15.03.2014, 01:01
okay. ich kann es kaum glauben. hier ist er, der allerletzte rest. das ende.
wow. es hat länger gedauert als ich dachte, wahrscheinlich würde ich heute einiges anders schreiben, was ich in den letzten jahren hier verzapft habe
aber ich bin zufrieden.
danke für euer feedback ihr lieben, danke für euer durchhaltevermögen und danke mel fürs betalesen und philosophieren über mögliche handlungsstränge ich weiÃ, ich bin manchmal sehr eigenwillig und viel zu emotional verbunden mit meinen charakteren, umso schöner ist es, dass sie alle am ende... ach, lest selbst.
Sechsundvierzig
Marlijn wagte es nicht, sich zu bewegen. Es war seltsam, überhaupt hier zu sein, auf der Beerdigung eines völlig Fremden, aber wo Mark war, da war auch sie. Und Mark hatte sich kaum die Zeit genommen, das Telefon aufzulegen, bevor er die Zugtickets bestellt hatte. Anne hatte ihn angerufen und er hatte diesen Ton in ihrer Stimme einfach zu gut gekannt.
Dieses Loch in jedem Wort, in jeder Silbe.
Diese Lücke, die überall mitschwang, wenn jemand plötzlich nicht mehr da war. Es war, als würde das Bewusstsein, dass jemand nicht mehr zurück kommen würde, sich in der Stimme widerspiegeln, oder als ginge von jedem Satz ein Teil direkt in eine andere Welt. Er selbst hatte eine lange Zeit so gesprochen, aber er hatte nicht gedacht, dass er es bei Anne je hören würde.
âBist du okay? Ist Simon bei dir?â, hatte er als erstes gefragt und sie hatte zur Antwort nur noch geweint. Nein, ihm war nichts anderes übrig geblieben als direkt zu ihr zu fahren, und Marlijn hatte ihn begleitet.
Nun stand sie hier auf der Beerdigung eines Mannes, der offensichtlich niemanden gehabt hatte â niemanden auÃer Anne. Das Personal aus dem Altenheim war lange verschwunden und jetzt warteten sie hier und niemand wusste genau auf was.
Darauf, dass Anne endlich ihre Rose fallen lassen würde, auf deren Blütenblättern das Wasser abperlte- ob es Tränen waren oder Regen, das konnte Marlijn beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht warteten sie auch, dass Simon irgendetwas sagen würde, weil ihm offensichtlich furchtbar kalt war. Er hatte Anne seine Jacke um die Schultern gelegt, was ihm von Mark aus unerfindlichen Gründen einen bewundernden Blick einbrachte. Aber Anne bekam ja sowieso nichts mit.
Oder sie warteten darauf, dass Mark die Initiative ergriff, als derjenige von ihnen der am meisten über Trauer und Beerdigungen wusste.
Marlijn lieà den Blick schweifen und lächelte. Auf eine absurde Art und Weise schien es ihr, als würde sie die drei schon ewig kennen.
Vor ihrem inneren Auge wurde Anne wieder zu der Dreizehnjährigen, von der Mark ihr erzählt hatte. Irgendwie sah sie selbst mit tränenverschmiertem Mascara noch stolz aus. Sie hatte ihre Narben heute nicht überschminkt, aber für Marlijn wurde sie dadurch nur noch beeindruckender.
Simon und Mark flankierten Anne rechts und links, wie zwei Türme, die Jahrhunderte überdauern könnten. Auf Simons Gesicht konnte Marlijn nichts lesen, auÃer, dass er nicht gelesen werden wollte. Marlijn stellte sich den fünfzehnjährigen Simon vor, von dem Mark erzählt hatte, wie er eines Tages ins Heim kam und mit niemandem sprach, auÃer mit Anne, und auch nur deshalb, weil sie ihm ihr Mittagessen geschenkt hatte. Es schien, als würde er auch heute niemanden auÃer ihr sehen.
Und dann war da Mark. Der Mann, über den sie so lange am wenigsten gewusst hatte. In seinen Geschichten hatte er stets die Stellen ausgespart, die am wichtigsten waren. Ãber den Tod seines Vaters hatten sie an einem Wintertag gesprochen, an dem sie sich schon fast 2 Jahre gekannt hatten, plötzlich war die Geschichte aus ihm herausgesprudelt, ohne einen Grund oder einen Anlass. Aber jetzt wusste sie alles. Sie sah an seinem Blick, irgendwo in die Ferne gerichtet, dass er gerade in seinem Kopf wieder am Grab seines Vaters stand, allein. Deshalb waren sie schlieÃlich hier, weil Mark fand, dass niemand allein am Grab eines geliebten Menschen zurückbleiben sollte. Und Marlijn teilte diese Ansicht. Sie war gemessen an diesen drei Menschen wahrscheinlich langweilig und normal, sie hatte keine traurige Geschichte â wenn man von ein paar wirklich unglücklichen Beziehungen absah â aber doch fühlte sie sich ihnen zugehörig.
Das hier war Marks Familie, also war es auch ihre, verrückt, kaputt, durcheinander und irgendwie vertraut.
Sie sah noch einmal der Reihe nach auf die Gesichter, dann schob sie sich an Mark vorbei und legte Anne eine Hand auf die Schulter.
âMöchtest du ihm die Rose mitgeben?â, fragte sie leise.
Anne sah sie an, als wäre sie gerade aus dem Boden gewachsen.
âEs ist meine Schuld.â, flüsterte sie, und riesengroÃe Augen schienen direkt in Marlijns Seele zu blicken.
âOder?â
âNein.â, sagten Simon und Mark gleichzeitig laut, bevor sich ihre Blicke trafen und beide leicht lächelten. Es war doch irgendwie verrückt, wie einig sie sich meist waren.
Marlijn schüttelte ebenfalls entschieden den Kopf, dann nahm sie Annes Ellenbogen und trat mit ihr bis zum Rand des Grabes, bevor sie sich auf den Boden hockte und Anne mit hinunter zog.
Es war leicht, ihren Arm zu führen, aber bevor sie Annes Finger von der Rose löste, versicherte sie sich mit einem Blick, ob sie das Richtige tat. Anne lächelte.
