10. Teil
Lillian
Spanish Harlem, 2000
Lillian tunkte ihre Zigarette in dem kleinen silbernen Aschenbecher aus und musterte ihre Freundin lächelnd. Elena küsste ihren dreijährigen Sohn Emilio sanft. „Geh wieder spielen, Cariño. Deine Mamá unterhaltet sich nur ein wenig mit Lillian.“ Der Kleine gluckste fröhlich und setzte sich auf die Wolldecke, auf welcher bunte Bausteine verstreut lagen.
Elenas Augen begannen zu tränen, als sie ihren Sohn beobachtete. Sie wohnten in einer winzigen Zweizimmerwohnung oberhalb einer alten Spelunke, von welcher täglich Geschrei und Gepolter durch die dünne Wand nach oben drang. Ihre Familie hatte sich nach der groÃen Schande von ihr abgewandt. Es gab im Viertel zwar einige Menschen, darunter auch Ana Vasquez, welche sie schon oft unterstützt hatten und dies auch noch immer so weit wie möglich taten, Elena empfand ihre Situation dennoch als hoffnungslos. Sie schlug sich mit oftmals sehr niedrigen Gelegenheitsjobs durch, ihr einziger Lebensinhalt war Emilio. Jeden Abend, nachdem sie ihm einen Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, entschuldigte sich Elena gedanklich bei ihrem Sohn, dass er in so einem Umfeld aufwachsen musste.
„Entschuldige. Ich will dir nicht zu Last fallen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte…“ Lillian runzelte unsicher die Stirn. Elena hatte weià Gott andere Probleme als eine verzweifelte Freundin.
Die junge Frau wandte sich Lillian zu und ergriff deren Hand. „Ich bin sogar heilfroh, dass du gekommen bist. Ana hat schon fünfmal verzweifelt angerufen, Arturo zweimal.“
Lillian seufzte.
Elena musterte ihre beste Freundin nachdenklich. Es war noch niemals Lillians Stärke gewesen über Gefühle zu sprechen. Es schien oftmals gerade so, als hätte sie Angst davor diese überhaupt zu haben. „Erzählst du mir, was passiert ist?“
Lillian starrte auf die zerkratzte Fensterscheibe. Der Druck auf ihrem Herzen verstärkte sich.
„GroÃmutter, Ana, wollte keinen Tee…“ Sie blickte ihrer Freundin in die Augen.
Elena runzelte die Stirn. „Muss ich das nun verstehen?“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen. „Sie ist doch nicht krank?“
„Sie ist gesünder denn je.“
„Aber…“ Elena fixierte nachdenklich einen imaginären Punkt auf dem kleinen Holztisch, betrachtete schlieÃlich wieder die emotionslosen Gesichtszüge Lillians. „Was war denn mit dem Tee?“
„Ich wollte uns Tee machen und über meine Mutter sprechen. Ich wollte wissen, wie sie in meinem Alter war. Wie die achtzehnjährige Rosa gelebt hatte.“
„Wollte sie nicht über deine Mutter sprechen? Es setzt ihr immer noch sehr zu. Das musst du verstehen, Lillian.“
Ohne darauf einzugehen fuhr Lillian fort. „Ich hatte so viele Fragen am Herzen, die ich endlich stellen wollte. Die Lieblingsfarbe meiner Mutter, ob sie das Tanzen liebte. Wer ihre Freundinnen waren. Ob sie tatsächlich immer in die Flamenco Bar zum Tanzen gingen. Was meine Mutter gerne getrunken, gegessen hatte. Was sie über Politik, Religion und die Regierung dachte. Ich wollte jedes Detail ihres früheren Lebens wissen. Dann wollte ich meine Erinnerungen mit GroÃmutter teilen und auffrischen. Wie schön Mamá war, wie graziös sie getanzt hatte. Wie einmalig sie Geschichten erzählen konnte. Ich wollte über unsere ausgiebigen Sonntagfrühstücke sprechen. Darüber wie schön es war mit Mamá und Papá nach dem Kirchbesuch im Central Park spazieren zu gehen. War das Wetter schlecht, gingen wir ins Kino…“ Lillian holte Luft. „Danach besuchten wir stets die beste Pizzeria Brooklyns. Ich wollte meiner GroÃmutter erzählen, wie wunderbar es war mit meinen Eltern abends im Bett zu fernsehen und dabei einzuschlafen. Papá trug mich danach immer ganz sanft in mein Bett zurück oder lieà mich bei ihnen übernachten…“ Sie senkte den Blick und hielt einen Moment inne.
