24.11.2013, 13:30
meine geliebten leserlein, ich weiÃ, ich bin sehr langsam. zum normalen stress kam dann eine schreibblockade in zeiten der langeweile, aber ich bin wieder da. mit zwei teilen!
wir nähern uns dem ende. in den letzten kapiteln wird es immer schwieriger, entscheidungen zu treffen, wie das ende für die einzelnen charaktere aussieht, aber es wird!
hier der erste der beiden neuen teile. der zweite muss noch gebetat werden, aber es wird nicht so lange dauern, wie sonst, bis ihr ihn zu lesen bekommt
Dreiundvierzig
Sie zitterte, die Augen halb geschlossen, als wüsste sie nicht, ob sie sie gefahrlos öffnen konnte. Sie atmete hektisch, ihre Hände rutschten über seinen Hinterkopf nach unten und fanden keinen Halt. Sie war ihm nah. So nah, dass er seinen eigenen Herzschlag nicht mehr von ihrem unterscheiden konnte.
âEs tut mir leid.â, flüsterte sie schlieÃlich, nach einer gefühlt endlosen Zeit.
âScheiÃe, Simon, das tut mir so leid!â
Sie rutschte weg, hastig. Stand auf, stolperte zurück und sah ihn an. Jetzt war er es, der den Blick senkte.
âTut mir leid. Das ist so.... Das tut mir so leid. Hörst du?â, stotterte sie.
âScheiÃe. Ich... verdammte...â
Er blickte auf, nur bis zu ihrem Mund, nicht zu ihren Augen. Zu diesen sorgsam angemalten Lippen, die jetzt verschmiert waren.
Sie drehte sich um und rannte los. Bevor er reagieren, etwas sagen konnte, war sie weg.
Was tat ihr leid? Was war so verdammt scheiÃe?
Dass sie ihn geküsst hatte?
Oder dass er den Kuss erwidert hatte?
Er hatte seine beste Freundin geküsst. Sie hatte ihn geküsst. In umgekehrter Reihenfolge, aber wen interessierte das schon?
Sie hatte eine Entschuldigung, war so verwirrt von dem Tag, dass man ihre Aktion schon fast als normal betrachten konnte. Aber er? Klar, er war verwirrt. Er hatte sich seinem jahrelangen Peiniger gestellt, hatte ihn ausgetrickst, hatte ihr zur Wahrheit verholfen. Ob das so gut war, war eine andere Frage â sicher war nur, dass er lange nicht so verwirrt war wie sie. Sie, die bei allem zugesehen hatte, gedacht hatte er würde zum Mörder werden, sie, die erfahren hatte, dass ihre tot geglaubte Mutter lebte.
Er schüttelte den Kopf und biss sich dann auf die Lippe, denn Kopfschütteln wirbelte das herumspringende Etwas in seinem Kopf nur noch aggressiver gegen die Wände seines Schädels.
Was für eine aberwitzige Geschichte. Was für eine bescheuerte Geschichte. Hätte ihm jemand von diesem ganzen Wirrwarr berichtet, er hätte der Person einen Vogel gezeigt und gesagt âDas glaubst du doch selbst nicht!â.
Aber er musste es glauben. Denn wenn er jetzt noch anfing, sich einzureden, das hier sei nicht die Realität, dann würde er definitiv verrückt werden, so viel stand fest.
Er setzte eine Kanne Kaffee auf und begann, seinen Schreibtisch leer zu räumen. Woran er nicht denken wollte war der Kuss. Alles andere war zu extrem, zu verrückt um nicht darüber nachzudenken. Nur kurz spukte der Gedanke durch seinen Kopf, dass er vielleicht nicht wissen wollte, was wirklich die Wahrheit war. Er verscheuchte ihn. Konnte er jetzt noch zurück? Konnte Anne noch zurück? Nein.
Anne: ohne Erinnerung ins Heim gekommen.
Vater: Tot, hat Meyer das Versprechen abgerungen, die Wahrheit nicht zu sagen. Feuer. Mord.
Er unterstrich das letzte Wort und schaute es nachdenklich an. Der Schlüssel musste in Annes Vater liegen. Wer hatte ihn ermordet und vor allem warum?