âEs ist so schwierig, weiÃt du?â
Marlijn nickte nur, dann folgten vier Augenpaare der Rose auf ihrem Weg in die Tiefe.
âZeit, dass wir ins Trockene kommen.â, sagte sie sanft, dann schob sie ihre neue Familie zum Klappermobil.
*
âDa kommen Erinnerungen hoch, hm?â, fragte Marlijn leise, nachdem sie die Tür des Gästezimmers hinter sich und Mark geschlossen hatte.
Simon hatte die drei bei Anne abgesetzt, aber uf die Frage, ob er mit in die Wohnung kommen sollte, hatte Anne den Kopf geschüttelt und leise etwas gesagt, was Marlijn nicht verstanden hatte. Simon war wortlos verschwunden und Mark hatte es für besser gehalten, Anne jetzt in Ruhe zu lassen.
Jetzt setzte er sich aufs Bett und lieà sich zurückfallen.
âWas für Erinnerungen?â
Eigentlich wusste er, was sie meinte, aber wie immer hielt er es für besser, die Vergangenheit herunter zu spielen. Als Heimkind war man immer kaputt â auch Marlijn konnte dieses Mitleid, das in ihrer Stimme mitschwang, noch immer nicht ablegen.
âNaja, Mayer war doch wie eine Vaterfigur für Anne oder? Vielleicht ein GroÃvater... Aber die letzte Beerdigung auf der du warst, war die deines Vaters...â,führte sie etwas unschlüssig aus. Sie setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf sein Bein, sah zu ihm herunter. âSei ehrlich.â
Irgendwie schien es ihm, als definierte sie ihre Beziehung nur darüber, wie viel sie über seine Gefühle, den Tod seines Vaters betreffend, wusste. Er lächelte leicht und zog sie zu sich herunter.
âJede Beerdigung ist traurig, oder nicht?â
Er drückte ihr einen Kuss auf die Rauschgoldengelhaare und vergrub seine Nase darin.
âNatürlich erinnert mich das an ihn. Aber das ist okay.â, murmelte er undeutlich. Sie schloss die Augen.
âAls er gestorben ist, war ich ganz allein. Jetzt habe ich bald meine eigene Familie.â, erklärte er leise und lächelte.
Sie öffnete geschockt die Augen und legte schützend eine Hand auf ihren Bauch. âDas hat doch noch Zeit, oder? Ich hab nicht meinen Job gekündigt und mein Umfeld aufgegeben, um in einer fremden Stadt als Mutti zu versauern, während du deinen Traumjob machst. Und zum fett werden bin ich definitiv zu jung...â
Sein Lachen unterbrach sie. âSo war das nicht gemeint. Aber zählt eine Ehefrau nicht als Familie?â
Marlijn grinste. Sie drehte sich auf die Seite und wuschelte mit der perfekt manikürten Hand durch seine wirren Locken.
âDoch, du hast Recht...WeiÃt du was? Das wird wunderbar.â
Simon wollte gerade die Wohnungstür öffnen, da wurde sie schon von auÃen aufgedrückt. Im Türrahmen stand seine beste Freundin, die, seit sie ihren Schlüssel zu seiner Wohnung wieder an sich genommen hatte, alte Gewohnheiten wieder aufleben lieà und ihn durch Klingeln nur kurz vorwarnte, bevor sie schneller die Treppen hochstürmte, als er den Weg zur Wohnungstür zurücklegen konnte. Er trat einen Schritt zurück.
âVor 'ner Stunde hast du noch gesagt du kannst jetzt nicht auch noch über mich nachdenken.â, merkte er an, als sie sich schon an ihm vorbei schob.
Sie sah über ihre Schulter zu ihm, während sie einen Schuh auszog, und lächelte.
âUnd es stellte sich heraus, ich kann auch nicht nicht über uns nachdenken.â
Sie betonte das âunsâ, als wäre das Gesprächsthema nicht nur ein Kuss, sondern mindestens eine gemeinsame Nacht oder ein Heiratsantrag. Aber irgendwie war es ja auch nicht nur ein Kuss, es war... mehr.
Er schloss die Wohnungstür, während sie den zweiten Schuh abstreifte, und sah sie dabei unschlüssig an. War es klug, das jetzt zu besprechen?
âUns?â, wiederholte er fragend, obwohl er ganz genau wusste, worum es ihr ging.
âIch will dich nicht verlieren.â, setzte sie an und sprach dann doch nicht weiter. Was meinte sie damit? Er sah sie forschend an und stellte fest, dass sie sich wieder geschminkt hatte. Die Augenringe überschminkt, die Narben deutlich sichtbar unter dem Abdeckstift â wenn man wusste, dass sie da waren â und das Lächeln mit rotem Lippenstift aufgemalt.
Er hatte schon vor drei Jahren Gedichte über sie geschrieben, aber verstanden hatte er es selbst nicht. Valerie hatte sich von ihm getrennt, nachdem sie eines davon gelesen hatte, doch das wurde ihm erst jetzt bewusst. Er würde es Anne besser nicht sofort erzählen.
âVerlieren?â, echote er nach einigen Momenten der Stille.
âIch habâ dich geküsst, Simon. Wir sind beste Freunde und das hat immer so gut geklappt, bis auf unseren letzten Streit, aber jetzt weià ich viel mehr über dich und über mich und irgendwie ist alles anders und ich hab dich geküsst, obwohl ich nicht weià was das bedeutet. Und... es war schön.â
Sie senkte den Blick.
âSchön?â
âVerdammt, kannst du auch mal selber was sagen, statt mir immer nur nachzuplappern wie ein grenzdebiler Kaktus?â
Er grinste. âKaktus?â
Sie holte tief Luft und wollte ihn schon anbrüllen, als ihr auffiel, dass diese merkwürdige Aussage wirklich zur Nachfrage berechtigte.
âDein Bart ist halt kratzig...â
Ihre Wangen färbten sich leicht rot und sie rollte mit den Augen.
âFindest du Idiot besser?â, murmelte sie und biss sich den Lippenstift von der Lippe.
Simon senkte den Kopf.
âDu weiÃt doch, dass ich nicht mit Frauen umgehen kann.â
Jetzt war sie es, die kicherte, aber gleichzeitig kamen ihr die Tränen. Sie trat die wenigen Schritte zu ihm vor und drückte ihn fest an sich.