Elenas Augen begannen zu tränen. Ihr Blick schweifte einen Moment über Emilio.
„Samstagmorgen schauten wir stets Zeichentrickfilme im Fernsehen. Mamá liebte die Cartoons eben so wie ich. Papá machte uns währenddessen Frühstück und brachte es uns zum Tisch vor der Fernsehcouch. Er setzte sich zu uns und las Zeitung. Wir sollten nicht denken, dass er sich Kindersendungen ansah. Ich ertappte ihn jedoch hin und wieder, wie er von der Zeitung hochsah. Danach ging Mamá meist ins Fitnessstudio oder traf Freundinnen. Papá und ich fuhren nach dem Frühstück manchmal Einkaufen - ich liebte es mit ihm einzukaufen - und gingen danach in eine Eisdiele oder in eine Konditorei um uns den Bauch mit ungesundem Zeug vollzuschlagen.“ Lillian blickte ihrer Freundin in die Augen. „Der Anruf…dieser Anruf…ich weià nicht mehr, was genau meine Babysitterin sagte. Tags darauf brachten sie mich nach Spanish Harlem zu GroÃmutter. Ich hatte wochenlang nur geweint - weder geschlafen, noch gegessen. Die Erinnerungen, die Erinnerungen waren es, die mich schlieÃlich am Leben gehalten haben. Und als ich endlich die Kraft gefunden hatte, um über diese zu sprechen, teilte mir meine GroÃmutter mit, dass diese Lügen wären. Lügen. Wie mein ganzes Leben eine einzige lange Lüge ist.“ Lillian begann zu zittern.
Elena ergriff ihre Hand und drückte diese. „Wie meinst du das? Was hat sie dir gesagt?“
Lillian blickte ins Leere. „Meine Eltern…“ Ihre Stimme stockte. „…hatten wenige Jahre nach ihrer Hochzeit erfahren, dass sie niemals eigene Kinder haben könnten. Mamás…Rosas…“ Sie schloss die Augen für einen Moment. „…Eierstöcke waren unterentwickelt…“ Lillian hob den Kopf.
Elena musterte ihre Freundin unsicher. Sie wollte die richtigen Worte finden, fand sie aber nicht.
„Ich musste beinahe achtzehn Jahre alt werden um zu erfahren, dass ich adoptiert bin. Jahrelang hatten sie mir gepredigt, wie wichtig Ehrlichkeit wäre, hatten mich jedoch selbst belogen! Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Und dieses Geheimnis musste mir meine GroÃmutter ausgerechnet kurz vor der Abschlussprüfung mitteilen! Warum ist sie nicht einfach auf meine Fragen eingegangen und hat weiterhin geschwiegen?“
Elena zog sie in ihre Arme. „Lillian. Es ist gewiss nicht einfach mit so einem Geheimnis zu leben. Auch wenn es möglicherweise der schlechteste Zeitpunkt war, sie musste es dir irgendwann sagen.“ Sie strich ihr sanft über den Rücken. Emilio sah besorgt von seiner Mutter zu Lillian. „Alles in Ordnung, mein Schatz.“ Elena wandte sich wieder an ihre Freundin. „Aber es stimmt nicht, was du sagst. Es war nicht alles eine Lüge. Deine Eltern liebten dich über alles. Ihr hattet eure unvergesslichen Rituale. Das gemeinsame Lesen, Fernsehen, Kino gehen, Einkaufen. Eure Gespräche. Eure Gefühle. Sie waren real. Sie sind real, Lillian. Ob du nun ihr leibliches Kind bist oder nicht, sie waren dir die besten Eltern und du warst ihnen die beste Tochter…“ Elena atmete tief durch