Mutter: Lebt noch, Patientin in Krankenhaus seit Jahren. Angeblich an Rauchvergiftung gestorben. Lüge von Meyer /Annes Vater.
Noch während er schrieb, betrachtete er die Buchstaben, die sein Stift auf dem Papier formte. Ein Mord und eine Lüge, die weitreichende Folgen hatte. Wer hatte Annes Vater auf so brutale Weise getötet und ihre Mutter so schwer verletzt, dass sie nie wieder aus dem Krankenhaus gekommen war? Warum schützten die Eltern den Mörder und verschwiegen Anne die Wahrheit?
Er legte den Stift hin und stützte den Kopf in die Hände. So verwirrend das alles war, er konnte sich nur eine Lösung vorstellen, aber nicht einmal die glaubte er: Konnte Annes Vater in ein Verbrechen verwickelt sein? War das, was Anne erlebte, so eine Art privates Zeugenschutzprogramm für sie und ihre Mutter?
Simon konnte und wollte sich nichts vorstellen, was die Eltern seiner besten Freundin in ein schlechtes Licht stellte, aber er konnte sich auch nichts anderes vorstellen. Und immerhin: Er hatte sie nie gekannt, woher sollte er wissen, wie sie wirklich gewesen waren?
Eines war klar: Es hatte keinen Sinn, vor der Wahrheit wegzulaufen. Bevor er Anne auf die Idee brachte, ihre Eltern wären in irgendeiner Weise selbst schuld an den schrecklichen Ereignissen gewesen, würden sie den zweiten Brief lesen müssen.
Bevor er zum Telefon griff, trank er einen Schluck Kaffee. Dann die ganze Tasse.
Er sagte nichts.
âSimon?â
âAnnie, lass uns da jetzt nicht drüber reden, okay? Ist schon vergessen. Wie geht es dir?â
Sie atmete aus. Er war nicht böse und er wollte nicht mal mit ihr darüber reden! Erleichtert lieà sie sich auf die Couch sinken. Wie hätte sie ihm das auch erklären sollen, was da über sie gekommen war? Den jahrelangen besten Freund küsste man nicht einfach so, nicht mal, wenn man gerade erfahren hatte, dass die eigene tote Mutter noch lebte. Normale Leute würden dann weinen, vielleicht einen Nervenzusammenbruch kriegen, aber ganz bestimmt nicht plötzlich das Verlangen haben, jemanden zu Küssen, der immer wie ein Bruder für sie gewesen war... Mit den Händen durch seine strubbligen, leuchtenden Haare zu fahren und seinen Herzschlag zu fühlen, die angespannten Muskeln, stoppeligen Bart...
Sie kniff sich in den Arm. Sie war ja auch nicht normal, oder? Trotzdem war es eindeutig besser, er würde niemals danach fragen.
âGut.â antwortete sie nach ewiger Stille in der Leitung leise und räusperte sich.
âIch mein... Den Umständen entsprechend, halt. Ziemlich verwirrt. Ich weià nicht, was ich tun soll, Simon.â
Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. Hundertmal hatte er sie so gehört, wenn irgendwas passiert war, damals im Heim. Wenn jemand in der Schule nach ihren Eltern gefragt hatte oder nach ihren Narben. Aber heute war es anders. Heute war es ernst, das spürte er so deutlich, wie ihre traurige Stimme ihm fast physisch wehtat.
âIch glaube du brauchst die Wahrheit. Wenn dein Vater nicht wollte, dass du weiÃt, dass deine Mutter lebt, ist es vielleicht zu eurem Schutz. Vielleicht darfst du sie nicht besuchen, weil sonst jemand von ihrem Aufenthaltsort erfahren könnte?â
Sie lachte leise.
âKlingt wie ein Agentenroman.â
âWer weiÃ, vielleicht stecken wir in einem drin?â
Er lachte ebenfalls. Es tat gut, zusammen zu lachen. Dann schwiegen beide. Auch das tat gut.
âAlso soll ich den Brief öffnen, meinst du? Den zweiten?â, wollte sie nach einer Weile wissen.
âIch denke, was Leon macht birgt immer eine Gefahr. Ich glaube, du solltest etwas anderes machen.â
âMeine Mutter besuchen?â
â Nein. Mayer.â
âSimon...â
Sie hatte sich eigentlich fest vorgenommen, Mayer nicht mehr zu belästigen. Seit seinem Sturz war er ohnehin in schlechter Verfassung â nicht nur körperlich â und ihr damit bestimmt keine groÃe Hilfe.