âAlso weiÃt du auch nicht, wie es weiter geht?â, fragte sie in seinen Pullover hinein.
âAnnie...â, begann er sanft und die Worte legten sich plötzlich wie von selbst in seinem Kopf zurecht. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er wusste, was er sagen wollte.
âEs geht doch schon längst weiter, ob wir wollen oder nicht. Früher haben wir die Decke angestarrt, nichts gesagt, und es war immer eine Hand breit Platz zwischen uns, weiÃt du noch? Aber weiÃt du, wie oft wir uns umarmt haben, seit diesem Streit? Wie oft du deinen Mascara in meine Klamotten geschmiert hast? Die Dinge ändern sich. Wir ändern uns. Aber es wird alles gut, okay? Wir reden noch mal drüber, wenn du wieder in der Lage bist, Entscheidungen zu treffen.â
Sie lieà ihn los. Er hatte Recht, mal wieder passierte alles auf einmal und sie fühlte sich nicht imstande, alles gleichzeitig zu verarbeiten.
âEs kommt mir vor, als hätte ich ihn in den Tod getrieben... Als hätte ich ihm den Grund weggenommen, wegen dem er noch hier war. Und ich war so gemein zu ihm, ich hab nur an mich selbst gedacht...â, fing sie an und starrte auf den Mascarafleck auf seinem Pullover. Sie brauchte definitiv wasserfeste Schminke.
âEr wollte es dir doch sagen. Er hat dir schlieÃlich das Messer geschickt, oder nicht? Er wollte das Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Jetzt ist er... frei. Und ich glaube... Er war wirklich nicht gut drauf, Annie. Er war krank und er hatte niemanden auÃer dir, es wäre doch nur schlimmer geworden. Irgendwann hätte er vergessen, wie man sein Essen schluckt, und wie man spricht...Jetzt geht es ihm besser.â
Sie nickte nachdenklich. Vielleicht hatte er Recht. Er schien heute irgendwie alles zu wissen.
âMeinst du, ich sollte meine Mutter kennen lernen?â, fragte sie und zwang sich, den Blick von dem Fleck zu lösen und ihn anzusehen.
âDu solltest gar nichts. Wenn du es irgendwann mal willst... aber du weiÃt alles, was du wissen wolltest, oder?â
âJa.â, antwortete sie ohne zu zögern, âDank dir.â
âDank Leon und seinem Groupie, meinst du?â
Er lachte und schüttelte den Kopf.
âDu hättest es nie erfahren, wenn du nicht all die Jahre darum gekämpft hättest.â
Er schwieg einen Moment und überlegte.
âUnd... bist du froh, dass du es jetzt weiÃt? Oder wünschst du dir, du hättest das alles nie erfahren?â
âAch Simon... Machst du dir immer noch Sorgen?â
Anne stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm sein Gesicht in die Hände.
âIch wollte es immer wissen, und jetzt weià ich es. Ich kann jetzt damit abschlieÃen. Es ist hart, aber es ist gut, dass ich es weiÃ. Und das verdanke ich dir, weil du dich Leon gestellt hast. Und du hast gewonnen, Simon.â
Er seufzte. Noch lebte sein Erzeuger, und eine verrückte Krankenpflegerin, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen würde, lief frei herum.
âWas ist los?â, fragte sie argwöhnisch.
âWas, wenn er noch was versucht? Oder seine... Freundin?â
Wie ein alter Mann lieà er sich auf die Couch sinken. Als er mit diesem müden Blick da saÃ, die Schultern hängend und die blonden Haare im Licht der Deckenlampe schimmernd, musste Anne unwillkürlich lachen. Sie setzte sich neben ihn und pikste ihn in die Seite. âWas soll der denn noch versuchen, Simon? Wenn er seinen Groupie auf uns hetzen wollte, hätte er es längst getan. Er will niemanden umbringen, er will, dass du...â
Sie stoppte ab. Es war so absurd und so gemein, dass sie es gar nicht über die Lippen brachte.
âDass du möglichst lange und intensiv leidest. Und das hat er nicht geschafft. Weil niemand zwischen uns kommt, okay? Und im Ãbrigen ist es doch eh bald zu Ende mit ihm.â
âDu bist dir aber sicher.â, stellte er überrascht fest und zog eine Augenbraue hoch.
âNaja...â
Sie lehnte sich an seine Schulter und gähnte.
âWas weià ich schon. Ich bin so traurig wegen Mayer, und meine Mutter... Die Geschichte ist echt total gestört. Und dann ist da auch noch mein bester Freund... ich hab Angst, auch nur drüber nachzudenken, was ich für ihn fühle...â, murmelte sie und kuschelte sich an ihn.
âHmm...â
Er gähnte ebenfalls.
âWenn er ein guter Freund ist, kann er warten.â
Epilog
Es war seltsam. Jetzt stand sie mit ihrem Ex in der Küche und erzählte ihm alles frei heraus, als ginge es um eine Einkaufsliste oder vielleicht einen guten Kinofilm. Die ganze Geschichte war lang und es würden immer Teile davon bleiben, die sie verschwieg, oder vielleicht nicht für wichtig hielt, aber dass sie so frei über das reden würde, was in den letzten Wochen passiert war - Leon, Mayer, ihre Geschichte und natürlich Simon - das hätte sie vor einem Monat noch schlicht für unmöglich gehalten. Allerdings hatte sie auch nicht gewusst, dass das alles passieren würde.
Mark lächelte verständnisvoll.
âWeiÃt du noch, wie ich zu dir gesagt habâ, dass du wie eine Spinne im gefrorenen Netz bist? Wir sind abends zu mir nach Hause gelaufen und du fandest es so schön, dieses Netz auf der Brücke.â
âNatürlich weià ich das noch.â
Sie runzelte die Stirn. Was wollte er ihr damit sagen?
âIch glaube, du bist dein ganzes Leben so gewesen. Ich musste Monate warten, bis ich dich überhaupt küssen durfte.â, merkte er verschmitzt grinsend an.