und senkte die Stimme, damit Emilio sie nicht hören konnte. „Es gibt keinerlei Zweifel, dass meine Eltern mich auch gezeugt haben. Aber Mutter und Vater sind sie mir dennoch nie gewesen. Lillian, du hattest Glück bei so unglaublichen Menschen aufwachsen zu dürfen. Sie haben dir nicht gesagt, dass du adoptiert bist. Das war ein Fehler, sie hätten es tun müssen. Aber vielleicht hätten sie es auch noch getan. Verzeih ihnen. Verzeih deiner GroÃmutter. Sie haben es dir gewiss aus keiner böswilligen Absicht heraus so lange verschwiegen.“
Lillian löste sich von ihrer Freundin. Ihre Augen waren gerötet. „Warum? Warum haben sie gelogen? Ich verstehe es nicht! Und wer sind meine leiblichen Eltern? Warum wollten sie mich nicht? Bin ich nur das verhasste Unglück einer feuchtfröhlichen Nacht? Die Jahre in Brooklyn waren die einzigen, in welchen ich mich wirklich zugehörig fühlte. Hier haben sie mir von Anfang an zu verstehen gegeben, dass ich nicht hier her gehöre. Nun habe ich das Gefühl nicht einmal nach Brooklyn - zu den Menschen, die ich Mamá und Papá nannte - gehört zu haben. Wer bin ich, Elena?“
„Wer du bist, Lillian? Eine wundervolle, junge Frau, die immer für mich da gewesen ist. Meine beste Freundin. Anas geliebte Enkeltochter. Es ändert sich doch nichts, Lillian…“
Lillian erhob sich seufzend. „Ich kann nicht einfach so weiter machen, als wäre nichts geschehen.“ Ihre Stimme überschlug sich.
„Wohin willst du?“ Elena musterte sie besorgt und erhob sich ebenfalls. Emilio blickte erschrocken hoch. Seine Augen waren neugierig geweitet, als er auf die beiden Frauen zu tapste.
„Ich werde nachhause gehen…Ana - GroÃmutter und ich müssen noch reden.“
Elena nickte. „Rufst du mich an? Ich würde mich freuen, würdest du uns morgen beim Abendessen Gesellschaft leisten. Emilio würde sich auch freuen, nicht wahr, Cariño?“
„Ja, Lillian soll zum Essen kommen!“ Er klatschte freudig in die Hände.
Lillian strich ihm lächelnd durchs Haar. „Wenn das so ist, werde ich natürlich kommen.“
Emilio strahlte über das ganze Gesicht. „Spielen wir dann etwas?“
„Versprochen.“
Elena begleitete ihre Freundin bis zum Stiegenabgang. „Warte drinnen auf mich!“ Rief sie ihrem Sohn zu, welcher ihnen folgen wollte.
„Er ist ein kleiner Engel.“ Lillian lächelte.
„Ja. Wie sein Vater.“ Elenas Augen bekamen für einen Moment einen traurigen Ausdruck. SchlieÃlich fing sie sich wieder.
„Wir alle vermissen ihn…“ Flüsterte Lillian.
Elena ging nicht darauf ein. „Bis morgen. Und sei nicht zu streng zu ihr. Deine GroÃmutter liebt dich.“
Lillian umarmte ihre Freundin kurz und verlieà das alte Gebäude.
Ana umfasste den alten Rosenkranz ihrer GroÃmutter fester. Die Holzkugeln schmerzten auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen und ignorierte die Tränen, welche über ihre Wangen liefen. „Heilige Mutter Gottes, bring mir bitte mein kleines Mädchen zurück.“ Flehte sie.
Sie hörte kaum, wie die Tür geöffnet wurde. „GroÃmutter?“ Lillians Stimme zitterte.