âEr weià doch nichts. Ich glaube wirklich, dass er alles vergessen hat.â, meinte sie zweifelnd und schloss die Augen.
âVielleicht muss er nur erinnert werden.â
âLieber Himmel, das Klappermobil wird immer schlimmer!â, stellte Anne fest, als Simon vor dem Seniorenheim hielt und den Motor abstellte. Sie lächelte leicht und stieg aus. Heute sah das Haus groà und bedrohlich aus. Unbewusst schob sie sich näher zu Simon, der dies jedoch nicht bemerkte. Wie immer führte sie der erste Weg zur Rezeption.
âMayer? Ist im Frühstücksraum. Er kann inzwischen wieder im Rollstuhl sitzen, aber geistig... Es sieht nicht so gut aus. Er hat stark abgebaut nach seiner Verletzung, die wenige Bewegung hat die Krankheit um Jahre fortschreiten lassen.â, bereitete die Dame an der Rezeption sie vor.
Im Frühstücksraum herrschte reges Treiben. Einige der älteren Damen halfen beim Abräumen und Kaffeenachschenken aus, einige dachten, sie täten dies, und stifteten dabei Chaos. Die Dame mit dem ausgestopften Pudel, die Anne von früheren Besuchen kannte, saà Mayer schräg gegenüber und entschuldigte sich bei ihm für âWaldi'sâ schlechtes Benehmen. Mayer nickte und lächelte sanft.
âIst doch keine Ursache. Der Gute ist eben ein bisschen verwirrt, das bin ich auch.â, meinte er beruhigend, als Anne und Simon an den Tisch traten.
âWer bist du denn, Herzchen?â, fragte die Pudelfrau Simon und strahlte ihn an.
Anne kicherte.
âWir besuchen Herrn Mayer.â, erklärte sie der Dame, die sie aber weitgehend ignorierte und Simon an der Hand auf den freien Platz neben sich zog.
âAnne Becker.â, stellte Mayer fest und lächelte traurig.
âIch erinnere mich nicht, wirklich. Und selbst wenn - ich hab es einem sterbenden geschworen, Kind, ich kann mein Versprechen nicht brechen.â
Sie seufzte und setzte sich auf die Armlehne von Simons Stuhl, während ihr bester Freund versuchte, dem Gespräch zu folgen, ohne die Dame mit dem Pudel zu verärgern, die ihn in eine weniger aufregende Unterhaltung verwickeln wollte...
âMayer, hör zu.â, begann Anne sanft.
âIch habe hier einen Brief, der angeblich genau sagt, was damals passiert ist. Du musst mir nur sagen, ob es die Wahrheit ist.â
âWoher hast du das?â
âVon jemandem, der meine Mutter kennt.â
Mayer wurde blass.
âDeine Mutter ist tot.â
Die Pudelfrau unterbrach ihre Geschichte vom Hundeschaulaufen, als sie Mayers Gesichtsausdruck sah. Sie Griff nach Simons Arm.
âJunger Mann, die Frau belästigt ihn, bitte tun Sie etwas! Er hat doch Angst!â
âVielleicht sollten wir uns woanders unterhalten.â, schlug er vor.
Anne stand auf und sah Mayer an.
âEs tut mir leid, Mayer, ich muss es wissen.â, entschuldigte sie sich leise.
Mayer atmete tief durch.
âSchiebst du mich in den Garten?â
Es war kalt im Garten, die Sonne schien noch nicht besonders stark und Nebel lag über dem Teich. Anne hatte Mayer neben eine Bank geschoben und sich selbst darauf gesetzt. Während sie auf Simon wartete, der versprochen hatte, die Pudelfrau zu beruhigen, begann Mayer, zu erzählen.
âDu warst so klein, Anne. Ich hätte deinem Vater alles versprochen, was dich schützt.â
Anne nickte nur traurig. Sie war nicht mehr drei Jahre alt. Sie war alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, und konnte nichts dagegen tun, dass sie ein wenig wütend wurde. Hatte ihr Vater nicht daran gedacht, dass auch sie erwachsen werden würde? Dass sie Fragen haben würde?