âIch war ein nervöser Teenie und...â
âWas ich eigentlich meinte...â, unterbrach er sie, â... ist, dass dir Nähe schon immer unangenehm war. Du hast dich nicht nur vom echten Feuer ferngehalten, sondern auch vor... naja, dem metaphorischen.â
Mit einem Lächeln blickte sie zum Esstisch, an dem Simon und Marlijn gerade über irgendetwas lachten. Sie nickte leicht.
âKann schon sein.â
âStell dir ein Stück Holz im Eis vor.... Du kannst es hundertmal ins Feuer halten, bis es brennt. Das Feuer umspielt es, aber es rührt es nicht an. Es wärmt es nur, und immer wieder tropft Wasser runter und fast geht das Feuer aus. Aber es brennt weiter. Bis es groà genug ist. Bis es genug Kraft hat. Und das Eis knackt, es bekommt Risse, ganz plötzlich von irgendwas.
Und dann, einen Moment später... alles dreht sich um diesen einen Moment...â, sagte er verheiÃungsvoll und machte eine Pause.
âUnd dann...â Langsam begann sie zu verstehen.
Zufrieden grinsend gab er ihr die Flasche Wein, die er nebenbei geöffnet hatte- sie hatte es nicht mal bemerkt.
Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie mit sanftem Druck zum Tisch zurück.
Simon und Marlijn unterbrachen ihr Gespräch und Simon stand auf, um Anne die Flasche abzunehmen und für alle Wein nachzuschenken. Prüfend sah er sie an. Sie war müde von den vergangenen Tagen, traurig bei dem Gedanken an Mayer, und doch strahlte sie.
Mark setzte sich neben Marlijn, nahm ihre Hand und den ausgewickelten Lolli, den sie ihm wie automatisch hinstreckte.
Anne senkte den Blick vor Simons prüfenden Augen und wollte sich auf den Stuhl neben ihm setzen, was mit einem empörten Fauchen des vermeintlichen Kissens â besser bekannt als Mrs. Mistoffelees â quittiert wurde. Beleidigt hüpfte der Kater vom Stuhl und hinterlieà eine Wolke aus Haaren, die einen Niesanfall bei Simon auslöste.
âWorüber habt ihr denn so lange gequatscht?â, fragte er argwöhnisch nach, als er wieder Luft bekam. Der Kater war inzwischen unter dem Schrank verschwunden und spielte mit den Fransen des Teppichs, wozu er eine Pfote weit ausstrecken musste. Ja, selbst der Kater war irgendwie mutiger geworden. âWir mussten ewig auf unseren Wein warten.â, fügte Simon seiner Frage hinzu und lenkte Annes Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Marlijn kicherte und lehnte sich an Marks Schulter- als ob Simon damit auch nur ein hundertstel weniger eifersüchtig wirkte...
âNaja, wir haben so über dies und das geredet....Marlijn, hast du mal ein Feuerzeug? Die Kerze ist so undekorativ, wenn sie aus ist.â, lenkte Anne ein wenig ab.
Simon und Mark schauten sie ungläubig an, während Marlijn arglos in ihrer Tasche kramte.
âRaucher haben immer ein Feuerzeug... aber wieso hast du denn keins in der Wohnung?â, fragte sie dabei, fand schlieÃlich das Feuerzeug und reichte es Anne.
Nachdenklich drehte diese es in der Hand und hielt es schlieÃlich Simon hin.
âKannst du?â
Er nahm es vorsichtig aus ihrer Hand und schaute sie dabei verunsichert an, aber als sie nickte, lieà er seine Bedenken verfliegen und das Feuer aufflammen.
âSeit wann...?â, setzte er ungläubig an â seit er sie kannte, konnte sie die Gegenwart von noch so winzigen Flammen nicht ertragen.
âSeit jetzt. Eigentlich sind Kerzen doch ganz schön. Ich hab sie in der Stadt gesehn und einfach mitgenommen.â
Sie zuckte vorsichtig lächelnd mit den Schultern, legte ihre Hand auf seine und sah zu, wie sich ihre Finger wie von selbst mit seinen verschränkten.
âWeiÃt du... Es ist doch irgendwie schön, das Feuer. Es kann schrecklich sein, und beängstigend. Vielleicht erlischt es irgendwann und man steht vor den verkohlten Resten, vielleicht verbrennt man sich... Aber das ist egal, wenn man erst mal Feuer gefangen hat....â
Simon war etwas irritiert von dieser Metapher â genau genommen konnte er nicht einmal sicher sagen, dass es eine war. Aber dass sie ihn so vielsagend anlächelte sprach doch irgendwie dafür.
âFeuer gefangen?â Er konnte sehen, wie sie in ihrem Kopf abwägte, ob sie das so sagen konnte, ob sie das Schöne mit dem Schrecklichen so verbinden konnte. Aber am Ende... war es nicht irgendwo alles das Gleiche? Wenn sie in die Flamme der Kerze sah, dann glaubte sie noch immer, ihren Vater brennen zu sehen, obwohl sie jetzt wusste, dass sie nicht dabei gewesen war. Ihr Vater war in das Haus zurückgegangen â aus Liebe â und ihre Mutter hatte ihn angezündet - in ihrem verqueren Verständnis ebenfalls aus Liebe.
Anne hatte es noch nicht verarbeiten können, sie wusste nicht, ob sie ihre Mutter je kennen lernen wollte oder ob dieser Teil ihres Lebens hier zu Ende war.
Aber sie hatte so viel bei ihrer Suche nach der Wahrheit gelernt: Dass ihre Eltern sich sehr geliebt hatten. Dass sie sie sehr geliebt hatten.
Sie konnte nicht ändern, was passiert war, egal wie sehr sie sich wünschte, dass ihr Vater noch einmal âKäferchenâ zu ihr sagen würde. Aber die Zukunft wartete auf sie, nachdem sie so lange die Vergangenheit gesucht hatte. Und sie war nicht allein.
âNaja...Selbst wenn man Angst davor hat und sich nicht sicher ist, das Richtige zu tun...Wenn es dich ein Mal erwischt hat, ist es sowieso zu spät.â
Sie musste fast grinsen, so sicher war sie sich ihrer Sache plötzlich.
