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Ich beobachtete, wie sich meine Tochter die letzten Tränen von den Wangen wischte, unfähig zu sprechen. Was hatte diese junge Frau nur schon alles durchgemacht?
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, meinte sie mit erstickter Stimme. „Mum, ich weià ehrlich gesagt nicht, was mit mir passieren wird, wenn ich auch noch Grandma verliere...“ Sie schüttelte den Kopf und fixierte die hellblaue Bettdecke.
„Carol! Sag so etwas nicht! Du hast eine Familie, welche dich über alles liebt! Und wunderbare Freunde!“
„Sie wird wieder gesund. Bitte sag mir, dass sie wieder gesund wird. Sie darf uns nicht verlassen.“ Carol schüttelte den Kopf.
„Wir werden alles dafür tun, dass sie wieder gesund wird. Das verspreche ich dir.“
„Okay...“ Sie atmete tief durch.
„Nun schlafe ein wenig.“
Carol folgte meinem Ratschlag. Ich beobachtete sie während der folgenden zwei Stunden, schaffte es nicht mich zu erheben und wollte es auch nicht. Das Knarren der Tür schreckte mich aus meinen angsterfüllten Gedanken. Luke war gekommen um Carol abzuholen. Es wurden wenige Worte gewechselt und sie fuhren gemeinsam mit Ramón und Jenny ins Krankenhaus. SchlieÃlich war auch Mums Arzt gekommen. Ich wartete unruhig vor der Tür, während er sie untersuchte und versuchte vergeblich Wortbrocken zu verstehen. Susana war derweil in die Küche gegangen um Essen für uns alle zu kochen. Nach einer halben Stunde verlieà der schon etwas ältere Arzt Mums Zimmer. Mein Herzschlag wurde schneller. Ein schwerer Druck erfasste erneut mein Herz. „Dr. Connor...“ Ich runzelte die Stirn.
Er schloss die Tür und schenkte mir ein kurzes Lächeln.
„Wie geht es ihr?“ Ich wartete keine Antwort ab. „Sie klagte die letzten Tage schon etwas weniger über Schmerzen und kann sich zunehmend an Details erinnern.“ Ich mühte mich um ein Lächeln. „Sie nimmt ihre Tabletten regelmäÃig und trinkt unter groÃer Müdigkeit ihren Tee sogar beinahe ohne zu jammern. Auch ihre Gesichtsfarbe wirkt rosiger...“ Sein mildes Lächeln lieà meinen Redeschwall verstummen.
Er seufzte leise und betrachtete mich nachdenklich.
„Dr. Connor?“
„Mrs. Gilmore...“
Ich korrigierte ihn nicht bezüglich der falschen Anrede. „Ja?“
„Ihre Mutter ist schon im fortgeschrittenen Alter...“
„Heutzutage werden genügend Menschen dreiÃig Jahre, oder sogar mehr, älter...“
Er nickte. „Das ist richtig. Ich möchte Ihnen aber keine falschen Hoffnungen machen und muss ehrlich zu Ihnen sein...“
Ich rang fröstelnd nach Atem.
Dr. Connor legte seine Hand sanft auf meinen Arm. „Auch wenn die Erinnerungsfähigkeit Mrs. Gilmores in den letzten Tagen positive Phasen hatte, hat sich ihr gesundheitlicher Zustand leider nicht verbessert. Ihr Körper ist sehr schwach und müde. Ich weià ehrlich gesagt nicht, was ich noch für sie tun könnte...“
Ich glaubte den Boden unter den FüÃen zu verlieren. Ein Schwindel erfasste mich. Meine Lippen wurden trocken, konnten zuerst kein Wort formen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Nägel stieÃen schmerzend in meine Haut. Die Wut, der Schmerz, die Angst - alle Gefühle schienen zugleich aus mir zu schwallen. „Was sind Sie eigentlich für ein Arzt?! Wie können Sie sie einfach so aufgeben? Was haben Sie schon für eine Ahnung über ihren Kampfgeist? Was wissen Sie schon darüber?! Ich werde einen Spezialisten konsultieren! Wer hat Ihnen das Recht verliehen als Arzt zu arbeiten? Was haben Sie denn schon versucht?! Sie geben sie einfach auf! Ihnen sollte die Lizenz entzogen werden! Sie wird nicht sterben! Sie wird kämpfen! Sie ist stark! Sie wissen gar nicht, wie stark sie ist! Sie wird nicht gehen. Nein, das wird sie nicht. Dafür werden wir sorgen. Sie wird wieder gesund werden! In wenigen Monaten werden wir wieder gemeinsam Kaffee trinken und Videos schauen!“ Jede einzelne Träne versetzte mir einen weiteren Stich im Herzen.
„Mrs. Gilmore...“ Dr. Connors Stimme war sanfter geworden.
„Verschwinden Sie! Verschwinden Sie endlich!“ Schrie ich ihn an und wandte mich zum Treppenabgang, wo ich Jess auf der obersten Stufe stehend erkannte.