Doch dann schämte sie sich für den Gedanken. Er wollte sie nur schützen, genau wie Mayer.
âEs tut mir leid, Mayer. Ich weiÃ, du hast ihm dein Versprechen gegeben und das hier ist sehr schwer für dich. Aber Simon kommt gleich mit dem Brief...â
âWelcher Brief?â
Sie seufzte. Er machte einen wachen Eindruck, und doch hatte er schon wieder vergessen, was sie ihm erst vor ein paar Minuten erklärt hatte.
âIch möchte, dass du ihn liest. Du sollst mir sagen, ob es die Wahrheit ist, bevor ich ihn lese. Wenn du dich daran erinnerst.â
Sie legte ihre auf die faltige Hand des alten Polizisten.
âDanke, dass du all die Jahre auf mich aufgepasst hast, Mayer. Ich weiÃ, dass du es gut gemeint hast. Aber ich werde merken, wenn du lügst, hörst du? Wenn die Wahrheit in dem Brief steht, werde ich sie heute herausfinden.â
Der Alte nickte. âKind, ich weià nicht viel. Ich bin alt und müde. Möchtest du einen Keks?â
Sie sah ihn irritiert an. âHast du einen Keks? Wir sind doch im Garten.â
Er wurde rot.
âIch meine, etwas Saft...â
Anne stand auf und trat hinter ihn.
âIst okay, Mayer. Du musst nur noch den Brief lesen, dann frag ich dich nie wieder. Dann kannst du vergessen.â, flüsterte sie in sein Ohr und legte die Arme um seinen Hals.
âIch hab schon so viel vergessen.â, sagte er leise. âNur schreckliche Sachen, an die erinnert man sich doch immer wieder.â
wir nähern uns dem ende. in den letzten kapiteln wird es immer schwieriger, entscheidungen zu treffen, wie das ende für die einzelnen charaktere aussieht, aber es wird!
hier der erste der beiden neuen teile. der zweite muss noch gebetat werden, aber es wird nicht so lange dauern, wie sonst, bis ihr ihn zu lesen bekommt

Dreiundvierzig
2011
Er sah sie an.Sie zitterte, die Augen halb geschlossen, als wüsste sie nicht, ob sie sie gefahrlos öffnen konnte. Sie atmete hektisch, ihre Hände rutschten über seinen Hinterkopf nach unten und fanden keinen Halt. Sie war ihm nah. So nah, dass er seinen eigenen Herzschlag nicht mehr von ihrem unterscheiden konnte.
âEs tut mir leid.â, flüsterte sie schlieÃlich, nach einer gefühlt endlosen Zeit.
âScheiÃe, Simon, das tut mir so leid!â
Sie rutschte weg, hastig. Stand auf, stolperte zurück und sah ihn an. Jetzt war er es, der den Blick senkte.
âTut mir leid. Das ist so.... Das tut mir so leid. Hörst du?â, stotterte sie.
âScheiÃe. Ich... verdammte...â
Er blickte auf, nur bis zu ihrem Mund, nicht zu ihren Augen. Zu diesen sorgsam angemalten Lippen, die jetzt verschmiert waren.
Sie drehte sich um und rannte los. Bevor er reagieren, etwas sagen konnte, war sie weg.
Was tat ihr leid? Was war so verdammt scheiÃe?
Dass sie ihn geküsst hatte?
Oder dass er den Kuss erwidert hatte?
*
Er lieà den Wohnungsschlüssel in die Schale fallen und setzte sich auf die Couch. DrauÃen wurde es langsam dunkel. Sein Kopf schmerzte, das Pochen hinter seiner Stirn fühlte sich an, als würde etwas von innen unaufhaltsam dagegen springen, sich dagegen werfen mit all seiner Kraft, um endlich hinaus zu kommen. Vielleicht war es ein Gedanke. Aber welcher?Er hatte seine beste Freundin geküsst. Sie hatte ihn geküsst. In umgekehrter Reihenfolge, aber wen interessierte das schon?