Der Rosenkranz schlug auf dem harten Boden auf. „Lillian!“ Ana glaubte die Steine zu hören, welche sich von ihrem Herzen lösten. Sie schloss ihre Enkeltochter in die Arme. „Wo warst du denn? Ich bin fast umgekommen vor Angst…“
Lillian löste sich aus der Umarmung. „Können wir uns setzen?“
Ana nickte seufzend. „Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir leid, dass ich dich so damit überfallen habe...“ Sie lieà sich langsam auf die Couch sinken.
Lillian hob den Rosenkranz auf und setzte sich ebenfalls. Sie reichte ihn ihrer GroÃmutter. „Warum? Warum habt ihr es mir nicht gesagt?“
Ana betrachtete die emotionslosen Gesichtszüge ihrer Enkeltochter. Ihre Augen begannen zu tränen. „Rosa hatte kaum gehen gelernt als sie schon eigene Kinder wollte. Es war ihr gröÃter Wunsch an das Leben. Sie konnte es niemals ganz verkraften, empfand ihren Körper als fehlerhaft und abstoÃend. Aber dich, mein Kind, hätte sie nicht mehr lieben können, wärest du ihre leibliche Tochter gewesen. Du warst ihr Ein und Alles. Sie hat dich immer als Geschenk des Himmels bezeichnet. Rosa hatte stets von einer perfekten Familie geträumt. Vielleicht war es das, was sie so lange zögern lieÃ, die Wahrheit zu sagen. Sie war so stark, aber auch so schwach. Vielleicht hätte sie es dir auch gesagt, wenn du älter geworden wärest. Ich weià es nicht. Aber eines kann ich dir versichern, Rosa und Jorge haben dich mehr als alles andere geliebt, hätten ihr Leben für dich gegeben. Ich liebe dich genauso, mein Engel. Ich bin eine schwache Frau, welche schon viele schlimme Erfahrungen gemacht, schon zu viele Menschen verloren hat. Ich hatte Angst, es dir zu sagen. So dumm war ich. Es tut mir leid. Ich hätte es dir früher, viel früher, sagen müssen. Aber wenn die Jahre vergehen, kannst du es immer weniger.“
„Warum gerade jetzt?“
„Du wirst bald achtzehn, bist kein Kind mehr. Und ich werde immer älter. Das Schweigen hat mich von Jahr zu Jahr immer mehr belastet. Gestern habe ich endlich die Kraft gefunden darüber zu sprechen. Vielleicht weil du dich mir zum ersten Mal seit langer Zeit ein wenig geöffnet hast. Verzeih mir bitte. Verzeih deinen Eltern.“
Lillian fixierte einen imaginären Punkt auf der Wand. „Darf ich die Adoptionsunterlagen sehen?“ Fragte sie schlieÃlich.
Anas Augen begannen zu tränen. „Natürlich.“ Gerade als sie sich erhoben hatte um zu dem kleinen Schrank in ihrem Zimmer zu gehen, klopfte es an der Tür. Ana näherte sich Stirn runzelnd. „Wer ist da?“ Rief sie.
„Señora Vasquez, entschuldigen Sie bitte die Störung, ich…“
Sie warf Lillian einen kurzen Blick zu, diese nickte. Ohne ihn aussprechen zu lassen, öffnete Ana die Tür und begann sogleich. „Es ist Sonntagabend. Das bleibt eine Ausnahme.“ Sie deutete ihm herein zu kommen.
„Natürlich. Vielen Dank, Señora.“ Arturo konnte die Erleichterung nicht verbergen, welche er bei Lillians Anblick verspürte.
Ana warf ihrer Enkeltochter einen kurzen Blick zu. „Ich suche einstweilen nach dem Dokument.“ Mit diesen Worten verschwand sie in ihrem Zimmer.
Arturo setzte sich neben Lillian. Diese wich seinem Blick aus. „Du hattest es ja heute Morgen ganz schön eilig. Ich habe beinahe mächtige Selbstzweifel bekommen.“
„Mir ist im Moment nicht nach Scherzen zu Mute.“ Lillian betrachtete das Muster der alten Vase, welche auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa stand.