âFür manche Dinge lohnt es sich, zu brennen. Meinst du nicht?â
wow. es hat länger gedauert als ich dachte, wahrscheinlich würde ich heute einiges anders schreiben, was ich in den letzten jahren hier verzapft habe
aber ich bin zufrieden.
danke für euer feedback ihr lieben, danke für euer durchhaltevermögen und danke mel fürs betalesen und philosophieren über mögliche handlungsstränge ich weiÃ, ich bin manchmal sehr eigenwillig und viel zu emotional verbunden mit meinen charakteren, umso schöner ist es, dass sie alle am ende... ach, lest selbst.
Sechsundvierzig
2011
Es war kalt, als sie dort standen, vier Gestalten an einem offenen Grab. Es regnete ein bisschen, gerade so viel, dass man nach und nach nass wurde, ohne es überhaupt zu bemerken.Marlijn wagte es nicht, sich zu bewegen. Es war seltsam, überhaupt hier zu sein, auf der Beerdigung eines völlig Fremden, aber wo Mark war, da war auch sie. Und Mark hatte sich kaum die Zeit genommen, das Telefon aufzulegen, bevor er die Zugtickets bestellt hatte. Anne hatte ihn angerufen und er hatte diesen Ton in ihrer Stimme einfach zu gut gekannt.
Dieses Loch in jedem Wort, in jeder Silbe.
Diese Lücke, die überall mitschwang, wenn jemand plötzlich nicht mehr da war. Es war, als würde das Bewusstsein, dass jemand nicht mehr zurück kommen würde, sich in der Stimme widerspiegeln, oder als ginge von jedem Satz ein Teil direkt in eine andere Welt. Er selbst hatte eine lange Zeit so gesprochen, aber er hatte nicht gedacht, dass er es bei Anne je hören würde.
âBist du okay? Ist Simon bei dir?â, hatte er als erstes gefragt und sie hatte zur Antwort nur noch geweint. Nein, ihm war nichts anderes übrig geblieben als direkt zu ihr zu fahren, und Marlijn hatte ihn begleitet.
Nun stand sie hier auf der Beerdigung eines Mannes, der offensichtlich niemanden gehabt hatte â niemanden auÃer Anne. Das Personal aus dem Altenheim war lange verschwunden und jetzt warteten sie hier und niemand wusste genau auf was.
Darauf, dass Anne endlich ihre Rose fallen lassen würde, auf deren Blütenblättern das Wasser abperlte- ob es Tränen waren oder Regen, das konnte Marlijn beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht warteten sie auch, dass Simon irgendetwas sagen würde, weil ihm offensichtlich furchtbar kalt war. Er hatte Anne seine Jacke um die Schultern gelegt, was ihm von Mark aus unerfindlichen Gründen einen bewundernden Blick einbrachte. Aber Anne bekam ja sowieso nichts mit.
Oder sie warteten darauf, dass Mark die Initiative ergriff, als derjenige von ihnen der am meisten über Trauer und Beerdigungen wusste.
Marlijn lieà den Blick schweifen und lächelte. Auf eine absurde Art und Weise schien es ihr, als würde sie die drei schon ewig kennen.
Vor ihrem inneren Auge wurde Anne wieder zu der Dreizehnjährigen, von der Mark ihr erzählt hatte. Irgendwie sah sie selbst mit tränenverschmiertem Mascara noch stolz aus. Sie hatte ihre Narben heute nicht überschminkt, aber für Marlijn wurde sie dadurch nur noch beeindruckender.
Simon und Mark flankierten Anne rechts und links, wie zwei Türme, die Jahrhunderte überdauern könnten. Auf Simons Gesicht konnte Marlijn nichts lesen, auÃer, dass er nicht gelesen werden wollte. Marlijn stellte sich den fünfzehnjährigen Simon vor, von dem Mark erzählt hatte, wie er eines Tages ins Heim kam und mit niemandem sprach, auÃer mit Anne, und auch nur deshalb, weil sie ihm ihr Mittagessen geschenkt hatte. Es schien, als würde er auch heute niemanden auÃer ihr sehen.
Und dann war da Mark. Der Mann, über den sie so lange am wenigsten gewusst hatte. In seinen Geschichten hatte er stets die Stellen ausgespart, die am wichtigsten waren. Ãber den Tod seines Vaters hatten sie an einem Wintertag gesprochen, an dem sie sich schon fast 2 Jahre gekannt hatten, plötzlich war die Geschichte aus ihm herausgesprudelt, ohne einen Grund oder einen Anlass. Aber jetzt wusste sie alles. Sie sah an seinem Blick, irgendwo in die Ferne gerichtet, dass er gerade in seinem Kopf wieder am Grab seines Vaters stand, allein. Deshalb waren sie schlieÃlich hier, weil Mark fand, dass niemand allein am Grab eines geliebten Menschen zurückbleiben sollte. Und Marlijn teilte diese Ansicht. Sie war gemessen an diesen drei Menschen wahrscheinlich langweilig und normal, sie hatte keine traurige Geschichte â wenn man von ein paar wirklich unglücklichen Beziehungen absah â aber doch fühlte sie sich ihnen zugehörig.
Das hier war Marks Familie, also war es auch ihre, verrückt, kaputt, durcheinander und irgendwie vertraut.
Sie sah noch einmal der Reihe nach auf die Gesichter, dann schob sie sich an Mark vorbei und legte Anne eine Hand auf die Schulter.
âMöchtest du ihm die Rose mitgeben?â, fragte sie leise.
Anne sah sie an, als wäre sie gerade aus dem Boden gewachsen.
âEs ist meine Schuld.â, flüsterte sie, und riesengroÃe Augen schienen direkt in Marlijns Seele zu blicken.
âOder?â
âNein.â, sagten Simon und Mark gleichzeitig laut, bevor sich ihre Blicke trafen und beide leicht lächelten. Es war doch irgendwie verrückt, wie einig sie sich meist waren.
Marlijn schüttelte ebenfalls entschieden den Kopf, dann nahm sie Annes Ellenbogen und trat mit ihr bis zum Rand des Grabes, bevor sie sich auf den Boden hockte und Anne mit hinunter zog.
Es war leicht, ihren Arm zu führen, aber bevor sie Annes Finger von der Rose löste, versicherte sie sich mit einem Blick, ob sie das Richtige tat. Anne lächelte.
âEs ist so schwierig, weiÃt du?â
Marlijn nickte nur, dann folgten vier Augenpaare der Rose auf ihrem Weg in die Tiefe.