Sie hatte eine Entschuldigung, war so verwirrt von dem Tag, dass man ihre Aktion schon fast als normal betrachten konnte. Aber er? Klar, er war verwirrt. Er hatte sich seinem jahrelangen Peiniger gestellt, hatte ihn ausgetrickst, hatte ihr zur Wahrheit verholfen. Ob das so gut war, war eine andere Frage â sicher war nur, dass er lange nicht so verwirrt war wie sie. Sie, die bei allem zugesehen hatte, gedacht hatte er würde zum Mörder werden, sie, die erfahren hatte, dass ihre tot geglaubte Mutter lebte.
Er schüttelte den Kopf und biss sich dann auf die Lippe, denn Kopfschütteln wirbelte das herumspringende Etwas in seinem Kopf nur noch aggressiver gegen die Wände seines Schädels.
Was für eine aberwitzige Geschichte. Was für eine bescheuerte Geschichte. Hätte ihm jemand von diesem ganzen Wirrwarr berichtet, er hätte der Person einen Vogel gezeigt und gesagt âDas glaubst du doch selbst nicht!â.
Aber er musste es glauben. Denn wenn er jetzt noch anfing, sich einzureden, das hier sei nicht die Realität, dann würde er definitiv verrückt werden, so viel stand fest.
Er setzte eine Kanne Kaffee auf und begann, seinen Schreibtisch leer zu räumen. Woran er nicht denken wollte war der Kuss. Alles andere war zu extrem, zu verrückt um nicht darüber nachzudenken. Nur kurz spukte der Gedanke durch seinen Kopf, dass er vielleicht nicht wissen wollte, was wirklich die Wahrheit war. Er verscheuchte ihn. Konnte er jetzt noch zurück? Konnte Anne noch zurück? Nein.
Anne: ohne Erinnerung ins Heim gekommen.
Vater: Tot, hat Meyer das Versprechen abgerungen, die Wahrheit nicht zu sagen. Feuer. Mord.
Er unterstrich das letzte Wort und schaute es nachdenklich an. Der Schlüssel musste in Annes Vater liegen. Wer hatte ihn ermordet und vor allem warum?
Mutter: Lebt noch, Patientin in Krankenhaus seit Jahren. Angeblich an Rauchvergiftung gestorben. Lüge von Meyer /Annes Vater.
Noch während er schrieb, betrachtete er die Buchstaben, die sein Stift auf dem Papier formte. Ein Mord und eine Lüge, die weitreichende Folgen hatte. Wer hatte Annes Vater auf so brutale Weise getötet und ihre Mutter so schwer verletzt, dass sie nie wieder aus dem Krankenhaus gekommen war? Warum schützten die Eltern den Mörder und verschwiegen Anne die Wahrheit?
Er legte den Stift hin und stützte den Kopf in die Hände. So verwirrend das alles war, er konnte sich nur eine Lösung vorstellen, aber nicht einmal die glaubte er: Konnte Annes Vater in ein Verbrechen verwickelt sein? War das, was Anne erlebte, so eine Art privates Zeugenschutzprogramm für sie und ihre Mutter?
Simon konnte und wollte sich nichts vorstellen, was die Eltern seiner besten Freundin in ein schlechtes Licht stellte, aber er konnte sich auch nichts anderes vorstellen. Und immerhin: Er hatte sie nie gekannt, woher sollte er wissen, wie sie wirklich gewesen waren?
Eines war klar: Es hatte keinen Sinn, vor der Wahrheit wegzulaufen. Bevor er Anne auf die Idee brachte, ihre Eltern wären in irgendeiner Weise selbst schuld an den schrecklichen Ereignissen gewesen, würden sie den zweiten Brief lesen müssen.
Bevor er zum Telefon griff, trank er einen Schluck Kaffee. Dann die ganze Tasse.
*
âSimon, es tut mir so leid!â, rief sie ins Telefon, kaum, dass sie abgenommen hatte. âIch hätte das nicht tun dürfen, ich weiÃ, dass wir nicht so sind, bitte verzeih mir!âEr sagte nichts.