„Gut. Mir nämlich ebenso wenig.“ Seine Stimme hob sich. „Wie konntest du das tun?“
Lillian wandte sich ihm zu und zog die Stirn kraus. „Ich brauchte lediglich Zeit für mich. Was dachtest du denn, dass ich tun würde? Mich vor die nächsten U-Bahngleise schmeiÃen? Würdest du mir so etwas Dummes tatsächlich zu trauen? Was, wenn ich so etwas überleben würde? Dann wäre ich für immer schwer behindert!“
„Du treibst mich noch in den Wahnsinn! Du hättest dich sehen müssen. Du warst vollkommen verzweifelt. Ich hatte wirklich Angst, du würdest dir etwas antun. Ich habe dich noch nie so erlebt.“
„Das wirst du auch nicht mehr. Versprochen.“ Sie wandte sich wieder ab.
Er schüttelte den Kopf. „Lillian, ich will dir doch nur helfen. Du bist gestern zu mir gekommen, weil du mich gebraucht hast. Ich möchte für dich da sein. Du solltest wissen, dass wir über alles sprechen können.“
„Hör auf damit, Arturo!“ Sie funkelte ihn wütend an. „Hör auf diese Nummer abzuziehen! Du musst nicht den Seelenklempner für mich spielen, nur weil wir hin und wieder Zeit miteinander verbringen!“
„Warum bist du so wütend auf mich?“
„Weil du es einfach nicht akzeptieren willst, dass ich im Moment nicht darüber sprechen kann.“
„Es tut mir leid.“ Er ergriff ihre Hand. „Lass uns über etwas anderes sprechen. Ich werde nicht mehr mit diesem Thema beginnen. Sollte es wieder aufkommen, wird das von deiner Initiative ausgehen.“
Sie seufzte leise und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. „WeiÃt du, was ich wirklich hasse? Dass du immer dann, wenn ich so zickig bin, so furchtbar lieb zu mir bist.“
„Wir müssen uns stets ausgleichen. AuÃerdem weià ich, wie sehr dich das quält und das bereitet mir eine gewaltige Freude.“ Er zog sie an sich.
„Du bist ein Sadist.“ Sie löste sich aus seinen Armen. „Wie war die Feier?“
„Nach Elenas Anruf wieder gewohnt langweilig.“
„Hat Yolanda sich wenigstens amüsiert?“
„Oh ja, Sie hat sich mit meiner Mutter über die hohe Kunst der Stickerei unterhalten.“
Lillian runzelte die Stirn. „Du solltest aufpassen, sonst sucht deine Mutter mit ihr bald das Hochzeitskleid aus.“
„Das trau ich ihr sogar zu.“ Arturo seufzte genervt.
Sie wich seinem Blick aus. „Ich dachte immer, du könntest Yolanda nicht ausstehen. Warum wolltest du gestern ausgerechnet mit ihr ausgehen?“
„Lillian, ich dachte wir hätten dieses nervende Thema abgehackt?“
„Ja, natürlich. Entschuldige.“ Sie blickte auf ihre Zehenspitzen. „Ich kann sie nur einfach nicht ausstehen.“ Sie wandte sich ihm wieder zu. „AuÃerdem ist sie eine gemeingefährliche Schlange, welche nicht eher locker lassen wird, bist du sie zu deiner Freundin oder gar Verlobten machst.“
Arturo spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. „Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein.“ Er küsste sie kurz. „Sag mal, hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht…“
„Da ist es. Entschuldige, es war ganz unten…“ Ana hielt einen Moment inne und warf Arturo einen misstrauischen Blick zu. Dieser vergröÃerte sogleich die Distanz zwischen Lillian und ihm.
„…im Schrank.“ Beendete Ana den Satz.
„Danke, GroÃmutter.“ Lillians Herzschlag wurde schneller. Sie runzelte unsicher die Stirn.
„Ist es dir lieber, wenn ich gehe?“ Fragte Arturo leise.
Sie nickte leicht. „Ich komme morgen nach der Schule bei dir vorbei, okay?“
„Okay.“ Er küsste sie auf die Wange und erhob sich. „Einen schönen Abend noch, Señora Vasquez.“
Ana nickte nur flüchtig und beobachtete Lillians Gesichtszüge.