âZeit, dass wir ins Trockene kommen.â, sagte sie sanft, dann schob sie ihre neue Familie zum Klappermobil.
*
âDa kommen Erinnerungen hoch, hm?â, fragte Marlijn leise, nachdem sie die Tür des Gästezimmers hinter sich und Mark geschlossen hatte.
Simon hatte die drei bei Anne abgesetzt, aber uf die Frage, ob er mit in die Wohnung kommen sollte, hatte Anne den Kopf geschüttelt und leise etwas gesagt, was Marlijn nicht verstanden hatte. Simon war wortlos verschwunden und Mark hatte es für besser gehalten, Anne jetzt in Ruhe zu lassen.
Jetzt setzte er sich aufs Bett und lieà sich zurückfallen.
âWas für Erinnerungen?â
Eigentlich wusste er, was sie meinte, aber wie immer hielt er es für besser, die Vergangenheit herunter zu spielen. Als Heimkind war man immer kaputt â auch Marlijn konnte dieses Mitleid, das in ihrer Stimme mitschwang, noch immer nicht ablegen.
âNaja, Mayer war doch wie eine Vaterfigur für Anne oder? Vielleicht ein GroÃvater... Aber die letzte Beerdigung auf der du warst, war die deines Vaters...â,führte sie etwas unschlüssig aus. Sie setzte sich neben ihn und legte eine Hand auf sein Bein, sah zu ihm herunter. âSei ehrlich.â
Irgendwie schien es ihm, als definierte sie ihre Beziehung nur darüber, wie viel sie über seine Gefühle, den Tod seines Vaters betreffend, wusste. Er lächelte leicht und zog sie zu sich herunter.
âJede Beerdigung ist traurig, oder nicht?â
Er drückte ihr einen Kuss auf die Rauschgoldengelhaare und vergrub seine Nase darin.
âNatürlich erinnert mich das an ihn. Aber das ist okay.â, murmelte er undeutlich. Sie schloss die Augen.
âAls er gestorben ist, war ich ganz allein. Jetzt habe ich bald meine eigene Familie.â, erklärte er leise und lächelte.
Sie öffnete geschockt die Augen und legte schützend eine Hand auf ihren Bauch. âDas hat doch noch Zeit, oder? Ich hab nicht meinen Job gekündigt und mein Umfeld aufgegeben, um in einer fremden Stadt als Mutti zu versauern, während du deinen Traumjob machst. Und zum fett werden bin ich definitiv zu jung...â
Sein Lachen unterbrach sie. âSo war das nicht gemeint. Aber zählt eine Ehefrau nicht als Familie?â
Marlijn grinste. Sie drehte sich auf die Seite und wuschelte mit der perfekt manikürten Hand durch seine wirren Locken.
âDoch, du hast Recht...WeiÃt du was? Das wird wunderbar.â
*
Simon wollte gerade die Wohnungstür öffnen, da wurde sie schon von auÃen aufgedrückt. Im Türrahmen stand seine beste Freundin, die, seit sie ihren Schlüssel zu seiner Wohnung wieder an sich genommen hatte, alte Gewohnheiten wieder aufleben lieà und ihn durch Klingeln nur kurz vorwarnte, bevor sie schneller die Treppen hochstürmte, als er den Weg zur Wohnungstür zurücklegen konnte. Er trat einen Schritt zurück.
âVor 'ner Stunde hast du noch gesagt du kannst jetzt nicht auch noch über mich nachdenken.â, merkte er an, als sie sich schon an ihm vorbei schob.
Sie sah über ihre Schulter zu ihm, während sie einen Schuh auszog, und lächelte.
âUnd es stellte sich heraus, ich kann auch nicht nicht über uns nachdenken.â
Sie betonte das âunsâ, als wäre das Gesprächsthema nicht nur ein Kuss, sondern mindestens eine gemeinsame Nacht oder ein Heiratsantrag. Aber irgendwie war es ja auch nicht nur ein Kuss, es war... mehr.
Er schloss die Wohnungstür, während sie den zweiten Schuh abstreifte, und sah sie dabei unschlüssig an. War es klug, das jetzt zu besprechen?
âUns?â, wiederholte er fragend, obwohl er ganz genau wusste, worum es ihr ging.
âIch will dich nicht verlieren.â, setzte sie an und sprach dann doch nicht weiter. Was meinte sie damit? Er sah sie forschend an und stellte fest, dass sie sich wieder geschminkt hatte. Die Augenringe überschminkt, die Narben deutlich sichtbar unter dem Abdeckstift â wenn man wusste, dass sie da waren â und das Lächeln mit rotem Lippenstift aufgemalt.
Er hatte schon vor drei Jahren Gedichte über sie geschrieben, aber verstanden hatte er es selbst nicht. Valerie hatte sich von ihm getrennt, nachdem sie eines davon gelesen hatte, doch das wurde ihm erst jetzt bewusst. Er würde es Anne besser nicht sofort erzählen.
âVerlieren?â, echote er nach einigen Momenten der Stille.
âIch habâ dich geküsst, Simon. Wir sind beste Freunde und das hat immer so gut geklappt, bis auf unseren letzten Streit, aber jetzt weià ich viel mehr über dich und über mich und irgendwie ist alles anders und ich hab dich geküsst, obwohl ich nicht weià was das bedeutet. Und... es war schön.â
Sie senkte den Blick.
âSchön?â
âVerdammt, kannst du auch mal selber was sagen, statt mir immer nur nachzuplappern wie ein grenzdebiler Kaktus?â
Er grinste. âKaktus?â
Sie holte tief Luft und wollte ihn schon anbrüllen, als ihr auffiel, dass diese merkwürdige Aussage wirklich zur Nachfrage berechtigte.
âDein Bart ist halt kratzig...â
Ihre Wangen färbten sich leicht rot und sie rollte mit den Augen.
âFindest du Idiot besser?â, murmelte sie und biss sich den Lippenstift von der Lippe.
Simon senkte den Kopf.
âDu weiÃt doch, dass ich nicht mit Frauen umgehen kann.â
Jetzt war sie es, die kicherte, aber gleichzeitig kamen ihr die Tränen. Sie trat die wenigen Schritte zu ihm vor und drückte ihn fest an sich.
