und sich sagten „Er hat es verdient.“
Er, Leon, war noch hier.
Er hatte sich eine Reihe interessanter Ideen überlegt, wie er schlieÃlich wieder in Simons Leben treten konnte. Bevor er krank wurde. Aber wenn er ehrlich war, war dieser Plan, den seine Krankheit mit sich gebracht hatte, von allen der Beste.
Es war Zufall gewesen, als er Sophie kennen lernte, eine Brieffreundin, die an Mördern irgendetwas furchtbar attraktiv fand. Sophie, die durch Zufall eine unglaubliche Information an ihn heran trug, Sophie, die durch puren Zufall Krankenschwester war, und durch puren Zufall im richtigen Krankenhaus arbeitete.
Der Plan war perfekt, und alles was er tun musste, war einer einsamen Frau ein paar Lügen zu erzählen, ein paar Komplimente, das war alles.
Er würde gern sterben. Zu seinen eigenen Bedingungen, zu seiner eigenen Zeit, vor allem aber durch die Hand seines Sohnes. Bei Marie hatte Simon noch sagen können, er hatte sie nicht absichtlich getötet. Doch wenn er Leon jetzt tötete, konnte er endlich die Schuld nicht mehr von sich weisen. Er würde nicht mehr von sich denken können, dass er besser war als Leon, weil er sich damals im letzten Moment gestoppt und ihn der Polizei übergeben hatte, statt ihn zu töten.
Die Wahrheit war, er würde zu einem Vatermörder werden, weil er nicht widerstehen können würde, seiner kleinen Freundin die Wahrheit über ihre Eltern zu sagen.
Leon lachte leise. Und diese Wahrheit? Die würde er ihm tatsächlich sagen. Und wenn die Schuld des Mordes Simon nicht zerreiÃen würde, dann würde das Wissen um die Wahrheit sein Leben ruinieren.