âSimon?â
âAnnie, lass uns da jetzt nicht drüber reden, okay? Ist schon vergessen. Wie geht es dir?â
Sie atmete aus. Er war nicht böse und er wollte nicht mal mit ihr darüber reden! Erleichtert lieà sie sich auf die Couch sinken. Wie hätte sie ihm das auch erklären sollen, was da über sie gekommen war? Den jahrelangen besten Freund küsste man nicht einfach so, nicht mal, wenn man gerade erfahren hatte, dass die eigene tote Mutter noch lebte. Normale Leute würden dann weinen, vielleicht einen Nervenzusammenbruch kriegen, aber ganz bestimmt nicht plötzlich das Verlangen haben, jemanden zu Küssen, der immer wie ein Bruder für sie gewesen war... Mit den Händen durch seine strubbligen, leuchtenden Haare zu fahren und seinen Herzschlag zu fühlen, die angespannten Muskeln, stoppeligen Bart...
Sie kniff sich in den Arm. Sie war ja auch nicht normal, oder? Trotzdem war es eindeutig besser, er würde niemals danach fragen.
âGut.â antwortete sie nach ewiger Stille in der Leitung leise und räusperte sich.
âIch mein... Den Umständen entsprechend, halt. Ziemlich verwirrt. Ich weià nicht, was ich tun soll, Simon.â
Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. Hundertmal hatte er sie so gehört, wenn irgendwas passiert war, damals im Heim. Wenn jemand in der Schule nach ihren Eltern gefragt hatte oder nach ihren Narben. Aber heute war es anders. Heute war es ernst, das spürte er so deutlich, wie ihre traurige Stimme ihm fast physisch wehtat.
âIch glaube du brauchst die Wahrheit. Wenn dein Vater nicht wollte, dass du weiÃt, dass deine Mutter lebt, ist es vielleicht zu eurem Schutz. Vielleicht darfst du sie nicht besuchen, weil sonst jemand von ihrem Aufenthaltsort erfahren könnte?â
Sie lachte leise.
âKlingt wie ein Agentenroman.â
âWer weiÃ, vielleicht stecken wir in einem drin?â
Er lachte ebenfalls. Es tat gut, zusammen zu lachen. Dann schwiegen beide. Auch das tat gut.
âAlso soll ich den Brief öffnen, meinst du? Den zweiten?â, wollte sie nach einer Weile wissen.
âIch denke, was Leon macht birgt immer eine Gefahr. Ich glaube, du solltest etwas anderes machen.â
âMeine Mutter besuchen?â
â Nein. Mayer.â
âSimon...â
Sie hatte sich eigentlich fest vorgenommen, Mayer nicht mehr zu belästigen. Seit seinem Sturz war er ohnehin in schlechter Verfassung â nicht nur körperlich â und ihr damit bestimmt keine groÃe Hilfe.
âEr weià doch nichts. Ich glaube wirklich, dass er alles vergessen hat.â, meinte sie zweifelnd und schloss die Augen.
âVielleicht muss er nur erinnert werden.â
*
Simon lehnte am Klappermobil, als Anne am nächsten Morgen um 7 Uhr auf die StraÃe trat. Sie strich ihm flüchtig über den Arm und sah ihn nicht an, als sie ins Auto stieg. Er lieà sie in Ruhe. Der Lärm des Autos machte eine Unterhaltung ohnehin unmöglich.âLieber Himmel, das Klappermobil wird immer schlimmer!â, stellte Anne fest, als Simon vor dem Seniorenheim hielt und den Motor abstellte. Sie lächelte leicht und stieg aus. Heute sah das Haus groà und bedrohlich aus. Unbewusst schob sie sich näher zu Simon, der dies jedoch nicht bemerkte. Wie immer führte sie der erste Weg zur Rezeption.
âMayer? Ist im Frühstücksraum. Er kann inzwischen wieder im Rollstuhl sitzen, aber geistig... Es sieht nicht so gut aus. Er hat stark abgebaut nach seiner Verletzung, die wenige Bewegung hat die Krankheit um Jahre fortschreiten lassen.â, bereitete die Dame an der Rezeption sie vor.
Im Frühstücksraum herrschte reges Treiben. Einige der älteren Damen halfen beim Abräumen und Kaffeenachschenken aus, einige dachten, sie täten dies, und stifteten dabei Chaos. Die Dame mit dem ausgestopften Pudel, die Anne von früheren Besuchen kannte, saà Mayer schräg gegenüber und entschuldigte sich bei ihm für âWaldi'sâ schlechtes Benehmen. Mayer nickte und lächelte sanft.
âIst doch keine Ursache. Der Gute ist eben ein bisschen verwirrt, das bin ich auch.â, meinte er beruhigend, als Anne und Simon an den Tisch traten.