„Willst du es wirklich sehen?“ Fragte sie ihre Enkeltochter, nachdem Arturo die Wohnung verlassen hatte.
Lillian atmete tief durch und nickte schlieÃlich.
Ihre GroÃmutter setzte sich neben sie und reichte ihr das Dokument. Das Papier war beidseitig bedruckt und befand sich in einer dünnen Glassichtfolie.
Lillians Hände zitterten. Vor vierundzwanzig Stunden war ihre Welt noch in gewohnte Bahnen verlaufen. Lillian hatte ihr Leben akzeptiert und ihre Vergangenheit idealisiert. Und nun saà sie wie so oft gemeinsam mit Ana auf dem alten Sofa. Nur hielten ihre Hände diesmal den Beweis für das Brechen der letzten Hoffnung, des letzten Lebenshauches ihres Herzens. Schwarz auf weiÃ, in einer dünnen Glassichtfolie. Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Lillian bemerkte es nicht, als Ana ihre Tränen verwischte. Buchstaben. Bis jetzt waren Buchstaben lediglich Elemente gewesen, die ein Wort bildeten. Worte bildeten Sätze und diese Texte. Nie war sich Lillian der Macht von Buchstaben so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Sie spürte wie der Druck ihr die Luft zum Atmen nahm. Ihre Gedanken wurden verschwommen. Sie hörte weder die Geräusche von der StraÃe noch Ana, welche leise auf sie einsprach. Ihre Augen fixierten die Worte. Sie war unfähig diese zu schlieÃen oder abzuwenden. 15.12.1982 An diesem Tag war sie von Rosa und Jorge Marquez adoptiert geworden. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits ein halbes Jahr alt gewesen.
Lillian überflog die restlichen, sehr dürftigen, Informationen.
„Deine Eltern haben sich viele Jahre lang um die Adoption eines Kindes bemüht. Ihr Antrag wurde immer ewig aufgeschoben oder gleich abgelehnt. Eine Freundin Rosas berichtete dann von diesem Kranken- und Waisenhaus. Dort wurden oft Kinder aus sehr armen Verhältnissen abgegeben. Vor allem aus diesem Grund machten sich deine Eltern damals auf die lange Reise um diese Institution aufzusuchen. Sie wollten einem Kind ein besseres Leben ermöglichen. Es dauerte ein Jahr bis sie den Anruf erhielten, dass ein kleines Mädchen von sechs Monaten abgegeben worden war. Sie haben dich schon zwei Wochen später adoptiert. Das war Schicksal, Cariña. Ich weià noch, als sie mich einluden um mir meine Enkeltochter vorzustellen...“ Anas Augen tränten. „Ich schwöre dir, dass ich deine Eltern noch nie so glücklich gesehen hatte. Und ich war es ebenso, bin es bis heute.“ Sie strich Lillian sanft über die Wange. „Die Leute reden immer, das weiÃt du. Rosa wollte nicht, dass über unsere Familie noch mehr gesprochen wird, weshalb sie kaum jemanden von der Adoption erzählte. Natürlich wussten es die Leute in Brooklyn, aber hier erfuhr es beinahe niemand, weshalb auch die unterschiedlichsten Gerüchte aufkamen. Es tut mir so leid, dass du es so spät erfahren musstest.“
Lillian strich über die Folie und las sie erneut. Die Informationen blieben dieselben. Eltern unbekannt. Sie seufzte. „Keine Namen. Wer sind meine leiblichen Eltern? Und wer ist diese Oksana Miller, welche unten vermerkt ist? Das ganze kommt mir so unseriös vor…dieses ganze Dokument!“
Ana schüttelte den Kopf. „Deine Fragen kann ich dir leider nicht beantworten. Ich kann dir nur sagen, dass es hier in den Staaten noch einige Monate dauerte, bis die Adoption als rechtsgültig anerkannt wurde.“
Lillian seufzte leise. Ihr Blick strich über die Telefonnummer unter der Adresse der Institution. Falls es diese überhaupt noch gab, war das ihre einzige Möglichkeit.