âAlso weiÃt du auch nicht, wie es weiter geht?â, fragte sie in seinen Pullover hinein.
âAnnie...â, begann er sanft und die Worte legten sich plötzlich wie von selbst in seinem Kopf zurecht. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er wusste, was er sagen wollte.
âEs geht doch schon längst weiter, ob wir wollen oder nicht. Früher haben wir die Decke angestarrt, nichts gesagt, und es war immer eine Hand breit Platz zwischen uns, weiÃt du noch? Aber weiÃt du, wie oft wir uns umarmt haben, seit diesem Streit? Wie oft du deinen Mascara in meine Klamotten geschmiert hast? Die Dinge ändern sich. Wir ändern uns. Aber es wird alles gut, okay? Wir reden noch mal drüber, wenn du wieder in der Lage bist, Entscheidungen zu treffen.â
Sie lieà ihn los. Er hatte Recht, mal wieder passierte alles auf einmal und sie fühlte sich nicht imstande, alles gleichzeitig zu verarbeiten.
âEs kommt mir vor, als hätte ich ihn in den Tod getrieben... Als hätte ich ihm den Grund weggenommen, wegen dem er noch hier war. Und ich war so gemein zu ihm, ich hab nur an mich selbst gedacht...â, fing sie an und starrte auf den Mascarafleck auf seinem Pullover. Sie brauchte definitiv wasserfeste Schminke.
âEr wollte es dir doch sagen. Er hat dir schlieÃlich das Messer geschickt, oder nicht? Er wollte das Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Jetzt ist er... frei. Und ich glaube... Er war wirklich nicht gut drauf, Annie. Er war krank und er hatte niemanden auÃer dir, es wäre doch nur schlimmer geworden. Irgendwann hätte er vergessen, wie man sein Essen schluckt, und wie man spricht...Jetzt geht es ihm besser.â
Sie nickte nachdenklich. Vielleicht hatte er Recht. Er schien heute irgendwie alles zu wissen.
âMeinst du, ich sollte meine Mutter kennen lernen?â, fragte sie und zwang sich, den Blick von dem Fleck zu lösen und ihn anzusehen.
âDu solltest gar nichts. Wenn du es irgendwann mal willst... aber du weiÃt alles, was du wissen wolltest, oder?â
âJa.â, antwortete sie ohne zu zögern, âDank dir.â
âDank Leon und seinem Groupie, meinst du?â
Er lachte und schüttelte den Kopf.
âDu hättest es nie erfahren, wenn du nicht all die Jahre darum gekämpft hättest.â
Er schwieg einen Moment und überlegte.
âUnd... bist du froh, dass du es jetzt weiÃt? Oder wünschst du dir, du hättest das alles nie erfahren?â
âAch Simon... Machst du dir immer noch Sorgen?â
Anne stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm sein Gesicht in die Hände.
âIch wollte es immer wissen, und jetzt weià ich es. Ich kann jetzt damit abschlieÃen. Es ist hart, aber es ist gut, dass ich es weiÃ. Und das verdanke ich dir, weil du dich Leon gestellt hast. Und du hast gewonnen, Simon.â
Er seufzte. Noch lebte sein Erzeuger, und eine verrückte Krankenpflegerin, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen würde, lief frei herum.
âWas ist los?â, fragte sie argwöhnisch.
âWas, wenn er noch was versucht? Oder seine... Freundin?â
Wie ein alter Mann lieà er sich auf die Couch sinken. Als er mit diesem müden Blick da saÃ, die Schultern hängend und die blonden Haare im Licht der Deckenlampe schimmernd, musste Anne unwillkürlich lachen. Sie setzte sich neben ihn und pikste ihn in die Seite. âWas soll der denn noch versuchen, Simon? Wenn er seinen Groupie auf uns hetzen wollte, hätte er es längst getan. Er will niemanden umbringen, er will, dass du...â
Sie stoppte ab. Es war so absurd und so gemein, dass sie es gar nicht über die Lippen brachte.
âDass du möglichst lange und intensiv leidest. Und das hat er nicht geschafft. Weil niemand zwischen uns kommt, okay? Und im Ãbrigen ist es doch eh bald zu Ende mit ihm.â
âDu bist dir aber sicher.â, stellte er überrascht fest und zog eine Augenbraue hoch.
âNaja...â
Sie lehnte sich an seine Schulter und gähnte.
âWas weià ich schon. Ich bin so traurig wegen Mayer, und meine Mutter... Die Geschichte ist echt total gestört. Und dann ist da auch noch mein bester Freund... ich hab Angst, auch nur drüber nachzudenken, was ich für ihn fühle...â, murmelte sie und kuschelte sich an ihn.
âHmm...â
Er gähnte ebenfalls.
âWenn er ein guter Freund ist, kann er warten.â
Epilog
2011
âAlso, um deine Frage zu beantworten... Ich weià nicht, was genau zwischen Simon und mir ist. Wir schweben grad irgendwie.âEs war seltsam. Jetzt stand sie mit ihrem Ex in der Küche und erzählte ihm alles frei heraus, als ginge es um eine Einkaufsliste oder vielleicht einen guten Kinofilm. Die ganze Geschichte war lang und es würden immer Teile davon bleiben, die sie verschwieg, oder vielleicht nicht für wichtig hielt, aber dass sie so frei über das reden würde, was in den letzten Wochen passiert war - Leon, Mayer, ihre Geschichte und natürlich Simon - das hätte sie vor einem Monat noch schlicht für unmöglich gehalten. Allerdings hatte sie auch nicht gewusst, dass das alles passieren würde.
Mark lächelte verständnisvoll.
âWeiÃt du noch, wie ich zu dir gesagt habâ, dass du wie eine Spinne im gefrorenen Netz bist? Wir sind abends zu mir nach Hause gelaufen und du fandest es so schön, dieses Netz auf der Brücke.â
âNatürlich weià ich das noch.â
Sie runzelte die Stirn. Was wollte er ihr damit sagen?
âIch glaube, du bist dein ganzes Leben so gewesen. Ich musste Monate warten, bis ich dich überhaupt küssen durfte.â, merkte er verschmitzt grinsend an.