âWer bist du denn, Herzchen?â, fragte die Pudelfrau Simon und strahlte ihn an.
Anne kicherte.
âWir besuchen Herrn Mayer.â, erklärte sie der Dame, die sie aber weitgehend ignorierte und Simon an der Hand auf den freien Platz neben sich zog.
âAnne Becker.â, stellte Mayer fest und lächelte traurig.
âIch erinnere mich nicht, wirklich. Und selbst wenn - ich hab es einem sterbenden geschworen, Kind, ich kann mein Versprechen nicht brechen.â
Sie seufzte und setzte sich auf die Armlehne von Simons Stuhl, während ihr bester Freund versuchte, dem Gespräch zu folgen, ohne die Dame mit dem Pudel zu verärgern, die ihn in eine weniger aufregende Unterhaltung verwickeln wollte...
âMayer, hör zu.â, begann Anne sanft.
âIch habe hier einen Brief, der angeblich genau sagt, was damals passiert ist. Du musst mir nur sagen, ob es die Wahrheit ist.â
âWoher hast du das?â
âVon jemandem, der meine Mutter kennt.â
Mayer wurde blass.
âDeine Mutter ist tot.â
Die Pudelfrau unterbrach ihre Geschichte vom Hundeschaulaufen, als sie Mayers Gesichtsausdruck sah. Sie Griff nach Simons Arm.
âJunger Mann, die Frau belästigt ihn, bitte tun Sie etwas! Er hat doch Angst!â
âVielleicht sollten wir uns woanders unterhalten.â, schlug er vor.
Anne stand auf und sah Mayer an.
âEs tut mir leid, Mayer, ich muss es wissen.â, entschuldigte sie sich leise.
Mayer atmete tief durch.
âSchiebst du mich in den Garten?â
Es war kalt im Garten, die Sonne schien noch nicht besonders stark und Nebel lag über dem Teich. Anne hatte Mayer neben eine Bank geschoben und sich selbst darauf gesetzt. Während sie auf Simon wartete, der versprochen hatte, die Pudelfrau zu beruhigen, begann Mayer, zu erzählen.
âDu warst so klein, Anne. Ich hätte deinem Vater alles versprochen, was dich schützt.â
Anne nickte nur traurig. Sie war nicht mehr drei Jahre alt. Sie war alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, und konnte nichts dagegen tun, dass sie ein wenig wütend wurde. Hatte ihr Vater nicht daran gedacht, dass auch sie erwachsen werden würde? Dass sie Fragen haben würde?
Doch dann schämte sie sich für den Gedanken. Er wollte sie nur schützen, genau wie Mayer.
âEs tut mir leid, Mayer. Ich weiÃ, du hast ihm dein Versprechen gegeben und das hier ist sehr schwer für dich. Aber Simon kommt gleich mit dem Brief...â
âWelcher Brief?â
Sie seufzte. Er machte einen wachen Eindruck, und doch hatte er schon wieder vergessen, was sie ihm erst vor ein paar Minuten erklärt hatte.
âIch möchte, dass du ihn liest. Du sollst mir sagen, ob es die Wahrheit ist, bevor ich ihn lese. Wenn du dich daran erinnerst.â
Sie legte ihre auf die faltige Hand des alten Polizisten.
âDanke, dass du all die Jahre auf mich aufgepasst hast, Mayer. Ich weiÃ, dass du es gut gemeint hast. Aber ich werde merken, wenn du lügst, hörst du? Wenn die Wahrheit in dem Brief steht, werde ich sie heute herausfinden.â
Der Alte nickte. âKind, ich weià nicht viel. Ich bin alt und müde. Möchtest du einen Keks?â
Sie sah ihn irritiert an. âHast du einen Keks? Wir sind doch im Garten.â
Er wurde rot.
âIch meine, etwas Saft...â
Anne stand auf und trat hinter ihn.
âIst okay, Mayer. Du musst nur noch den Brief lesen, dann frag ich dich nie wieder. Dann kannst du vergessen.â, flüsterte sie in sein Ohr und legte die Arme um seinen Hals.
âIch hab schon so viel vergessen.â, sagte er leise. âNur schreckliche Sachen, an die erinnert man sich doch immer wieder.â