Es war zuviel für mich. Ich sank auf den kalten Boden und vergrub das Gesicht in den Händen
Jess wechselte leise ein paar Worte mit dem Arzt. Ich verstand sie nicht, versuchte es aber auch gar nicht.
„Rory?“ Er reichte mir die Hände und zog mich hoch.
„Ich kann nicht mehr!“ Schluchzte ich hemmungslos. „Ich kann nicht mehr, Jess! Das ist zuviel!“
Er zog mich in seine Arme und strich mich beruhigend über den Rücken.
Plötzlich vernahmen wir leise Schritte. Ich löse mich langsam aus Jess’ Armen und drehte mich um.
Matt stand am Treppenabsatz und blickte uns an. Seine Augen waren voller Angst und Verzweiflung. „Nein.“ Flüsterte er. „Nein...“
„Matt...“
Er schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht...sie wird nicht...“ Er verstummte.
„Nein!“ Ich zog ihn in meine Arme. „Nein, sie wird uns nicht verlassen. Das wird sie nicht! Wir pflegen sie gesund! Hast du mich verstanden?!“
Er löste mich langsam. Sein Anblick zerbrach mir beinahe das Herz. Er war blass geworden, seine Augen gerötet. Ich hatte Matt seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr weinen gesehen. „Schatz, deine Grandma ist stark! So stark, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“
Matt warf Jess einen Blick zu, dieser nickte zögernd. „Die Gilmores sind alle Kämpfer.“
„Genau. Hör auf ihn. Er hat uns schon lange genug am Hals.“ Aus unerfindlichen Gründen gelang mir sogar ein leichtes Lächeln. „Verliere niemals den Glauben in sie. Schlimm genug, dass auch dieser Arzt sie aufgegeben hat. Aber wir werden einen fähigeren konsultieren, hörst du?“
Matt nickte zaghaft. „Darf ich zu ihr?“
„Natürlich. Geh ruhig. Wir werden einstweilen runter gehen und Susana helfen. Mum hat gewiss schon lange Hunger.“
Als Matt die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff Jess meine Hand. „Du bist so stark.“
Ich lachte gequält. „Wir hatten tatsächlich zu lange keinen Kontakt mehr. Ich bin alles andere als stark, Jess. Wenn du wüsstest, wie es in meinem Inneren aussieht...“
„Das weià ich...“ Er strich mir die von den Tränen verklebten Haarsträhnen hinters Ohr. „...das habe ich immer gewusst.“
Ich lächelte leicht. „Danke...für alles...“
„Ich bin für dich da, Rory. Das werde ich immer sein.“
„Danke, Jess. Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Besonders in diesen schweren Stunden...“
Er nickte. „Lass uns hinunter gehen. Carmen und Juan können dich gewiss ein wenig ablenken. Ich helfe derweil Susana.“
Auf der letzten Stufe angekommen, hielt ich inne. „Jess?“
Er blickte mich Stirn runzelnd an.
„Mum erzählte mir heute Morgen, dass sie von einem Videoabend geträumt hätte. Wir schauten Footloose...“
„Einer eurer Lieblingsfilme.“ Jess lächelte. „Wie oft habt ihr ihn gesehen, 2000 Mal?“
„Nein, exakt 3456 Mal.“
„Wow.“
Ich wurde wieder ernst. „Es macht mich traurig, wenn ich an die letzten vierzig Jahre denke...ich werde nie wirklich begreifen, warum es soweit kommen konnte...“
Er seufzte leise, wusste offenbar nicht, wie er reagieren sollte.
„Ich sorge mich auch um Carol. Sie hat schon so viel durchgemacht. Die ganze Aufregung und Angst...ich habe Angst, dass es ihr zuviel geworden ist...“
„Rory!“ Jess ergriff meine Hände. „Carol wird es wieder besser gehen. Versprochen.“
Ich unterdrückte die Tränen nur sehr mühsam. „Ja...“ Ich versuchte selbstsicherer zu klingen. „Genau wie Mum...“
Jess wich meinem Blick aus. „Komm.“ Er zog mich ins Wohnzimmer, wo Carmen und Juan auf der Couch saÃen und fernsahen. Ich setzte mich zu ihnen, während Jess in die Küche ging. Mein kleiner Enkelsohn lieà sich nicht von den bunten Bildern des Animationsfilmes ablenken. Carmen wandte sich jedoch sogleich mit ängstlichen Augen an mich. „Was ist mit Mamá? Wie geht es Uroma?“ Ihre Stimme zitterte.
„Deine Mummy fühlt sich nur ein wenig schwindlig. Die Ãrzte werden ihr Medikamente verschreiben. Es geht ihr gewiss bald wieder gut.“ Ich lächelte leicht.
„Und Uroma?“ Carmen runzelte die Stirn.
Ich atmete tief durch. Es gelang mir erneut die Tränen zu unterdrücken. „Auch sie wird wieder ganz gesund werden.“