âIch war ein nervöser Teenie und...â
âWas ich eigentlich meinte...â, unterbrach er sie, â... ist, dass dir Nähe schon immer unangenehm war. Du hast dich nicht nur vom echten Feuer ferngehalten, sondern auch vor... naja, dem metaphorischen.â
Mit einem Lächeln blickte sie zum Esstisch, an dem Simon und Marlijn gerade über irgendetwas lachten. Sie nickte leicht.
âKann schon sein.â
âStell dir ein Stück Holz im Eis vor.... Du kannst es hundertmal ins Feuer halten, bis es brennt. Das Feuer umspielt es, aber es rührt es nicht an. Es wärmt es nur, und immer wieder tropft Wasser runter und fast geht das Feuer aus. Aber es brennt weiter. Bis es groà genug ist. Bis es genug Kraft hat. Und das Eis knackt, es bekommt Risse, ganz plötzlich von irgendwas.
Und dann, einen Moment später... alles dreht sich um diesen einen Moment...â, sagte er verheiÃungsvoll und machte eine Pause.
âUnd dann...â Langsam begann sie zu verstehen.
Zufrieden grinsend gab er ihr die Flasche Wein, die er nebenbei geöffnet hatte- sie hatte es nicht mal bemerkt.
Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie mit sanftem Druck zum Tisch zurück.
Simon und Marlijn unterbrachen ihr Gespräch und Simon stand auf, um Anne die Flasche abzunehmen und für alle Wein nachzuschenken. Prüfend sah er sie an. Sie war müde von den vergangenen Tagen, traurig bei dem Gedanken an Mayer, und doch strahlte sie.
Mark setzte sich neben Marlijn, nahm ihre Hand und den ausgewickelten Lolli, den sie ihm wie automatisch hinstreckte.
Anne senkte den Blick vor Simons prüfenden Augen und wollte sich auf den Stuhl neben ihm setzen, was mit einem empörten Fauchen des vermeintlichen Kissens â besser bekannt als Mrs. Mistoffelees â quittiert wurde. Beleidigt hüpfte der Kater vom Stuhl und hinterlieà eine Wolke aus Haaren, die einen Niesanfall bei Simon auslöste.
âWorüber habt ihr denn so lange gequatscht?â, fragte er argwöhnisch nach, als er wieder Luft bekam. Der Kater war inzwischen unter dem Schrank verschwunden und spielte mit den Fransen des Teppichs, wozu er eine Pfote weit ausstrecken musste. Ja, selbst der Kater war irgendwie mutiger geworden. âWir mussten ewig auf unseren Wein warten.â, fügte Simon seiner Frage hinzu und lenkte Annes Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Marlijn kicherte und lehnte sich an Marks Schulter- als ob Simon damit auch nur ein hundertstel weniger eifersüchtig wirkte...
âNaja, wir haben so über dies und das geredet....Marlijn, hast du mal ein Feuerzeug? Die Kerze ist so undekorativ, wenn sie aus ist.â, lenkte Anne ein wenig ab.
Simon und Mark schauten sie ungläubig an, während Marlijn arglos in ihrer Tasche kramte.
âRaucher haben immer ein Feuerzeug... aber wieso hast du denn keins in der Wohnung?â, fragte sie dabei, fand schlieÃlich das Feuerzeug und reichte es Anne.
Nachdenklich drehte diese es in der Hand und hielt es schlieÃlich Simon hin.
âKannst du?â
Er nahm es vorsichtig aus ihrer Hand und schaute sie dabei verunsichert an, aber als sie nickte, lieà er seine Bedenken verfliegen und das Feuer aufflammen.
âSeit wann...?â, setzte er ungläubig an â seit er sie kannte, konnte sie die Gegenwart von noch so winzigen Flammen nicht ertragen.
âSeit jetzt. Eigentlich sind Kerzen doch ganz schön. Ich hab sie in der Stadt gesehn und einfach mitgenommen.â
Sie zuckte vorsichtig lächelnd mit den Schultern, legte ihre Hand auf seine und sah zu, wie sich ihre Finger wie von selbst mit seinen verschränkten.
âWeiÃt du... Es ist doch irgendwie schön, das Feuer. Es kann schrecklich sein, und beängstigend. Vielleicht erlischt es irgendwann und man steht vor den verkohlten Resten, vielleicht verbrennt man sich... Aber das ist egal, wenn man erst mal Feuer gefangen hat....â
Simon war etwas irritiert von dieser Metapher â genau genommen konnte er nicht einmal sicher sagen, dass es eine war. Aber dass sie ihn so vielsagend anlächelte sprach doch irgendwie dafür.
âFeuer gefangen?â Er konnte sehen, wie sie in ihrem Kopf abwägte, ob sie das so sagen konnte, ob sie das Schöne mit dem Schrecklichen so verbinden konnte. Aber am Ende... war es nicht irgendwo alles das Gleiche? Wenn sie in die Flamme der Kerze sah, dann glaubte sie noch immer, ihren Vater brennen zu sehen, obwohl sie jetzt wusste, dass sie nicht dabei gewesen war. Ihr Vater war in das Haus zurückgegangen â aus Liebe â und ihre Mutter hatte ihn angezündet - in ihrem verqueren Verständnis ebenfalls aus Liebe.
Anne hatte es noch nicht verarbeiten können, sie wusste nicht, ob sie ihre Mutter je kennen lernen wollte oder ob dieser Teil ihres Lebens hier zu Ende war.
Aber sie hatte so viel bei ihrer Suche nach der Wahrheit gelernt: Dass ihre Eltern sich sehr geliebt hatten. Dass sie sie sehr geliebt hatten.
Sie konnte nicht ändern, was passiert war, egal wie sehr sie sich wünschte, dass ihr Vater noch einmal âKäferchenâ zu ihr sagen würde. Aber die Zukunft wartete auf sie, nachdem sie so lange die Vergangenheit gesucht hatte. Und sie war nicht allein.
âNaja...Selbst wenn man Angst davor hat und sich nicht sicher ist, das Richtige zu tun...Wenn es dich ein Mal erwischt hat, ist es sowieso zu spät.â
Sie musste fast grinsen, so sicher war sie sich ihrer Sache plötzlich.
âFür manche Dinge lohnt es sich, zu brennen. Meinst du nicht?â